102 Wie werde ich Psychoanalytiker*in? Präverbale Zustände erfassen durch Reverie

Hält eine Mutter ihr Baby im Arm, träumt sie. Sie schaut es an und erahnt dabei, was in ihm vorgehen mag – Psychoanalytiker sprechen vom „träumerischen Ahnungsvermögen der Mutter“. Wir kennen das: Manches bekommen wir viel besser mit, wenn wir verträumt sind. Wir haben etwas nur „aus dem Augenwinkel“ gesehen, aber wir haben es doch wahrgenommen.

Dieses Tagträumen über das Baby, diese Reverie, ist ein entscheidender Teil der frühen Kommunikation zwischen Mutter und Säugling. Auch zwischen Analytiker und Analysand findet diese Art der frühen Kommunikation statt. Der Ausdruck „Reverie“ stammt in diesem Zusammenhang von dem britischen Psychoanalytiker Wilfred Bion (1897-1979).

Was wir erlebten, bevor wir sprechen konnten, beeinflusst uns wohl ganz besonders tief. Der Psychoanalytiker Giuseppe Civitarese schreibt in seinem Buch „Truth and the Unconscious in Psychoanalysis“ eindrücklich, wie das Undenkbare denkbar werden kann. Der Analytiker stellt dabei seinen eigenen seelischen Raum zur Verfügung. Die träumerischen Räume von Patient und Analytiker vereinigen sich.

Giuseppe Civitarese: Truth and the Unconscious in Psychoanalysis, Routledge, 2016: „From the perspective of a post-Bionian theory of the analytic field, I will attempt to show in a detailed clinical vignette how the analyst’s reverie can gradually lead to figurability (Botella and Botella, 2001) in the patient and that the more sensorial the quality of the analyst’s reverie, the higher the degree of thinkability achieved by the patient in relation to traumas originating in the non-verbal stages.“

(Übersetzt von Voos:) „Aus der Perspektive der post-Bionischen Theorie des Analytischen Feldes werde ich eine detaillierte Fallvignette vorstellen. Hier wird deutlich, wie die Reverie des Analytikers nach und nach zur Figuarbilität (Botella und Botella, 2001) im Patienten führen kann. Je empfindsamer die Reverie des Analytikers, desto höher wird der Grad der Denkfähigkeit, die der Patient erreichen kann im Hinblick auf Traumata au dem vorsprachlichen Bereich.“

Giuseppe Civitarese: Truth and the Unconscious in Psychoanalysis, Routledge, 2016: „Reverie is the place where the patient’s partially obstructed capacity to dream and the (hopefully more available) oneiric space of the analyst overlap – it is where the analysis actually takes place. The analyst’s core intervention in this context is therefore not so much an interpretation (i.e. a de-coding or putting into words), even if, from the point of view of the classical psychoanalytic theory, it could be described very much as an interpretation IN the transference.“ (Übersetzt von Voos:) „Die Reverie ist der Ort, an dem die teilweise behinderte Fähigkeit des Patienten zu träumen und der (hoffentlich mehr verfügbare) träumerische Raum des Analytikers sich überschneiden. Es ist der Ort, an dem die Analyse tatsächlich stattfindet. Die wichtigste Intervention des Analytikers in diesem Kontext ist daher nicht so sehr die Deutung (also das De-Kodieren oder das Fassen in Worte), auch wenn es – aus Sicht der klassischen psychoanalytischen Theorie – als eine Deutung IN der Übertragung beschrieben werden könnte.“ (Anmerkung Voos: Wahrscheinlich findet eine Menge dieser Arbeit im gemeinsamen Schweigen statt.)

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Literatur:

Bergstein, Avner
Transcending the caesura: Reverie, dreaming and counter-dreaming
The International Journal of Psychoanalysis
Volume 94, Issue 4, August 2013
doi.org/10.1111/1745-8315.12055
onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/1745-8315.12055

Giuseppe Civitarese:
Truth and the Unconscious in Psychoanalysis
Routledge, 2016

César Botella, Sara Botella (2001):
The Work of Psychic Figurability: Mental States Without Representation
Routledge 2004
doi.org/10.4324/9780203342206
www.taylorfrancis.com/books/…

Article rédigé par Dominique Bourdin:
César Botella, Sara Botella (2001)
La figurabilité psychique
Société psychanalytique de Paris
www.spp.asso.fr/publication_cdl/la-figurabilite-psychique-2/
„ils (les auteurs) s’intéressent à un processuel primordial de la vie psychique, dans l’indivision entre implosion négative et éclat hallucinatoire. Ainsi s’éclairent les voies décisives qui vont de la non-représentation à la figurabilité, de la trace amnésique, qui caractérise la mémoire sans souvenir, au rêve mémoire. Le travail de figurabilité de l’analyste, rendu possible par sa régression formelle lors de la séance, permet cet accès nécessaire à la mémoire sans souvenir, au sein d’un actuel qui n’appartient pas au présent et dont la continuité avec le passé n’est pas représentable.“
(frei übersetzt von Voos:) „Die Autoren interssieren sich für einen uranfänglichen Prozess im psychischen Leben: hier gibt es es eine Ungetrenntheit zwischen einer negativen Implosion (Anmerkung Voos: ich würde sagen: eines negativen Eindrucks, wie z.B. Gewalt an der schwangeren Mutter) und dem Aufkommen einer Halluzination. Hieraus entstehen die Wege von der Nicht-Repräsentation hin zur Figurabilität. Es gibt eine amnestische Spur, ein Gedächtnis ohne Erinnerung, hin zu einem Erinnerungstraum“ (Anmerkung Voos: zum Beispiel kann eine Atmosphäre des Drogenkonsums entstehen, während der Patient da ist und erzählt, auch wenn er keine Drogen nimmt. Sie kann an eine „Drogen-Atmosphäre“ bei den Eltern in der frühen Kindheit erinnern). Die Arbeit mit dieser „Figurabilität“ (Voos: also mit diesen ‚komischen, unsagbaren Zuständen, Atmosphären, Bildern‘) wird dem Analytiker möglich, indem er selbst regrediert und eine träumerische Haltung annimmt. Dies erlaubt einen Zugang zu einer ‚Erinnerung ohne Erinnerung‘. Diese Erinnerung befindet sich im Inneren des Jetzt, aber sie ist nicht Teil der Gegenwart. Darin steckt eine Verbindung zur Vergangenheit, die nicht repräsentiert (also in Bildern gedacht und erzählt) werden kann.“

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 28.6.2020
Aktualisiert am 12.9.2025

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