Selbstverletzendes Verhalten: zwischen Zerstörung und Selbstfürsorge

Ein Mädchen ritzt sich, nachdem ihr Vater plötzlich das Besuchswochenende abgesagt hat. Mit den Schnitten in den Unterarm befreit es sich vom Druck, aber es entsteht auch Scham. Sie hasst sich selbst: Wäre sie gut genug, würde der Vater kommen, so der Gedanke. Sie spürt die unausweichliche Anspannung – vielleicht auch die Spannung des Alleinseins oder des engen Zusammenseins mit der Mutter. Auch Wut auf den Vater kann auftauchen. Vielleicht will das Mädchen eigentlich andere verletzen, aber das geht nicht – also verletzt sie sich selbst. Wenn sie sich schneidet, spürt sie ihr warmes Blut. Das entspannt sie. Sie findet zu sich selbst zurück, spürt ihren Körper. Und dann umsorgt sie sich, indem sie ihre Wunden desinfiziert und sich den Arm verbindet.

Der Vater hat das Mädchen „verletzt“. Das Mädchen macht diese Verletzung für alle sichtbar. Sie hätte den Vater so sehr gebraucht! Seine Zuwendung, sein Kümmern. Nachdem sie sich geritzt hat, kümmert sie sich um sich selbst. Manchmal ist die Sehnsucht nach Berührung unendlich groß. Ein Schnitt macht die Körpergrenze spürbar. Das kann gut tun, aber es gibt vielleicht aber auch eine Wut auf eben diese Grenze, eine Wut auf den Hunger nach Berührung, vielleicht sogar nach Sexualität oder einem eigenen Kind. Der Schnitt ist das Aufbrechen einer Grenze.

„Und wie sie so nähte und nach dem Schnee ausblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee.“ Schneewittchen, Maerchen.com

Häufige Grenzüberschreitungen hinterlassen Spuren

Wenn dir andere immer sagen, was gut und richtig ist, dann willst du dich mit der Selbstverletzung all den Regeln von aussen entgegenstellen. Du weisst, dass es nicht gut ist, aber es kann dir keiner verbieten. Du tust, was du selbst fühlst. Du fühlst dich in dem Moment vielleicht „ganz Ich“. So hast du das Gefühl, das unangenehme Gefühl der Schwerelosigkeit und Orientierungslosigkeit aufzuheben. Es zeigt deinen Wunsch, autonom, frei, aber auch verbunden zu sein. Du kannst dein Ich jedoch auch stärken durch die Kombination aus Körpererfahrungen, Nein-Sagen, Muskeltraining, Protest und Trennung. Versuche dabei, das Nachdenken nicht zu vergessen – ein Nachdenken für Dich selbst, ohne erhobenem Zeigefinger.

„Die bewusste Selbstzerstörung als eine Möglichkeit der Freiheit …“ Swetlana Geier: Dostojewski übersetzen, Youtube

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Links:

Joachim Küchenhoff:
Selbstzerstörung und Selbstfürsorge
Psychosozial-Verlag, 1999

P. Jeammet (2012)
Se détruire pour exister, un paradoxe humain. La difficulté de prendre soin de soi
Médecine des Maladies Métaboliques
Volume 6, Issue 4, September 2012, Pages 338-344
doi.org/10.1016/S1957-2557(12)70425-X
www.sciencedirect.com …
« ce dont j’ai besoin et que je dois recevoir des autres pour me sentir fort, c’est ce qui menace mon besoin d’autonomie ».

Französisch: Comportement autodestructeur – entre se détruir et prendre soin de soi

Bild Nr. 732 „Selbstverletzung“ von Dunja Voos
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 9.6.2010
Aktualisiert am 5.9.2025

One thought on “Selbstverletzendes Verhalten: zwischen Zerstörung und Selbstfürsorge

  1. tut nichts zur Sache ;) sagt:

    Das klingt jetzt evntl. doof aber ich habe gerade etwas selber über nich gelernt bzw zum ersten mal war genommen. (Ich bin 26 Jahre jung und selber seit Jahren SVlerin [nicht nur man sagt mir noch ein paar andere „Macken“ nach ;)]) Es stimmt, nach dem schneiden kümmere ich mich meist i.wie „liebevoll“ um mich. Ich konnte mich so gut in das beschriebene Mädchen, ihre Gefühlswelt hineinversetzen das ist unglaublich.
    War selber im Heim und spürte beim lesen fast die Enteuschung von dem Mädchen mit, da ich weiß wie weh das tut sich so gleichgültig zufühlen…
    Aber ich glaube auch für nicht Betroffene ist dieser Text ein sehr guter Einblick in ich sag mal „unsere Welt“, wo bei die bei weitem nicht immer so düster ist. Kann tat nur für mich persönlich sprechen aber ich bin nicht gerade ein Kind von Traurigkeit ^^, trotz Problem.

    Alles Gute :)

    I. ein Mensch aus Berlin

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