Kontinuitätshypothese in der Traumforschung: Übergänge vom Wach- zum Traumgedanken sind gleitend. Uhrzeit bestimmt die Traumtiefe mit

Schon Sigmund Freud beschreibt in seinem Werk „Die Traumdeutung„, dass in den Träumen meistens auch sogenannte „Tagesreste“ enthalten sind. Auch heute wissen Traumforscher: Man träumt vorrangig von dem, was einen auch aktuell im Wachen am Tag zuvor beschäftigt hat (welt.de: Flüchtige Botschaften der Seele, von Wolfgang Merkel). Der Begriff „Kontinuitätshypothese“ bedeutet in diesem Zusammenhang also, dass das, was uns am Tag beschäftigt, uns auch in der Nacht beschäftigt. „Die Träume spiegeln das Wachleben wider“ (Schredl, Michael 2018).
Sigmund Freud schrieb in seiner Traumdeutung (Fischer-Verlage 2003, S. 64): „Das Charakteristische des wachen Zustandes ist nach Schleiermacher (Anmerkung: Friedrich Schleiermacher, 1768-1834), dass die Denktätigkeit in Begriffen und nicht in Bildern vor sich geht. Nun denkt der Traum hauptsächlich in Bildern.“ Schon beim Einschlafen werden die „gewollten Tätigkeiten“ erschwert und die „ungewollten Vorstellungen“ treten hervor, „die alle in die Klasse der Bilder gehören.“ Während wir uns im Wachen nach Belieben Bilder vorstellen können, überwiegt beim Träumen das Unkontrollierte (Ausnahme: Luzide Träume).
„Die Unfähigkeit zu solcher Vorstellungsarbeit, die wir als absichtlich gewollte empfinden, und das mit dieser Zerstreuung regelmäßig verknüpfte Hervortreten von Bildern“ zeichnen das Traumerleben aus (Freud, Traumdeutung, S. 65).
Traum und Uhrzeit
Es ist herrlich in den frühen Morgenstunden noch etwas zu dösen. Was wir dann träumen, ist sehr nah am Bewusstsein, zwischen Wachen und Träumen. In der zweiten Nachthälfte, wenn der Schlaf schon weniger tief ist, können wir unsere Träume manchmal steuern (luzide Träume). Unser Bewusstsein mischt sich in das unbewusste Geschehen ein. Die tiefen Träume in der Zeit des Tiefschlafes in der ersten Nachthälfte (vor 24, 1 oder 2 Uhr) sind da ganz anders: Da fällt uns manchmal nicht im Traum ein, dass wir träumen. Da sind wir ganz Traum – Traum und Träumer sind Eins. In der Zeit von 1-3 Uhr morgens ist nach chinesischer Medizin die Leber besonders aktiv. Während sie unseren Körper entgiftet, entgiftet sich auch unser Gehirn durch die wildesten Träume.
Ich-Grenzen im Wachen und Schlafen – und was Paul Federn dazu sagte
Ich habe manchmal das Bild, dass sich das „Ich“ im gesunden Zustand von innen sanft an die inneren Körpergrenzen anschmiegt. Wir sind mit uns „Eins“, wenn das Ich weder größer noch kleiner ist als wir selbst. Geraten wir in große Wut, kann unser Ich sehr groß werden, während wir uns bei Scham sehr klein machen können. Wenn wir große Angst haben, erscheint uns unser Ich vielleicht wie verzerrt oder aufgeweicht. Unser Ich-Gefühl hängt von vielen Dingen ab. Wir spüren unsere „Ich-Grenzen“ oft als eine Art körperliche Grenze. Der Psychoanalytiker Paul Federn (1871-1950) hat die Ich-Grenzen im Wachen und im Schlafen genau beobachtet. Er beschreibt sehr treffend, was mit den Ichgrenzen bei der Depersonalisation geschieht und wie auch dieser Vorgang mit unserem Körper zusammenhängt.
Wenn wir schlafen, so Paul Federn, ist das Ich „nicht besetzt“ („the ego is without cathexis“) (Federn P, 1934: 296). Das heißt, wir schenken unserem Ich keine bewusste Aufmerksamkeit mehr. Wenn wir aufwachen, setze sich das Ich jedes Mal wieder ganz neu zusammen, es durchlaufe seine ganze Genese, so Federn. Wir haben oft Angst vor dem Einschlafen, weil wir Angst haben, uns zu verlieren. Andererseits sind wir im Schlaf ganz bei uns selbst. Wenn unsere engste Bezugsperson einschläft, dann zieht sie die Aufmerksamkeit auch von uns ab. Wir fühlen uns verlassen.
Federn spricht von einem körperlichen Ich-Gefühl, einem mentalen Ich-Gefühl und einem Über-Ich-Gefühl (Federn P, 1926: 436). Während das „Ich“ körperlich sei, sei das Über-Ich mental. Während wir einschlafen, verlieren sich unsere körperlichen Ich-Grenzen („Ego-Boundaries“), denn auch die Muskeln entspannen sich. Wir könnten das Körper-ich vom mentalen Ich gut unterscheiden, wenn wir einschlafen, so Federn (1926: 437). Zuerst entweicht das Ich sozusagen den Beinen und am Schluss erst den proximalen (also Kopf-nahen) Körperteilen. Paul Federn beschreibt auch, dass Depersonalisation und Derealisation meistens zusammen auftreten, denn die äußere Welt grenzt direkt an meine Ich-Grenzen – sind sie „verzerrt“, so ist es die äußere Welt in unserem Erleben meistens auch.
Wo ein Ich, da auch ein Wille
Mit dem Ich-Gefühl und den Ich-Grenzen hänge auch der Wille zusammen, so Federn. Wenn wir schlafen, haben wir keinen oder nur einen sehr geringen Willen. Auch die Enschlussfähigkeit und die Zeitwahrnehmung lassen im Schlaf nach. Wenn wir depersonalisieren, passiert etwas Ähnliches: Das Ich-Gefühl lässt nach, die Ich-Grenzen werden schwammig. Oft könne es helfen, wenn man dann seinen Willen bzw. seine Aufmerksamkeit bewusst auf etwas richte, so Federn. Ebenso helfen sich die Betroffenen, indem sie sich z.B. auf die Oberschenkel schlagen, um wieder Leben in die Beine zu bringen und somit ihr Ich-Grenzen-Gefühl wieder zu normalsieren.
„Thus we see that for the act of will as for the attention the narcissistic corporal ego-boundary-cathexis, apart from the libidinal object-cathexis, is necessary.“ (Federn, P., 1928: 418)
Für „den Akt des Willens“ ist also „die narzisstische Besetzung der körperlichen Ich-Grenzen“ notwendig, das heißt, dass wir unsere körperlichen Ich-Grenzen spüren müssen, um wirklich und ohne großen Kraftaufwand „wollen“ zu können. Dies hängt auch damit zusammen, dass unsere quergestreifte Muskulatur unserem Willen unterliegt: Arme und Beine können wir bewegen, wenn wir wollen. Hingegen ist die glatte Muskulatur (z.B. Darm, Blutgefäße) nicht direkt mit unserem Willen beeinflussbar.
Ich habe manchmal die Vorstellung, dass die Psyche in manchen Situationen sozusagen „zentralisiert“, ähnlich wie das Blut bei Kälte „zentralisiert“. Um den Körper bestmöglich zu schützen und die Energie aufrecht zu erhalten, konzentrieren sich die Stoffwechselvorgänge und der Wärmehaushalt auf das Körperinnere, während die äußeren Gliedmaßen vom Kreislauf „vernachlässigt“ werden.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
- Wolfgang Leuschner: Telepathie und das Vorbewusste (Buchtipp)
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Links:
Schredl, Michael (2018):
Traumerleben und Wacherleben.
Schlaf 2018; 07(01): 13-17. DOI: 10.1055/s-0038-1641698
www.thieme-connect.com/…1698
Paul Federn (1934):
The Awakening of The Ego in Dreams
INternational Journal of Psycho-Analysis 15: 296-301
Paul Federn (1932):
Ego Feeling in Dreams
The Psychoanalytic Quarterly Vol. 1, 1932, Issue 3-4: 511-542
https://doi.org/10.1080/21674086.1932.11925153
https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/21674086.1932.11925153
Paul Federn (1928):
Narcissism in the Structure of the Ego
International Journal of Psycho-Analysis, 9: 401-419
Paul Federn (1926)
Some Variations in Ego-Feeling
International Journal of Psychoanalysis 7: 434-444
https://www.proquest.com/….
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 25.12.2019
Aktualisiert am 7.8.2025
One thought on “Kontinuitätshypothese in der Traumforschung: Übergänge vom Wach- zum Traumgedanken sind gleitend. Uhrzeit bestimmt die Traumtiefe mit”
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Hallo Frau Voos,
aus eigener Erfahrung weiss ich zu berichten, dass ich am Tag oft vor unloesbaren Problemen stand. Voellig depremiert und frustriert schmiss ich das Handtuch, um in’s Bett zu gehen.
Mitten in der Nacht habe ich dann von der Loesung meines Problems getraeumt und war dann auch sofort hellwach, um an meinem Problem weiter zu arbeiten und die Loesung hat tatsaechlich auf Anhieb funktioniert.
In anderen Faellen bin ich unfreiwillig, voellig veraergert aus einem Traum aufgewacht. Da der Traum noch nicht zu Ende getraeumt war, habe ich mir vorgenommen, an der Stelle weiter zu traeumen, an der ich aufgewacht bin und auch das hat funktioniert.
Oft war es auch so, dass ich traeumte aber wusste, dass ich traeume. Ich habe also quasi getraeumt, das ich traeume und habe dann so lange davon getraeumt aufzuwachen, bis ich tatsaechlich wach war.
Oft habe ich auch Tagtraeume, wo ich mir dann einfach irgend etwas vorstelle.
Anhand dieser Beispiele wird, meine ich, schon sehr deutlich, dass es eine klare Grenze zwischen Wach sein und traeumen gar nicht gibt.