Frühes Trauma und die Kraft der Zurückhaltung

Ich habe allen Grund zur Wut. Hass und Zerstörungswut sind immer nah. Ich sehe jeden Tag, wie gut es den anderen geht. Gut und immer besser. Sie haben Familie, sie kommen weiter, sie haben Geld. Sie gehören zusammen. Ich stehe draußen. Und will reinkommen. Doch immer wieder möchte ich im Zusammensein mit den anderen hinausschreien: „Es ist so ungerecht! Es geht mir so schlecht! Ich kämpfe täglich um’s innere Überleben. Und ihr macht einfach weiter!“ Jede kleine Ungerechtigkeit schneidet tief in mein Herz. Meine Sehnsucht wird immer größer, ich kann so vieles nicht haben, was für andere selbstverständlich ist. Doch an diesem Abzweig muss ich aufpassen: Ich werde immer fieser, immer bedürftiger. Jetzt muss ich alle Kraft aufwenden, um eben diesen Emotions-Berg zu überwinden.

Es ist gemein: Die, denen es gut geht, brauchen viel weniger Kraft. Mir wurde ein tiefer Schmerz zugefügt, aber damit das Zusammenleben klappt, darf ich nicht wild herumbeißen. Ich sollte nicht schreien. Es ist, als sässe ich beim Zahnarzt und müsste meine Schmerzäußerungen ständig zurückhalten. Dem, der die schlechtesten Startbedingungen hatte, wird noch gesagt, dass er seinen Neid, seinen Hass und seinen Schmerz überwinden soll (wunderbar dargestellt in Alexandre Dumas‘ „Der Graf von Monte Christo“). Wer die größte Sehnsucht hat, muss sie oft am tiefsten verbergen. Wer den größten Hunger hat, muss sich am Tisch oft am meisten zurückhalten – um dazuzugehören.

Frühtraumatisierung heißt häufig, misstrauisch zu sein, schwierige Beziehungen zu führen oder ohne Familie zu leben. Sich zu bilden ist anstrengend, weil meist kaum Unterstützung da ist. Doch mit der Zeit kann sich der Blick weiten: Tiefe Einsamkeit in sich zu tragen heißt nicht, auf Dauer ein einsames Leben führen zu müssen. Wer sich helfen lässt, wer seine Kräfte mobilisiert, wer ein Projekt findet, dem er mit Hingabe folgen kann, wer die Erfahrung macht, dass viele andere ähnlich verzweifelt sind, dass es für niemanden einfach ist, der findet immer mehr Anknüpfungspunkte. Aus all dem ganzen Driss kann einmal Weisheit werden.

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Dieser Beitrag wurde erstmals verfasst am 16.5.2019
Aktualisiert am 5.8.2025

2 thoughts on “Frühes Trauma und die Kraft der Zurückhaltung

  1. Dunja Voos sagt:

    Das freut mich sehr, liebe/r Eumel – danke für Ihre Rückmeldung!

  2. Eumel sagt:

    Immer wieder finden Sie die Worte, an die ich selber noch nicht richtig rankomme. Der Text passt in meinen heutigen Tag. Vielen Dank dafür!

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