Wenn die Familie dich krank macht

Kürzlich sprach ich mit der „verzweifelten“ Ehefrau eines depressiven Mannes. Sie redete wie ein Wasserfall, klagte unentwegt und gab ihr ungeheures Wissen über Depressionen preis. Ich fragte sie: „Wie geht es Ihnen denn? Ist das nicht furchtbar schwer?“ Fröhlich sagte sie: „Och nö, mir geht’s gut. Mich spornt die ganze Geschichte nur an.“ Offensichtlich befand sich dieses Paar in einem Gleichgewicht: Der Mann war depressiv und stabilisierte dadurch seine Frau. Wie würde es der Frau gehen, wenn es ihrem Mann besser ginge?
Nicht selten hat der „Index-Patient“, also der Erkrankte, die wichtige Rolle, Ängste und Gefühle der Sinnlosigkeit für andere Familienmitglieder zu kompensieren. Wenn der Betroffene gesund wird, müssen sich die Verwandten auf einmal mit sich selbst auseinandersetzen. Angstpatientinnen mit „starken Partnern“ erleben manchmal, dass ihre Partner plötzlich ängstlicher und schwächer werden, sobald ihre eigenen Ängste zurückgehen.
„Ich habe noch nie eine normale Familie gesehen.“ Bessel van der Kolk, Youtube
Für junge Erwachsene, die sich in der Familie krank fühlen, kann es immens wichtig sein, von zu Hause auszuziehen, um gesund zu werden. Doch gerade junge Menschen mit psychischen Störungen ziehen oft wieder zu Hause ein. Sie erhoffen sich Sicherheit – und werden zu Hause manchmal doch nur kränker. Viele können aus dem Abstand heraus – mitunter auch in einer Psychoanalyse – die Zusammenhänge verstehen lernen. Die Trennung und eine wohldosierte Wieder-Annäherung an Verwandte wird dann mit der Zeit oft möglich.
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Links:
Jean Renvoize (1978)
Web of Violence – A Study of Family Violence
Routledge, 1978
doi.org/10.4324/9781003411017
www.taylorfrancis.com/books…
„Wives, children, grandparents, all of them can be subject to attacks that range from mild ‘roughing up’ to assaults that leave the victim physically or psychologically crippled. … Originally published in 1978, Jean Renvoize author of the highly praised Children in Danger traces the web of violence along many different strands.“
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 15.8.2013
Aktualisiert am 11.9.2025
3 thoughts on “Wenn die Familie dich krank macht”
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Ich kenne dieses Phänomen sehr gut! war 20 Jahre lang trinkende Alkoholikerin, und schwarzes Schaf sowieso. Als ich mit dem Trinken audhören konnte (das gelang mir erst in Etappen und nach vielen Rückfällen) es änderte vieles im Familiensystem ….
Liebe Frau Seiler,
von Harold Searles gibt es das sehr empfehlenswerte Buch „Der psychoanalytische Beitrag zur Schizophrenieforschung“ (Psychosozialverlag). Nähere Infos:
https://www.medizin-im-text.de/2011/13154/buchtipp-harold-f-searles-der-psychoanalytische-beitrag-zur-schizophrenieforschung/
und
http://web.psychosozial-verlag.de/psychosozial/details.php?catp=&p_id=764
Außerdem finden Sie deutsche Texte von Harold Searles hier:
http://web.psychosozial-verlag.de/psychosozial/suchergebniss.php?keywords=searles&x=-1210&y=-285
Viel Spaß beim Lesen!
Viele Grüße
Dunja Voos
Guten Tag Frau Voos,
ein interessantes Thema. Wissen Sie, ob Texte von Harold Searles auch ins deutsche übersetzt wurden?
Herzliche Grüße,
Christine Seiler