Die Gedanken sind frei
„Mama, kannst du meine Gedanken lesen?“, fragt mich mein Kind. „Nein, das kann ich nicht.“ Aufatmen. „Aber ein bisschen?“ – „Naja“, antworte ich, „wenn ich ein Schokoladeneis auf den Tisch stelle und du schaust es an, dann glaube ich, dass du denkst, dass du es gerne essen würdest. Aber auch das ist nur geraten. Lesen kann ich deine Gedanken nicht.“ Wohl die meisten Menschen fürchten sich dann und wann davor, dass man ihre Gedanken lesen könnte. Menschen in schwerer psychischer Anspannung sind streckenweise davon überzeugt, dass man ihre Gedanken lesen kann. Sätze aus der Kindheit wie „Du bist für mich wie aus Glas“ oder „Der liebe Gott sieht alles“ können solche Ängste verstärken.
Wenn wir denken spüren wir vielleicht, dass wir einen inneren Raum zum Denken haben, so etwas wie einen mentalen Apparat. Sind wir gesund und geht es uns gut, so spüren wir, dass unsere Gedanken in uns frei sind. Wir können mit ihnen spielen, sie hin und her schieben, sie verheimlichen oder anderen mitteilen.
Der Biologe Rupert Sheldrake forscht unter anderem zur Telepathie. Er kommt zu dem Schluss, dass wir unsere Gedanken für uns haben, solange wir alleine in Ruhe vor uns hin denken. Wenn wir jedoch eine Absicht haben, wenn wir etwas bewirken wollen, dann würden unsere Gedanken auch über uns hinausreichen, so Sheldrauke (Youtube: „Bewusstsein wirkt über den Körper hinaus“).
Wenn alles gut ist, dann denken wir einfach unsere Gedanken und wissen sie gut in uns selbst aufgehoben. Wenn wir uns jedoch verstört fühlen, sind wir uns da vielleicht nicht mehr so sicher. Der britische Psychoanalytiker Ronald Britton schreibt in seinem Buch „Glaube, Phantasie und psychische Realität“, dass Gedanken, die keinen Platz in der Psyche haben, woanders „hingehen“ können: Die Gedanken können sich dann körperlich äußern, sich in der Wahrnehmung widerspiegeln oder in Handlungen zeigen, sagt Britton.
Wenn uns etwas so bedrückt, dass wir nicht daran denken wollen oder es gedanklich „nicht verpackt“ bekommen, können wir Bauchschmerzen bekommen. Wenn wir nur an Läuse und Flöhe denken, fängt es an, auf unserer Haut zu jucken. Ein Gedanke „juckt mich“ oder „juckt mich nicht“. Da haben die Gedanken dann auch Auswirkungen auf den Körper bzw. die Wahrnehmung.
Wenn wir schwere Traumata erlitten haben, können wir die Gedanken an das Geschehene bzw. Nicht-Geschehene nur schwer ertragen. Vielleicht es auch zu schlimm, um überhaupt „denkbar“ zu werden. Wann immer Gedanken an das schlimme Ereignis auftauchen oder wann immer Ängste, Scham und Schuldgefühle hochkommen, versuchen wir unsere Gedanken „wegzuspülen“: Vielleicht bekommen wir einen Waschzwang. Hier führen die Gedanken, die wir bearbeiten wollen, zu symbolischen Handlungen.
Unser Denken kann durch schlimme oder auch freudige Ereignisse, durch Krankheit, Fieber, Medikamente, Alkohol oder Müdigkeit beeinträchtigt werden. Abends sind wir manchmal so müde, dass wir „keinen klaren Gedanken mehr fassen“ können. Was wir gerade denken, vergessen wir sofort wieder, wir können das Gedachte nicht mehr halten oder zu Ende denken. Wir schlafen ein und träumen dann. Hier sind die Gedanken dann wirklich frei: Vom geordneten, bewussten Denken am Tag, dem sogenannten sekundärprozesshaften Denken schalten wir um auf das primärprozesshafte Denken.
Im Traum „denken“ wir ungeordnet und häufig nur in Bildern. Die Gedanken purzeln durcheinander, Gegensätze widersprechen sich nicht, Zusammenhänge scheinen zu fehlen, alles wird auf den ersten Blick „unlogisch“. Viele Gedanken können sich zu einem Gedanken verdichten, sodass wir z.B. von einem Gegenstand träumen, der viele unserer Gedanken zusammenfasst. Wenn wir ungestört schlafen und träumen, wachen wir am nächsten Morgen erfrischt auf. Wir fühlen uns sortiert und können mit klarem Denken in den neuen Tag gehen.
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Links:
Ronald Britton:
Glaube, Phantasie und psychische Realität
Klett-Cotta
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht im März 2014.
Aktualisiert am 9.11.2025