Säuglingsforschung – schon Wissenshäppchen können eine Wohltat sein

„Entspann‘ Dich – Dein Stress überträgt sich doch auf’s Kind!“, hörst du vielleicht in der Schwangerschaft. Dadurch gerätst du vielleicht regelrecht in einen „Entspannungsstress“. Jede Aufregung soll vermieden werden, um das Kind zu schützen. Ein verständlicher Wunsch. Doch Kummer und Nöte lassen sich gerade in der Schwangerschaft nicht vermeiden. Wichtig ist es, über die Dinge nachzudenken. Die amerikanische Säuglingsforscherin Beatrice Beebe zeigt auf ihrer Website anrührende Videos, die uns helfen, Säuglinge und die Mutter-Vater-Kind-Kommunikation besser zu verstehen.

Schon der bekannte Kinderarzt und Psychoanalytiker Daniel N. Stern (1934-2012) ging davon aus, dass der Säugling in den ersten drei Monaten in einer Welt der Gefühle lebt. Er nimmt Formen, Zeit und Töne wahr, woraus schließlich ein Gefühlszustand entsteht. Thomas Ogden beschreibt frühe Formen des Erlebens (Psychosozial-Verlag 2006), in denen besonders die Haut, Berührung und Sinneseindrücke eine Rolle spielen. Sigmund Freud glaubte, dass der Säugling lediglich die Gefühle Libido und Aggression hat. Der Begründer der Affektforschung, Silvan Solomon Tomkins (1911-1991), beschrieb 1962 jedoch insgesamt acht angeborene Affekte: Wut, Freude, Überraschung, Ekel, Interesse, Distress (Qual, Traurigkeit), Furcht und Scham.

Das Neugeborene ahmt Gesichtsausdrücke nach

Betrice Beebe zeigt in einem Video (Youtube), wie ein Baby schon 10 Minuten nach der Geburt den Vater nachahmt und die Zunge herausstreckt. Auch der amerikanische Psychologe Andrew Meltzoff hat gezeigt, dass das Neugeborene schon wenige Tage nach der Geburt Gesichtsausdrücke wie Lächeln oder das Hochziehen einer Augenbraue (als Zeichen der Überraschung) nachahmt. Der Entwicklungspsychologe Robert N. Emde hat 1984 nachgewiesen, dass die Säuglinge die Affekte der Mutter so sehr imitieren, dass die Mutter dem Kind ihren eigenen Affekt sozusagen „überstülpen“ kann. Mütter, die an starken Depressionen leiden, haben manchmal Babies, die selbst niedergeschlagen wirken und bei anderen Niedergeschlagenheit auslösen.

Der Psychologe Ross D. Parke (Google Scholar) hat bereits 1981 durch die Vaterforschung erwiesen, dass der Vater den ersten Kontakt zum Kind genauso intensiv erlebt wie die Mutter und dass er dasselbe vortastende Verhalten zeigt. Mit etwa acht Monaten entwickelt der Säugling gleichermaßen zum Vater wie zur Mutter eine verlässliche emotionale Bindung.

Die Kindertherapeutin Barbara Diepold (1942-2000) beschreibt, dass Eltern intensiv mit den Händchen des Babys spielen und häufig seine Mundgegend berühren. Darüber bekommen sie Informationen über den Spannungszustand des Kindes. Ist der Säugling müde, lässt sich der Mund leicht öffnen, ist er hungrig, fängt er an zu saugen, ist er satt, schließt er fest den Mund.

Blickkontakt

Der Säugling nimmt direkt nach der Geburt Blickkontakt zur Mutter auf. Die Mutter nimmt daraufhin den „Dialogabstand“ von 20 cm ein. Dies entspricht der Sehfähigkeit des Säuglings und auch dem Gesichtsabstand zwischen Mutter und Kind beim Stillen. Die Verhaltenspsychobiologen Janus und Mechthild Papousek filmten die Augen von Neugeborenen, während sie in Blickkontakt mit ihren Müttern traten. Sobald das Bild der Mutter sich zentral über der kindlichen Pupille spiegelte, förderte die Mutter den Blickkontakt, indem sie ihre Augenbrauen hob und den Mund öffnete.

Die Eltern benutzen eine einfache, übertriebene Mimik („Markiertheit“). Es gibt nur ein paar Grundmuster, die sie immer wiederholen. Dazu benutzen sie eine kontrastreiche „Babysprache“. Barabara Diepold betont dabei die Wichtigkeit der Sprachmelodie: Ein ansteigendes „Ja“ animiert, ein helles „Ja“ mit abfallender Stimme drückt Lob aus und ein tiefes „Ja“ mit fallender Melodik tröstet den Säugling.

Der Säugling kann etwas bewirken

Das Befinden des Säuglings bestimmt die Art, mit der sich die Eltern ihm zuwenden. So merkt er von Anfang an, dass sein Befinden zu verlässlichen Antworten führt. Diese immer wiederkehrenden Abläufe sind es unter anderem, die beim Säugling das Kern-Selbst prägen, so die Psychoanalytikerin Lotte Köhler. Aus diesen Szenen bilden sich später die inneren Vorstellungen (Repräsentanzen), die das Kind von sich selbst, der Mutter und dem Vater hat.

Säuglinge freuen sich, wenn sie etwas bewirken können. Dazu ein Experiment des Ehepaares Papousek von 1975: Sie zeigten vier Monate alten Säuglingen blinkende Lichter. Bald langweilten sich die Babys und wendeten sich ab. Dann ließen die Forscher die Lichter immer dann angehen, wenn die Kinder ihren Kopf auf eine bestimmte Seite drehten. Sobald die Säuglinge entdeckt hatten, dass sie das Angehen der Lichter selbst bewirkten, blieben die Lichter interessant.

Auch den besten Eltern ist es nicht immer möglich, adäquat auf den Säugling einzugehen. Dadurch lernt das Kind jedoch, sich an gewisse Situationen anzupassen und flexibel zu reagieren. Es lernt die Differenz zwischen sich und anderen deutlich zu spüren und entwickelt seine Individualität. Lotte Köhler betont allerdings, dass Frustrationen nur dann die Entwicklung fördern, wenn die Eltern in der überwiegenden Zeit die Bedürfnisse des Kindes erfüllen und sich seinem Erleben anpassen. Andauernde Hochspannung führt dazu, dass das Kind das Gefühl von Sicherheit verliert. In diesem Zustand kann es weder reifen noch lernen.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Beatrice Beebe:
Decoding Mother-Infant-Interaction
www.youtube.com/watch?v=s8KHPsjvWy4

Leher Singh et al. (2023)
Diversity and representation in infant research: Barriers and bridges toward a globalized science of infant development.
Infancy Volume28, Issue4, July/August 2023: Pages 708-737
doi.org/10.1111/infa.12545
onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/infa.12545
„For studies that reported sociodemographic characteristics, there was an unwavering skew toward White infants from North America/Western Europe.“

Karl Heinz Brisch:
Schwangerschaft und Geburt
Reihe Bindungspsychotherapie
Klett-Cotta 2013

Karl Heinz Brisch, Klaus E. Grossmann, Karin Grossmann, Lotte Köhler
Bindung und seelische Entwicklungswege
Klett-Cotta, 4. Auflage 2017

Michael Klöpper:
Reifung und Konflikt
Säuglingsforschung, Bindungstheorie und Mentalisierungskonzept in der tiefenpsychologischen Psychotherapie
Klett-Cotta, 2006

Ludwig Janus
Beiträge zur pränatalen Psychologie
ludwig-janus.de
„Dafür ist eine Eins-zu-eins-Betreuung während der Geburt eine bedeutsame Unterstützung. Die Forschung der amerikanischen Geburtsforscher Klaus u.a. (1993) belegt, dass in einem solchen Rahmen die Notwendigkeit von medizinischen Interventionen um 50% sinkt.“
ludwig-janus.de/geburtskultur.html

Barbara Diepold:
Das dumme Vierteljahr
Neuere Ergebnisse aus der Säuglingsforschung (1992).
Unveröffentlichter Vortrag
„Im erstenVierteljahr schreit der Säugling sehr viel, danach wird es weniger. Mit dem ersten Lächeln nach drei Monaten wacht der Säugling langsam aus dem dummen Vierteljahr auf.” Das sind die Vorstellungen über Neugeborene, die ich als Kind in dem Dorf hörte, in dem ich aufgewachsen bin.

Beatrice Beebe, Frank Lachmann:
Säuglingsforschung und die Psychotherapie Erwachsener
Klett-Cotta, 2004

Louis Wilson Sander (1918-2012):
Die Entwicklung des Säuglings, das Werden der Person und die Entstehung des Bewusstseins
Klett-Cotta, 2009

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am: 14.8.2006
Aktualisiert am: 28.7.2025

One thought on “Säuglingsforschung – schon Wissenshäppchen können eine Wohltat sein

  1. Andrea Tschirch sagt:

    Sehr geehrte Damen und Herren,
    ich fand den kurzen Artikel sehr inhaltsreich und anregend.
    Insebesondere die Literaturverweise und links haben mich gefreut.
    vielen Dank und viele grüßen von andrea Tschirch
    (in Ausbildung zur Kinder- und Jugendpsychiaterin)

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