Beziehungsangst ist oft die Angst vor Selbstaufgabe. Wie kann ich mich abgrenzen?

„Abgrenzung“ bedeutet, den richtigen Abstand zum nächsten herzustellen. Ein Abstand, in dem sich beide wohlfühlen. „Abgrenzung“ heißt, dass du ein gutes Gespür für dich hast und in kluger Weise zeigst, wie es dir geht und was du möchtest. „Abgrenzung“ bedeutet, dass du dem anderen zeigst, wenn er dir zu nahe kommt. Es kann „Nein-Sagen“ heißen, aber auch „Ja-Sagen“. Es gibt viele Gründe, warum wir uns oft nicht abgrenzen können.

Wenn wir es gegenüber den Eltern schwer hatten, einen eigenen Raum zu haben, dann bleibt dieses Thema schwierig. Immer, wenn Eltern die „Integrität“ des Kindes beschädigen, dann haben sie die Grenzen des Kindes überschritten. Das kann zum Beispiel schon diese Aussage sein: „Iss Dein Essen auf!“, wenn das Kind satt ist. Aber natürlich gibt es auch (teils unvorstellbare) Gewalt in Familien.

Die eigenen Grenzen kennen

Wer oft erlebt hat, dass die eigenen Grenzen überschritten wurden, dem fällt es oft schwer, die eigenen Grenzen wahrzunehmen und sie zu verteidigen. „Wann habe ich genug davon?“, „Wann tritt mir jemand zu nahe?“, „Wann stellt mir jemand zu direkte Fragen?“ Es ist nicht immer leicht, eine Antwort auf solche Fragen zu finden. Und selbst wenn man merkt, dass man „genug“ hat, dann ist es immer noch eine zweite Sache, das auch zu artikulieren.

Dem anderen die eigene Grenze zu zeigen, kann sehr schwer sein. Vor allem für denjenigen, dessen Eltern es als „persönliche Beleidigung“ verstanden haben, wenn man selbst die Tür zumachte. Bei dem Versuch, auf die eigene Grenze hinzuweisen, entstehen oft Schuldgefühle. „Ich möchte nicht, dass Du so mit mir redest“ ist eine einfache Aussage. Doch sie führt bei vielen, die sich schlecht abgrenzen können, bereits zu schlechtem Gewissen.

Hinausschießen über das Ziel

Wenn du Schwierigkeiten hast, dich abzugrenzen, können deine ersten Versuche ungeschickt wirken und über das Ziel hinausschiessen, was auch wiederum zu Schuldgefühlen führen kann. „Ich möchte das jetzt aber so und so!“, hörst du dich selbst sagen und merkst, wie es unbeholfen klingt wie von einem kleinen Kind. Du kannst es aber üben, indem du dir Vorbilder suchst, die sich auf eine ruhige Weise selbst vertreten können. Sie kannst du imitieren. Es kann leicht passieren, dass wir als Erwachsene selbst die Grenzen anderer überschreiten. Oft, ohne es zu merken. Wenn andere einen darauf aufmerksam machen, entsteht das Gefühl von Peinlichkeit und Schuld.

Vielleicht stellst du dich selbst aber auch manchmal aus Trotz alz „schwach“ dar und machst im abstrakten Sinne „jedem die Tür auf“, ohne vorher darüber nachzudenken, ob du den anderen überhaupt reinlassen möchtest. Und plötzlich ist es zu spät: Wieder wurde die eigene Grenze überschritten. Wut steigt auf. Auf den anderen, weil er grenzüberschreitend war und auf dich selbst, weil du dich „wieder einmal“ nicht abgrenzen konntest. Wichtig ist, dich zu beobachten, aber dich selbst auch in Ruhe zu lassen – du hast für alles deine Gründe. Und je besser du diese Gründe kennst, desto besser kannst du dich selbst steuern.

Sich nicht abgrenzen zu können und selbst die Grenzen von anderen zu überschreiten sind zwei Seiten einer Medaille. Je besser du dich selbst abgrenzen kannst, desto leichter fällt es dir auch, die Grenzen des anderen zu akzeptieren. Wenn du auf dich selbst achtest und aufmerksam beobachtest, wie du selbst Beziehungen gestaltest, wird es dir nach und nach immer besser gelingen, dich selbst abzugrenzen, die Grenzen des anderen zu wahren und den richtigen „Wohlfühl-Abstand“ herzustellen.

Grenzüberschreitungen werden oft mit „Nähe“ verwechselt. Tatsächlich ist wirkliche Nähe bei einer Grenzüberschreitung jedoch nicht möglich, denn sie macht Angst. Ein Kind, das von seiner Mutter wider Willen einen Kuss auf den Mund aufgedrückt bekommt, erfährt keine Nähe. Sowohl für die grenzüberschreitende Mutter als auch für das bedrängte Kind bleibt der Kuss unbefriedigend. Für die Mutter, weil das Kind ihn nicht dankbar annimmt und für das Kind, weil es ihm zu nah ist. So entsteht ein Teufelskreis: Weil das Gefühl von echter Nähe fehlt, kann man leicht denken, dass „mehr vom Selben“ zu mehr Nähe führt. Doch das kann dann in Gewalt übergehen, denn Gewalt ist oft nichts anderes als der verzweifelte Versuche, „endlich beim anderen anzukommen“. Doch echte Nähe kann nur durch Wahrung der Grenzen hergestellt werden. Nur, wer die Spannung der „richtigen Distanz“ aushält, kann dann auch Nähe zulassen und Zärtlichkeit spenden.

Der Verlust des Selbstgefühls

Wenn ein Kind ständig die Wünsche der Erwachsenen erfüllen muss, um „geliebt“ zu werden, dann verliert es den Kontakt zu sich selbst. Und auch dann wiederum wird es schwer, Grenzen zu setzen, da man ja gar nicht mehr weiß, was man eigentlich will. Als Erwachsene ist es dann für die Betroffenen eine mühevolle Aufgabe, wieder zu sich selbst zu finden: zu seinen Bedürfnissen, zu seiner Selbstachtung und – so weit wie möglich – zu gesunder Selbstliebe. Wer sich selbst respektiert und seine Bedürfnisse würdigt und anerkennt, dem ist es auch wichtig, sie zu wahren. Doch ein Bedürfnis zu spüren und zu äussern bedeutet nicht, dass der andere es auch erfüllen muss. Hier kann es lange Phasen der Enttäuschung geben. Die Auseinandersetzung mit dem unerfüllten Bedürfnis ist schmerzhaft.

Proxemik – richtiger Abstand durch Floskeln

„Machst Du bitte die Türe zu? Mir wird kalt“, sagte mir eine Freundin nach ihrer psychosomatischen Kur, in der sie gelernt hatte, ihre Bedürfnisse klarer zu äußern. Doch es fühlt sich nicht gut an, wenn jemand so spricht. Es klingt, als würde der andere sich über meine Nachlässigkeit ärgern. Manch ein Coach sagt: „Es geht nur um die Sache. Ein persönlicher Angriff ist das nicht.“ Aber warum fühlt es sich so an? Weil eine solche Aussage uns sprachlich zu nah kommt. So, wie wir körperlich einen gewissen Abstand zum Nächsten brauchen, so benötigen wir auch einen sprachlichen Abstand.

Wir können uns klar ausdrücken und die anderen dennoch berücksichtigen: „Ich würde gerne die Fenster schließen, weil mir kalt wird. Ist das in Ordnung für Dich?“ fühlt sich anders an als: „Ich möchte, dass die Fenster geschlossen werden.“ Die zweite Ausdrucksweise findet sich mitunter bei Menschen, die gerade eine Psychotherapie begonnen oder ein Kommunikationsseminar besucht haben.

Der Wohlfühl-Abstand

Floskeln, Füllworte und Höflichkeitsformeln führen dazu, dass wir uns nicht bedrängt fühlen. So fühlt es sich weniger absolut an: „Könntest Du vielleicht die Türe schließen?“ Proxemik ist der Fachausdruck für das Raumverhalten, das wir zeigen. Wie nahe wir einem anderen kommen dürfen, unterliegt ungeschriebenen Gesetzen. In der Gesellschaft haben sich gewisse Distanzen eingebürgert – und die sind von Kultur zu Kultur verschieden. Ein „Würde, Könnte und Vielleicht“ ist mehr als eine Floskel: Es ist das Zeichen dafür, dass der andere einfühlsam mit uns umgeht und unsere Grenze respektiert.

Beziehungsangst als Angst vor Selbstaufgabe

Ein bisschen Beziehungsangst haben wir vielleicht alle – besonders dann, wenn wir gerade neue Beziehungen knüpfen. Beziehungsangst sieht bei jedem Menschen anders aus – und doch gibt es viele Gemeinsamkeiten. Wer befürchtet, um einer Partnerschaft willen sich selbst, seinen Beruf, alte Verbindungen oder Angewohnheiten aufgeben zu müssen, der leidet unter Beziehungsangst. Es ist eigentlich die Angst vor der Selbstaufgabe in der Beziehung. Manche Menschen fürchten schon um ihre Beziehung, wenn sie andere Vorstellungen haben als der Partner. Doch wer keinen Privatraum in der Beziehung hat, der kann keine befriedigende Beziehung führen.

Sich fallen lassen und dennoch stark sein dürfen

Vielleicht fällt es dir schwer, dich einem anderen Menschen hinzugeben, weil du befürchtest, damit deine Selbstständigkeit und eigene Lebendigkeit aufzugeben. Doch wenn du feststellst, dass dich dein Gegenüber nicht mit Haut und Haaren vereinnahmt, geht es dir besser. Dein Partner ist vielleicht spürbar daran interessiert ist, dass du wachsen und dich entwickeln kannst. Er kann dich gut für dich sein lassen. Dazu brauchst du natürlich die Fähigkeit, dir solche reifen Menschen als Partner auszusuchen. Tief innen schlummert wohl in den meisten Menschen diese Fähigkeit, aber sie lassen sich aus den verschiedensten Gründen immer wieder auf Menschen ein, die ihnen tatsächlich nicht gut tun. Manchmal steckt die Vorstellung dahinter: Ich bin doch nicht gut genug für einen guten Partner!“ „Beziehungsangst“ heißt in diesem Fall: Angst vor der eigenen Wahl bzw. vor dem fehlenden Gespür.

Tür zu!

Wenn du vor deinen Etern nicht wirklich die „Tür zu“ machen durftest, zögerst du vielleicht auch heute noch, dich abzugrenzen, wenn du für dich sein möchtest. Du fühlst dich vielleicht in der Anwesenheit eines anderen wie gelähmt. Es taucht die Vorstellung auf, nicht mehr weglaufen zu können, wenn sich ein Partner liebevoll nähert. Manche Menschen suchen sich dann lieber einen Partner aus, der etwas Abstoßendes an sich hat oder der wenig liebenswert ist, weil das vor dem Sog der Liebe schützt. Das geht bei manchen so weit, dass sie sich Partner aussuchen, die sie „zum Kotzen“ finden. Die Gefahr, dass einer den anderen verschlingt, scheint somit gebannt.

Auch Verachtung „hilft“ dabei, Wünsche nach Abhängigkeit zu verdrängen. Verachtende Gefühle sind ein „Abstandhalter“ zum anderen. Erst, wenn uns diese Mechanismen bewusst werden, können wir aus unglücklichen Situationen herauswachsen.

Die geschundene Seele

Sowohl seelische als auch körperliche Angriffe der Eltern schunden die Seele eines Kindes zutiefst. Diese Wunden sind bei uns oft noch vorhanden. Die Liebe eines anderen wirkt dann wie ein echter Schmerz. So, wie die Haut eines Verbrannten keine liebevolle Berührung erträgt, so fühlt die geschundene Seele Schmerz, wenn sich jemand liebevoll nähert. „Es ist, als hätte jemand bei mir die Schalter für Schmerz und Liebe vertauscht“, sagt eine Betroffene. Tatsächlich hängen Schmerz und Liebe eng zusammen. Erst, wenn wir wirklich begreifen, dass uns der andere weder angreift noch verschlingt, heilen Seele und Haut. Erst dann sind liebevolle Berührungen wieder möglich und werden als Wohltat empfunden.

Der Unterschied macht den Schmerz

Aber auch aus einem anderen Grund kann die Liebe des anderen als Schmerz empfunden werden: Ein Kind, das von den Eltern nicht liebevoll behandelt wird, spürt den großen Unterschied zwischen dem „Ist-Zustand“ und dem „Soll-Zustand“. Es selbst liebt die Eltern und es ist auf die Liebe der Eltern angewiesen. Wenn die Eltern jedoch nicht ausreichend resonant sein konnten, dann spürt das Kind die ungeheure Sehnsucht nach Liebe, die nicht erfüllt wird.

Vielleicht versuchst du, deiner eigenen Sehnsucht aus dem Weg zu gehen. Vielleicht fühlst du dich in einem extremen Ausmass nicht liebenswert. Tritt dann doch die „große Liebe“ in dein Leben, wird die Kluft wieder spürbar: Der andere erinnert uns daran, wie es war, so bedürftig zu sein und dennoch keine Liebe zu erhalten. Es macht uns vielleicht Angst, wenn uns Liebe entgegengebracht wird – wir könnten sie ja wieder verlieren. Es geht ja auch ohne Liebe, denken wir uns. Wir wollen die Schmerzen, die mit der Liebe verbunden sind, vermeiden. Wir brauchen oft viel Mut, um uns für das Gute zu entscheiden.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Armin Poggendorf:
Proxemik: Raumverhalten und Raumbedeutung.
Umwelt & Gesundheit 4/2006: 137-140 (PDF)

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 23.10.2011
Aktualisiert am 5.11.2025

12 thoughts on “Beziehungsangst ist oft die Angst vor Selbstaufgabe. Wie kann ich mich abgrenzen?

  1. AlexB sagt:

    Netterweise ist dieses „keine-Grenzen-ziehen-können“ seit Jahrzehnten mein ständig her Begleiter. Das Grenzenziehen wurde von meinen Eltern als Unzulänglichkeit betrachtet – zudem haben die Einen andere Grenzen und Ziele als andere. Zumal ja auch die Gesellschaft immer nur ein Funktionieren erwartet. Mir ist auf jeden Fall bisher seltenst etwas Anderes widerfahren. Und jedes Mal führt es dazu, dass ich über kurz oder lang komplett außer mir gerate und auf Nichts mehr adäquat reagieren kann. Wahrnehmen tu ich meine Grenzen sehr wohl. Helfen tut da auch keine Therapie wenn du dann im „real life“ trotzdem nicht mehr zurückrudern kannst. Therapie-Setting ist halt nicht die Realität. 🤷‍♀️

  2. Gabi sagt:

    Hallo an alle hier,
    Erst einmal vielen Dank für die Texte. Gerade ist mir so vieles klar geworden, dass ich erst einmal geweint habe. Und es erleichtert so sehr. Ich habe den Cut zu der gesamten Familie gemacht, weil dieses Schmierentheater mich fast kaputt gemacht hat. Glaslighting, ich wusste gar nicht wie viele Menschen davon betroffen sind und es erschreckt mich, gleichzeitig aber gibt es mir die Hoffnung, dass alles gut wird. Von daher kann ich nun meine Gedanken, meine Gefühle, alles komplett neu ordnen. Die Dinge anders betrachten und ein für mich neues Leben beginnen.
    Dankeschön
    LG Gabi

  3. Dunja Voos sagt:

    Liebe Say,

    vielen Dank für Ihren Kommentar! Wichtig ist immer das eigene Gefühl. Sie beschreiben das wirklich gut – man kann meistens nicht einfach gegen das eigene Gefühl „andenken“.

    Ihnen alles Gute!

  4. Polyperson sagt:

    Hallo Frau Voos,

    vielen Dank für diesen Text.
    Ich habe eine Verhaltenstherapie gemacht, sowie einen stationären und teilstationären Krankenhausaufenthalt hinter mir.
    Immer wurde mir gesagt, ich müsste nur schön weiter üben und mich zwingen meine Grenzen auszuweiten, um positive Gegenerfahrungen zu sammeln und Nähe als etwas Schönes zu empfinden. Egal, ob sich dies erst mal schlecht anfühlt und zu Flashbacks führt. Es klang logisch, doch fühlte sich sehr falsch an.
    Ende vom Lied ist, dass ich noch viel stärker auf Trigger reagiere als früher.
    Wenn ich diesen Artikel lese, ist mir auch klar wieso.

    Viele Grüße
    Say

  5. Frank sagt:

    Hi. Nachfolgend ein sehr hilfreicher Link zum gleichen Thema: http://www.hochsensibilitaet.ch/content/index_ger.html

  6. Pioque sagt:

    Zitat Frau Voos: „Immer wieder erfahren Menschen beispielsweise in einer psychoanalytischen Therapie wie die “Hochsensibilität” im Laufe der Therapie zurückgeht. Durch die Beziehung zum Therapeuten, durch die Analyse von Projektion und Übertragung verändert sich die Empfindlichkeit“.

    Hochsensible Menschen bestehen an sich auf den kleinen Unterschied, daß sie nicht empfindlich sind, sondern empfindsam. Das ermöglicht auch eine halbwegige Unterscheidung – die Unterscheidung ist etwas knifflig und nicht wirklich immer eindeutig – zwischen Hochsensibilität infolge Belastung (folgend zur besseren Unterscheidung Hochempfindlichkeit genannt), die bei Stärkung des Selbst nachläßt und Hochsensibilität (folgend: Hochempfindsamkeit genannt) infolge mehr „offenen Kanälen“ des Wahrnehmens. Die Kanäle lassen sich nicht verschließen, ähnlich wie man ein Ohr nicht einfach zuklappen kann.

    Hochempfindsamkeit kann zur Belastung werden, allein infolge der Quantität der Wahrnehmungen (Reizüberflutung). Zudem unterscheiden die „offenen Kanäle“ nicht nach stärkend oder schwächend. Aber es gibt sie, diese stärkenden Wahrnehmungen. Dinge, die andere nicht wahrnehmen, oder abgeflachter wahrnehmen. Tiefe Sinneseindrücke (fühlen, spüren, sehen), die erfüllen, gehören zB. dazu. Das kennen Nichthochempfindsame von sich auch. Da einen konkreten Unterschied zu ziehen, halte ich für sehr schwer, auch wenn mich die halbe HS-Gemeinde köpft. Als Unterschied zwischen Hochempfindsamen und Nichthochempfindsamen könnte man versuchen, daß erstere dies nicht ausnahmsweise wahrnehmen und zweitere eher ausnahmsweise. Es geht da um die „Auftretkonstanz“ des Wahrnehmens.

    Hochempfindliche, bei denen eine Stärkung eintritt und die Empfindlichkeit reduziert, sind für den Zeitraum, wo sie hochempfindlich sind, den Hochempfindsamen meiner Ansicht nach sehr ähnlich, wenn nicht gar gleich. (Da rollt jetzt mein zweiter Kopf. Es ist meine Ansicht, es gibt da unterschiedliche Betrachtungen zu.) Nur: Hochempfindsame werden durch eine Stärkung/Stabilität nicht minder hochempfindsam, sie bleiben es. Sie können durchaus einen anderen Umgang mit den belastenden Auswirkungen der Hochempfindsamkeit (wie Reizüberflutung) für sich finden und so die Belastungen senken. Gewisse Hochempfindsamkeiten sind jedoch schwer zu „lindern“, bei Gerüchen wird es zB. schwierig. Ebenso können Hochempfindsame infolge anderer Belastungen (Stress etc.) ebenso an sich empfindlicher werden. Und sei es dadurch, daß sie den Umgang mit den Belastungen (negativer Eindrücke) der Hochempfindsamkeit nicht mehr aufrechterhalten können.

    Hochempfindsamkeit bezieht sich nicht rein auf Wahrnehmungen von Zwischenmenschlichem (Empathie) oder ist ein Vorhandensein sozialer Defizite oder seelischer Nöte.

    Meine Frage etwas anderer Richtung ist, ob Menschen, die durch Stärkung/Stabilität ihre Empfindlichkeit reduzieren, eine Art Verlustgefühl spüren, diesem Nachtrauern.

  7. Jesse sagt:

    Auch ich danke für den Text, Frau Voos ! Mir geht es sehr ähnlich und ich bin mit 19 ausgebrochen, habe die 12te Klasse abgebrochen und einige Jahre im Wagen gelebt, habe eine abgeschlossene Ausbildung als Tischlerin und lebe mit meinen Kindern das Leben, das ich immer wollte. Zwar beziehe ich staatlcihes Geld aber ich habe einen guten und richtigen Schritt gemacht und komme auch meinem beruflichen Wunsch Stück für Stück näher. Aber bis heute muß ich dafür büßen, was ich BÖSES getan habe und mir werden Erfolge aberkannt oder zynisch kommentiert mit Sätzen wie :“Wow ! Du wirst wohl doch noch erwachsen!“ Nur zur Info : ich bin 36 Jahre alt.
    Mit meinem Vater habe ich vor Jahren schon gebrochen. Ich wollte nicht auch noch mit meiner Mutter brechen. Aber ich bin an einem Punkt … und das eine Woche vor Weihnachten, wo ich merke, daß ich mich so nicht mehr behandeln lassen will. Eine lange mail an die Mutter vor eineinhalb Wochen… keine Anwort.
    Und das Wissen, das erwartet wird, daß man wie ein geprügelter Hund auf Knien angerutscht kommt und bettelt, daß man wieder beachtet und geliebt wird. Was sollen das denn für „Weihnachten“ werden !

    Was so irre schwer jetzt ist : es geht mir eigentlich fantastisch…aber ich kann es nicht voll genießen, weil ich so sehr mit der Abgrenzung beschäftigt bin. Mich abzugrenzen gegen Hohn, Spott, Respektlosigkeit und auch Neid. Es lähmt und kostet richtig viel Kraft , dagegen anzukommen.

    Aber ich bin sicher, ich werde den Berg auch schaffen und am Ende eben ein schönes Fest mit meinen Kindern und Freunden feiern.

    Ich wünsche allen ein frohes und leichtes Fest und einen guten Jahreswechsel und VIEEL Liebe, Energie und Lebensfreude :)

    Jesse A.

    Liebe Grüße an meine Vor- und Nachschreiber..Kim : ja, es ist eine Lebensaufgabe !

  8. Christine sagt:

    Hallo Frau Voos,
    schön, dass es jetzt den Gefällt-mir-Button gibt ;-)
    Guter Text, interessantes Thema nachvollziehbar erklärt!

    Viele Grüße, Christine S.

  9. Dunja Voos sagt:

    Liebe Gerda,

    vielen Dank für Deinen Hinweis. Bei mir häufen sich die Anfragen von Müttern, die Sorge haben, ihr Kind sei hochsensibel. Ich glaube, hier ist es ähnlich wichtig wie beim Thema „ADHS“, dass die „Hochsensibilität“ nicht zu einer Diagnose wird, bei der die Betroffenen denken: „Das ist halt so.“

    Immer wieder erfahren Menschen beispielsweise in einer psychoanalytischen Therapie wie die „Hochsensibilität“ im Laufe der Therapie zurückgeht.

    Ich glaube nicht, dass „Strategien“ im Vordergrund der Behandlung stehen sollten und ich glaube auch nicht, dass der Ratschlag, „ganz bei sich selbst zu sein“ und „zu beobachten, was im eigenen Körper vorgeht“, hilfreich ist – im Gegenteil. Ich könnte mir vorstellen, dass sich durch die Eigenbeobachtung Symptome verschlimmern können. Vielleicht sind diese Ratschläge kleine Bausteine. Doch wer lang anhaltend unter seiner „Dünnhäutigkeit“ leidet, findet wirkliche Entlastung meistens in einer guten (psychoanalytischen) Psychotherapie.

    Viele Grüße von Dunja

  10. Liebe Dunja,

    Rolf Sellin führt in seinem Buch „Wenn die Haut zu dünn ist – Hochsensibilität vom Manko zum Plus“ dieses „Nicht abgrenzen können“ auf hohe Sensibilität zurück. Hochsensible nehmen viel mehr wahr als andere Menschen. Sie hören mehr (auch zwischen den „Zeilen“), sehen mehr, denken mehr (was es ihnen schwer macht, den eigenen Standpunkt zu finden und Entscheidungen zu treffen). Und sie können sich intensiver in andere Menschen hineinversetzen – verschmelzen manchmal fast mit ihnen. Sich selbst, ihren eigenen Körper, nehmen sie dagegen oft nicht mehr wahr. Und sie brauchen andere Strategien als weniger sensible Zeitgenossen. Sellins Hauptaussage: Versuchen, ganz bei sich selbst zu sein – wahrnehmen, was im eigen Körper vorgeht!
    Das Buch fand ich sehr hilfreich, es gibt bei jedem Menschen Zeiten in denen die Haut zu dünn wird. Übrigens sollen 20 % der Menschen hochsensibel sein.

    Liebe Grüße
    Gerda

  11. Kim sagt:

    Vielen Dank für diesen sehr aufschlussreichen Text. Vieles habe ich mir intuitiv so vorgestellt und es tut gut, eine Erlärung dafür zu lesen, was in mir vorgeht. Es hat also einen Grund! Meine Mutter hat mich als Kind sehr dominiert, und daraus resultierten Verhaltensweisen ähnlich den hier beschriebenen.
    Ich habe die letzten Jahre damit verbracht, herauszufinden, was ich eigentlich wirklich will und das ist für mich viiiiel schwerer als es sich anhört.
    Und es scheint eine Lebensaufgabe zu sein :)

  12. Malin sagt:

    Ich bin durch Googlen auf diesen Text gestoßen, weil mich das Thema gerade selbst sehr beschäftigt. Danke für diese klare Beschreibung! Es tut gut, das eigene Erlebte so einfach dargestellt zu lesen. Ich habe lange gebraucht, um überhaupt zu kapieren, dass meine Grenzen wieder und wieder überschritten wurden – anhand dieses Textes verstehe ich ein bisschen besser, warum.

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