Traumforschung und Psychoanalyse: Hat der Traum einen Sinn?

Wie kann Traumforschung ohne Psychoanalyse eigentlich funktionieren? Wenn Patienten in der Psychoanalyse-Stunde von ihren Träumen erzählen, kann man nur staunen: Wie sehr dieser Traum in die aktuelle Lebensphase und auch zur Kindheit passt! Wie leicht sich ein Tagesrest finden lässt, wie viele Bedeutungen ein Gegenstand oder ein Wort im Traum haben kann, wie der Traum die psychische Situation des Patienten widerspiegelt, wie sich die Träume mit der Entwicklung des Patienten verändern. (Text: Dunja Voos: Bild: Julia)
Der Traum ist für den Träumer oft sehr wertvoll. Er lässt sich besonders gut deuten, wenn der Analytiker den Patienten schon länger kennt und wenn sich der Traum in den Zusammenhang mit Psychoanalyse-Stunden stellen lässt. Das erfordert besondere Mühen, die sich in der modernen Traumforschung nicht immer umsetzen lassen. Schon Sigmund Freud schrieb in seinem Buch „Die Traumdeutung“:
Sigmund Freud:
„Mit der Voraussetzung, dass Träume deutbar sind, trete ich sofort in Widerspruch zu der herrschenden Traumlehre, ja zu allen Traumtheorien mit Ausnahme der Schernerschen, denn ‚einen Traum deuten‘ heißt seinen ‚Sinn‘ angeben, ihn durch etwas ersetzen, was sich als vollwichtiges, gleichwertiges Glied in die Verkettung unserer seelischen Aktionen einfügt. Wie wir erfahren haben, lassen aber die wissenschaftlichen Theorien des Traumes für ein Problem der Traumdeutung keinen Raum, denn der Traum ist für sie überhaupt kein seelischer Akt, sondern ein somatischer Vorgang, der sich durch Zeichen am seelischen Apparat kundgibt. Anders hat sich zu allen Zeiten die Laienmeinung benommen. Sie bedient sich ihres guten Rechts, inkonsequent zu verfahren, und obwohl sie zugesteht, der Traum sei unverständlich und absurd, kann sie sich doch nicht entschließen, dem Traume jede Bedeutung abzusprechen.“ (Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Fischer-Verlage, August 2003, basierend auf der 8. Auflage, 1929: S. 110. Und: Die Methode der Traumdeutung. Die Analyse eines Traummusters. S. Fischer Verlag, Franz Deuticke Verlag, First Pub 1900, Projekt Gutenberg)
Traumdeutung geht nie zwischen Tür und Angel
„Ich habe von einem großen braunen Pferd geträumt – was bedeutet das?“ Traumdeutung geht nie zwischen Tür und Angel. Sie funktioniert am besten, wenn man die Person gut kennt. Aufmerksame Eltern können die Träume ihrer Kinder gut verstehen und man selbst kann als Träumer seine eigenen Träume deuten. Doch wenn wir unsere Träume einem Psychologen erzählen, der uns nicht wirklich gut kennt, dann fällt die Traumdeutung meistens sehr schwach aus. Freud sagte: „Wenn wir die wirklichen Träume einer realen Person verstehen wollen, müssen wir uns intensiv um den Charakter und die Schicksale dieser Person kümmern, nicht nur um ihre Erlebnisse kurz vor dem Traume.“ (Sigmund Freud: Der Wahn und die Träume, Fischer-Verlage)
„Einen Traum deuten heißt dann so viel als den manifesten Trauminhalt in die latenten Traumgedanken übersetzen, die Entstellung rückgängig machen, welche sich letztere von der Widerstandszensur gefallen lassen mussten“ (Freud: Der Wahn und die Träume in Jensens Gadiva). Will heißen: Es gibt einen manifesten Trauminhalt, also der Traum, der sich dem Wachen „manifestiert“, an den sich der Wache erinnern kann. Und es gibt einen „latenten Trauminhalt“, also Traumgedanken, die die Basis des Traumes sind, die aber auf dem Weg ins Bewusstsein durch den inneren „Zensor“ verändert wurden. Das passiert, damit die Traumgedanken für uns im Wachzustand akzeptabel sind.
„Ein ordentlicher Traum steht gleichsam auf zwei Beinen, von denen das eine den wesentlichen aktuellen Anlaß, das andere eine folgenschwere Begebenheit der Kinderjahre berührt.“ (Sigmund Freud, Bruchstücke einer Hysterie-Analyse, Fischer-Verlag 1993, S. 71).
Männer träumen häufiger von Männern, Kinder träumen häufiger von Tieren
Der Traumforscher William Domhoff nimmt in seinen Forschungen Träume nach Elementen auseinander. Er fand statistisch heraus: Kinder träumen häufiger von Tieren als Erwachsene. Auf dem Land wird häufiger von Tieren geträumt als in der Stadt. Männer träumen häufiger von Männern, während Frauen gleich häufig von Männern und Frauen träumen. Negative Elemente sind in Träumen öfter vertreten als positive: 80% der Träume haben mindestens ein negatives Element, während nur 53% der Träume ein oder mehrere positive Elemente enthalten. Träume sind meistens „Worst-Case-Scenarios“.
Frauen träumen häufiger von Menschen, die sie kennen, Männer häufiger von Fremden. Frauen träumen seltener von körperlicher Aggression als Männer. Frauen träumen häufiger vom Ausschließen und Ausgeschlossensein als Männer. Weitere Ergebnisse von William Domhoff in diesem Video: Your nightly dreams, youtu.be/e6qhwdTzilg
Kleine Kinder träumen häufiger von Tieren
Kleine Kinder träumen häufig von Tieren. Der Traumforscher David Foulkes fragt: „Why all this animal dreaming?“ (David Foulkes: Children’s Dreaming and the Development of Consciousness, Harvard University Press, 1999: S. 60). Eine eindeutige Antwort findet er nicht. Vielleicht ist es ja auch eine Frage der Körpererfahrung: Tiere wie Kleinkinder laufen auf allen Vieren und können nicht sprechen. Tiere wie Katzen und Hunde sind mit den kleinen Kindern auf Augenhöhe oder kleiner als sie. Diese erfreulichen und erschreckenden Erfahrungen verarbeiten die Kinder vielleicht in Geschichten (Pitcher & Prelinger, 1963: Children tell stories) und Träumen.
Der Traumforscher David Foulkes zweifelt manchmal an den Tierträumen der Kinder: „Ich muss zugeben, dass ich etwas bezweifele, dass die Vorschulkinder ihre echten Träume wiedergeben, wenn sie von Tieren im Traum erzählen. Während ich solche Traumberichte im Schlaflabor sammelte, überkam mich immer eine leichte Ungläubigkeit, die ich nie ganz von mir abschütteln konnte.“
„I must confess that I remain somewhat uneasy about whether preschoolers‘ animal reports generally reflect actual animal dreams. In collecting such reports in the laboratory I experienced a mild disbelief that I’ve never quite been able to shake.“ (David Foulkes, Children’s Dreaming and the Development of Consciousness, Harvard University Press, 1999: S. 63)
Vielleicht rührt die Ungläubigkeit, von der David Foulkes spricht, unter anderem daher, dass die Psyche bzw. das Kind im Traum Teile ihrer/seiner selbst als Tiere darstellt. In der Traumarbeit werden Gefühle und Geschehnisse zu Tieren gemacht, zu Tieren verdichtet. So entsteht etwas Symbolisches, über das mit anderen gesprochen werden kann. In Wirklichkeit ist damit der Träumer selbst oder es sind die nahen Bezugspersonen und Gefühle des Träumers gemeint. Diese Lücke zwischen „Wirklichkeit“ und Traumerzählung spürt Foulkes vielleicht. „Werden Kinder älter, so stehen ihnen immer reifere Symbole zur sublimen Abbildung ihrer Gefühlswelt zur Verfugung (Hopf, 2007). Tiere verlieren darum ihre Bedeutung.“ Hans Hopf, Vortrag „Kinderträume“ 2007
Ein Problem in der Traumforschung besteht wohl oft darin, dass die Forscher vielleicht Sigmund Freuds „Traumdeutung“ gelesen, aber selbst keine Psychoanalyse gemacht haben, um die Geschehnisse bewusster am eigenen Leib zu erfahren.
„Da war ein Wolf mit großen Zähnen!“ Das Thema „Fressen-und-Gefressen-Werden“ ist für kleine Kinder ganz groß. Wer die Mutter introjiziert, der „frisst“ sie, wer sich mit ihr identifiziert, wird von ihr gefressen. Wenn wir jemanden nicht mögen, haben wir ihn gefressen. Die Ansprüche der Eltern scheinen das Kind manchmal aufzufressen. In der Pubertät träumen die Kinder bzw. Jugendlichen dann von ganz anderen Tieren: Es kommen Läuse, Spinnen und Insekten ins Spiel. Die Mücke, die Blut saugt, die Biene die „sticht“, die Schmetterlinge im Bauch und die Schamhaare, die manchmal wie Spinnen oder Spinnweben aussehen, kommen in die Phantasie.
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Links:
Peter Fonagy, Horst Kachele, Marianne Leuzinger-Bohleber, David Taylor (Editors) (2012)
The Significance of Dreams
Bridging Clinical and Extraclinical Research in Psychoanalysis
Routledge, London, 2012
www.taylorfrancis.com/books…
Fischmann, Tamara; Leuzinger-Bohleber, Marianne; Kächele, Horst (2012):
Traumforschung in der Psychoanalyse:
Klinische Studien, Traumserien, extraklinische Forschung im Labor
Psyche, September 2012, 66. Jahrgang, Heft 9, pp 833-861
www.psyche.de
Karl Albert Schrener (1825-1889) (1861):
Das Leben des Traums
Breslau, 1861
babel.hathitrust.org/…
Döll-Hentschker, Susanne (2008):
Die Veränderung von Träumen in psychoanalytischen Behandlungen.
Affekttheorie, Affektregulierung und Traumkodierung.
Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt am Main, 2008
amazon
International Association for the Study of Dreams
www.asdreams.org
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 8.4.2016
Aktualisiert am 15.8.2025