Wie kann ich mein Schreibaby beruhigen?

Zuerst bist du noch ganz gelassen – glaubst daran, das Baby beruhigen zu können. Doch wenn es sich wieder und wieder nicht beruhigen lässt, kommen die Selbstzweifel. Es beginnt die Suche nach den Ursachen und Schuldgefühle entstehen. Die Erschöpfung wächst. Vielleiht hast du gerade noch nicht einmal mehr die Kraft, Hilfe zu suchen. Du probierst selbst aus, was helfen könnte. Die psychoanalytische Kleinkindforscherin Beatrice Beebe zeigt in einem Video (Youtube), wie sich eine Mutter und ihr Kind, das an Dreimonatskoliken leidet, aufeinander abstimmen.

Beatrice Beebe sagt (frei übersetzt): „Die menschliche Face-to-Face-Kommunikation ist sehr schnell und kompliziert … Jeder beeinflusst die Reaktion des anderen von einem Moment zum nächsten.“ Beebe betont, dass nicht nur die Mutter das Baby beeinflusst, sondern natürlich auch das Baby die Mutter. Die Mutter und das Baby in dieser filmischen „Mikroanalyse“ haben sehr schwierige Monate hinter sich. Beebe erklärt (frei übersetzt): „Wenn das Baby Koliken hat, so ist es untröstlich. Es schreit stundenlang, ohne dass man es beruhigen kann. Und das macht alle Eltern wahnsinnig. Das Gute daran ist, dass die Koliken nach einigen Monaten von selbst aufhören. Das Schlechte ist, dass man nicht wirklich viel tun kann.

Die Mikroanalyse zeigt, wie ähnlich sich Mutter und Kind bewegen. Insbesondere die Mimik und die Atembewegungen sind in faszinierender Weise aufeinander abgestimmt. Beatrice Beebe erklärt, dass die Babys besonders gerne auf die Mundregion der Mutter schauen. Im Film sieht man, wie die Mutter das Baby aufmuntern will, doch das Baby befindet sich nur im „Interesse-Modus“. Es lächelt nicht, aber es schaut interessiert.

Beebe: „Und das passiert immer wieder: Die Mutter versucht, das Baby aufzumuntern, aber das Baby bleibt emotional da, wo es ist. (Es kommt nicht in den Freude-Modus.) Doch das Baby ist immer noch interessiert. Dann schaut es weg. Das ist normal, dass Babys weggucken, wenn sie aufgeregt sind. Sie regulieren sich selbst und dann kommen sie zurück in die Beziehung.“

Doch dann dreht sich das Baby immer weiter weg. Und die Mutter denkt: „Oh, oh!“ Das Baby biegt sich nach hinten und zeigt damit sein Unwohlsein deutlich an. Später erklärt die Mutter, die den Film mit Betroffenheit sieht: „Ich dachte: ‚Bleib!‘ Ich wollte so gerne, dass es dem Baby weiterhin gut geht, dass es in seiner interessierten Stimmung bleibt.“ Die Mutter stimmt sich ein auf das Unwohlsein ihres Babys. Sie verzieht ihr Gesicht und sagt: „Uh“, was heißen soll: „Du magst das nicht?“ Aber als Zuschauer kann man sehen, dass das Baby in diesem Moment eigentlich ok war. Die Mutter hat das Unwohlsein ihres Babys aus lauter Sorge schon vorweggenommen. Sie wartet schon auf das Schlimme, doch das Baby ist immer noch ok. „Da zeigt sich eine kleine Unstimmigkeit“, sagt Beebe. Die beiden wiederholen diese Szene mehrmals.

Definition Schreibaby: Schreit ein Baby mindestens drei Wochen lang an mindestens drei Tagen der Woche jeweils für mindestens drei Stunden, dann ist es ein Schreibaby (Dreierregel von Morris Wessel). Dieser Ausdruck sagt meiner Meinung nach so gut wie nichts aus. Wenn du ein „Schreibaby“ hast, kommt dir dieser Ausdruck irgendwann ganz automatisch in den Sinn. Ein anderer Ausdruck für „#Schreibaby“ ist heute auch #HighNeedBaby. Viele Mütter und ihre Babys finden übrigens Hilfe beim Osteopathen. Er hat oft ein feines Gespür für körperliche „Blockaden“, unter denen das Baby leidet.

Fremde haben’s oft leichter

Dann setzt sich Beatrice Beebe zum Baby und spricht mit ihm. Sie erklärt der Mutter, dass wenn sich ein Fremder zum Baby gesellt, es weitere Verhaltensmöglichkeiten hat als im engen Kontakt zur Mutter. Beatrice Beebe sagt, dass sie natürlich nicht den Stress der letzten vier Monate hatte und dadurch entspannter sein kann. Wenn sie sieht, dass sich das Baby abwendet, dann lehnt sie sich etwas zurück und wartet. Sie wird ein bisschen träumerisch. Dann kommt das Baby wieder zurück in den Kontakt und Beatrice Beebe sagt: „Hallo!“

In diesem kleinen Lehrfilm kann man ein Gefühl für das empfindliche Gleichgewicht von Mutter und Kind bekommen. Das Zusammensein mit einem Schreibaby ist anstrengend und die Eltern versuchen oft alles, aber es gelingt wenig. Das Baby windet sich und streckt sich und auch die eigene Anspannung wird unerträglich. Schon, wenn das Baby etwas wimmert, gerätst du als Mutter oder Vater in Panik, weil du weißt: Mein Baby wird sich einschreien und ich kann nichts tun.

In Reaktion auf das Unwohlsein des Kindes merken Mutter und Vater oft nicht mehr, wie stark sie das Baby in ihren Armen schaukeln. Jetzt wird es für das Baby schwierig zu signalisieren: „Bitte weniger!“ Das starke Schaukeln wirkt wie ein aggressives gegenseitiges Aufschaukeln. Mutter und Vater werden wütend, weil sich das Baby nicht beruhigen lässt und das Baby ist verzweifelt, weil es nicht verstanden wird. Viele Faktoren sind beteiligt. In Psychotherapien mit Babys lässt sich oft feststellen: Viele Babys fangen genau in dem Moment an zu schreien, in dem Mutter oder Vater über belastende Ereignisse sprechen.

Oft hat die Mutter belastende Ereignisse erlebt, die sie nicht verdauen kann. Vielleicht bestehen große Spannungen zwischen den Eltern. Vielleicht haben Vater oder Mutter selbst eine schwere Babyzeit gehabt, weil sie medizinische Behandlungen und Trennungen von der Mutter über sich ergehen lassen mussten. All dies ist in ihnen verankert und das Zusammensein mit dem Baby erinnert sie vielleicht ohne Worte daran. Doch schon allein das Nachdenken über die eigenen Leiden kann dabei helfen, die angespannte Situation etwas zu verändern.

Schaue einmal, welche Stimmhöhe Dein Baby an Dir mag und versuche einmal, mehr Singsang in Deine Stimme zu bringen, falls Dir das in Deiner Verfassung möglich ist. Auch kannst du einmal versuchen, mehr Mimik in dein Gesicht zu bringen. Nimm ruhig wahr, wenn du dich durch die Ablehnung, die dir dein Baby zeigt, beunruhigt fühlst. Das ist ganz normal. Es wird wieder anders werden.

Abstimmung auf den Ausscheidungsprozess

Das exzessive Schreien bei Babys ist nicht selten verbunden mit den „Dreimonatskoliken“. Hier könnte die Elimination Communication ein denkenswerter Ansatz sein. Die Theorie: Babys wollen sich nicht selbst beschmutzen, das heißt, sie wollen nicht in die Windeln machen. Babys zeigen schon früh an, wenn sie sich entleeren wollen und zwar durch Unruhe und Kicken der Beine. Wenn die Mutter aufmerksam mit dem Baby kommuniziert, merkt sie, wann es sich entleeren möchte und kann es abhalten – sogar schon als ganz kleinen Säugling.

Manchmal ist auch das Fehlen des Dritten (also des Vaters oder eines weiteren Partners/einer Partnerin) eine Mit-Ursache für das Unwohlsein des Babys, weil es das Alleinsein mit der Mutter spürt und die daraus entstehende Anspannung. Versuche nicht mit Anstrengung, dich zu entspannen. Manchmal hilft es, wenn du die Traurigkeit über deine Situation spürst. Trauer gilt als das reifeste Gefühl. Im Weinen entspannst du dich automatisch. Trauer macht dich weich. Vielleicht findest du irgendwo kurz Trost – und sei es nur beim Bäcker, unter der Dusche oder bei der Telefonseelsorge.de.

Übung: Wenn das Baby Abstand braucht, wendet es sein Köpfchen ab. Bemerkst Du es? Wie reagierst Du?

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Beatrice Beebe:
Decoding Mother-Infant Interaction:
A Story of One Mother and Infant

youtu.be/-60yYJvztJ8

Stella Acquarone:
What shall i do to stop him crying?
Psychoanalytic thinking about the treatment of excessively crying infants and their mothers/parents.
Journal of Child Psychotherapy, Volume 18, 1992 – Issue 1, Published online 24.9.2007
doi.org/10.1080/00754179208259362
www.tandfonline.com

Brigitta vom Lehn:
Schreibabys sind typisch deutsch.
Welt-online, 6.5.2007

Mauri Fries:
Unser Baby schreit Tag und Nacht
Ernst Reinhardt Verlag, 2006
www.lovelybooks.de

Mirja Helen Hemmi et al. (2011):
Associations between problems with crying, sleeping and/or feeding in infancy and long-term behavioural outcomes in childhood: a meta-analysis.
Archives of Disease in Childhood 2011; 96: 622-629, doi:10.1136/adc.2010.191312 adc.bmj.com/content/96/7/622.short
(Fazit: Frühe Regulationsstörungen und spätere Verhaltensauffälligkeiten hängen oft zusammen.)

Morris A. Wessel, John C. Cobb, Edith B. Jackson, George S. Harris
Ann C. Detwiler (Yale Rooming-in project, Yale-University) (1954):
Paroxysmal Fussing In Infance, Sometimes Called „Colic“
Pediatrics Vol. 14 No. 5 November 1, 1954: 421-435
pediatrics.aappublications.org/content/14/5/421.short
(Anm.: fussy = aufgeregt, heikel)
Ab wann ist ein Baby ein „Schreibaby“? Eltern merken meistens sehr gut, ab wann ein Baby mehr schreit als andere Babys. Dennoch wollen es betroffene Eltern genauer wissen. Einen Anhaltspunkt bietet die „Dreier-Regel“ nach Morris Wessel: Schreit ein Baby mehr als drei Stunden über drei Tage in der Woche und über drei Wochen hinweg, dann ist es ein „Schreibaby“.

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht im Jahr 2006.
Aktualisiert am 2.11.2025

4 thoughts on “Wie kann ich mein Schreibaby beruhigen?

  1. Sara sagt:

    Danke für diesen Artikel! Hätte ich sowas doch schon damals gelesen… Mein Sohn (jetzt 2 Jahre) hat wirklich wochenlang nur geschrieen und anfangs konnte ich ihn keine Sekunde aus den Armen legen. Eine Freundin hat mir dann empfohlen, ihn mal zu pucken, das hat schon etwas geholfen. Etwas mehr Ruhe wurde mir aber in der Nacht endlich durch die Anschaffung einer Federwiege gegönnt. Das Teil hat sich wirklich ausgezahlt. Durch die Feder hat er sich einfach, wenn er anfing zu strampeln, wieder selbst in den Schlaf gewippt. Meinem Rücken hats auch gut getan :) Ich habe damals diese hier gehabt: http://haengemattenshop.com/yayita-baby-hangematte-wolldecke.html und habe einfach um 10 Euro eine Feder dazugekauft…
    LG Sara

  2. Sara sagt:

    Ein kleiner Tipp noch: Federwiegen und verschiedene Tragesysteme erstmal leihen, so dass man erstmal ausprobieren kann, ob dies zur Beruhigung beitragen kann. Zum Beispiel hier: http://www.mamathek.de
    Die Ursachen für exzessiv schreiende Babys können ja sehr verschieden sein.

    Liebe Grüße
    Sara

  3. Güner sagt:

    Genau wie es keine generelle Ursache für das Schreien von Babys gibt, kann es natürlich auch keine ultimative Lösung geben, allerdings bin ich jetzt auf die Alternative “Babyfederwiege” und das Pucken gestoßen.
    Ähnliche Ansatzpunkte für diese Problematik habe ich auf der http://www.nonomo.de gelesen, wo auch Expertenstellungnahmen und Kundenportale Erfahrungsberichte wiedergeben.
    Ist sicherlich interessant für Eltern mit ähnlichen Problemen, vielleicht ist eine Federwiege ja die Lösung für viele.

    Also schaut mal rein: http://www.nonomo.de

  4. Harry Hirsch sagt:

    „Viele junge Eltern lesen Ratgeber über Ratgeber. Und fühlen sich mit jedem Mal mehr im Stich gelassen. “

    Das zeigt, dass diese Eltern sich im Gefühl noch ganz sicher sind und ihre Einsamkeit auch wahrnehmen können. Gut zu lesen, dass es immer noch Menschen gibt, die tatsächlich noch fühlen können, wie allein sie sind und dass sich kein Schwein für sie interessiert. Die Politiker am allerwenigsten. Wenn, dann unter dem Aspekt, mehr Humankapital zu produzieren.

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