Mit der Unsicherheit leben lernen

Die Sicherheit ist unsere Geliebte. Das Bedürfnis nach Sicherheit zählt zu unseren Grundbedürfnissen. Die Unsicherheit, unsere Feindin, lauert uns überall und jeden Tag auf. Unsicherheit aushalten zu lernen ist eine hohe Kunst. An der Hand eines Freundes lässt es sich besser ertragen, wenn man nicht weiß, wie es morgen weitergehen soll. Unsicherheit fühlt sich an, als stünde man auf einem Hochseil und müsste den nächsten Schritt setzen, ohne wirklich gut balancieren zu können.

Unsicherheit macht die Hände zittrig. Sie lässt dich dein Herz spüren. Unsicherheit als chronischer Zustand kann uns krank machen, befürchten wir. Wir halten die Luft an. Wettervorhersagen und Staumeldungen sind verlässliche Konstanten, während wir uns um Beruf, Geld und Gesundheit sorgen. Unsicherheit ist auch eine Konstante – sie ist eigentlich immer da. Das Röntgenbild zeigt: Es gibt keinen Tumor, obwohl man fest davon überzeugt war, dass es ihn gebe. Die Erleichterung ist groß. Doch das Röntgenbild wird älter. Kann es nicht sein, dass ich an einer anderen Stelle oder morgen dann doch …? Wir wollen es nicht weiterdenken.

Es passiert – oder auch nicht.

Unsicherheit und Ohnmacht hängen eng zusammen. Doch wir finden unseren Umgang damit. Aufgeben und Resignieren kann ebenso ein Weg sein wie Warten oder der Entschluss, weiterzumachen und weiter zu hoffen. Manches wird vielleicht niemals einen Sinn ergeben. Aber aus manchem, was wir wirklich nicht verstanden oder wollten, entwickelt sich später unsere Kraft und oft auch unser Glück. Und eigentlich erleben wir ja alles nur, um’s später erzählen zu können.

„Da bin ich mir ganz sicher!“, sagen wir und brüsten uns damit, dass wir ja schon oft Recht hatten. Wir beharren darauf, ein untrügliches Gefühl für uns selbst und andere zu haben. Doch es kann so was von anders sein und kommen, als wir dachten! Erschütterungen können uns sehr verunsichern und Angst machen, aber sie können am Ende auch zur Erleichterung führen. Geborgen zu sein in der Ungewissheit heißt, zu spüren, dass es irgendwie gehen wird.

Selbst tiefste Überzeugungen können sich durch Überraschungen und neues Erleben verändern. Es kann verunsichernd sein zu wissen, dass wir uns meistens nicht ganz sicher sein können. Doch der Möglichkeitsraum, aus dem uns immer wieder etwas zufällt, ist oft grösser als wir in der Auswegslosigkeit meinen.

„Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Matthäus 28, 20, Zürcher Bibel. Interessant: in der griechischen und lateinischen Version, die natürlich vor der deutschen Übersetzung da war, steht nur so etwas wie. „Und siehe/schaue, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ – da steht nicht wörtlich „gewiss“. Die Sehnsucht nach Gewissheit und Sicherheit war immer da.

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Dieser Beitrag erschien erstmals am 19.12.2015
Aktualisiert am 10.8.2025

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