Grübelzwang: Das Leiden darunter, dass etwas nicht passt und die Beruhigung nicht eintritt

Wenn wir an Zwängen leiden, müssen wir immer etwas tun oder denken, was uns quält. Das Grundgefühl ist das Gequältsein. Schon morgens, wenn wir aufwachen, taucht unser quälender Gedanke auf: Da ist es wieder. Doch wie finde ich aus der Qual heraus? Es fühlt sich an wie ein Rätsel, das du nicht lösen kannst wie z.B. die Frage nach dem Sinn des Lebens oder nach dem Tod. Es ist das tiefe Grundgefühl, dass da etwas nicht passt und vielleicht nie passend werden kann. Es ist vielleicht wie das Gefühl, nicht mit der Mutter zusammenzupassen oder nicht willkommen zu sein. Auch deine Wünsche und dein Körper passen nicht zu den Anforderungen, die von aussen kommen, so dein Eindruck.

Viele Zwangsgedanken kreisen um Fragen des Lebens, des Todes, des Sinns des Lebens, aber auch um Beziehungen, um Geld und Alltagsfragen. Wenn wir ein Rätsel lösen können, atmen wir erleichtert auf. Es passt. Diese Erleichterung ist es, die zum Beispiel an der Mathematik so viel Freude macht. Vielleicht werden deswegen so viele Menschen mit einer Neigung zum Zwang auch Mathematiker.

Während du grübelst, möchtest du vielleicht weinen, aber es geht nicht. Das ist bei einer Panikattacke sehr ähnlich – die Anspannung ist zu gross, der Zustand ist wie eingefroren. Erst, wenn der Grübelzwang oder die Panik vorbei ist, kommen die erleichternden Tränen. Bei der Zwangsstörung wird etwas zurückgehalten und es kommt nicht zum befreiten „großen Aaaah“. Es kommt nicht zum Ende. Ein Zwangsgestörter ist verhindert, er fühlt sich am Leben gehindert. Und er weiß auch nicht, ob Leben überhaupt so eine gute Idee ist.

Leben mit dem Unpassenden

Die Frage ist, ob ich mit dem Unpassenden und Ungelösten leben kann. Kann ich damit leben, dass ich einen Spielekasten mit kreisförmigen Öffnungen habe, aber meine Bauklötze dreieckig sind? Die Unruhe, die entsteht, weil die Dreiecke draußen oder drinnen bleiben müssen und nicht durch die Öffnung passen, kommt der Unruhe, die wir im Zwang erleiden, sehr nahe. Das Leiden entsteht durch den fehlenden Austausch und die fehlende Erfahrung von Passung.

Dass etwas passt, ist für uns lebensnotwendig: Das Herz muss groß genug sein, um die passende Menge Blut aufnehmen zu können, die Alveolen unserer Lunge müssen die Luft fassen können. Wenn wir zu viel Unpassendes im Leben haben, leben wir mit einer ständigen Beunruhigung.

Du hast vielleicht ein ständiges Gefühl der Bedrohung, das sich auch durch Zwangshandlungen nicht lange beruhigen lässt. Es ist unaushaltbar. Wir wollen eine Lösung finden, aber es geht nicht. Es ist sehr schwierig, mit dem Unpassenden und all den Ungereimtheiten zu leben. Die Rätsel des Lebens und des Todes halten wir besser aus, wenn wir tragende Beziehungen haben, in denen wir uns gut fühlen. Doch das ist ein grosses Ziel, das wir uns vielleicht nur langsam erarbeiten können. Körperarbeit kann ein Anfang sein, denn wenn wir uns in uns selbst stimmig fühlen, wirkt sich das auch auf unsere Gedanken und Gefühle aus.

Zwänge bei Kindern und Jugendlichen

Kleine Kinder können unglaublich zwanghaft sein. Da muss es unbedingt die blaue Eiskugel oder genau dieser Frühstücks-Becher sein. Zwänge sind Teil einer normalen Kleinkind-Entwicklung. Auch Jugendliche haben ihre Zwänge. Von einer „Zwangsstörung“ spricht man, wenn die Zwänge einen deutlichen Leidensdruck hervorrufen. Doch so unangenehm sie sind: Zwänge haben meistens ihren Sinn. Wird der Sinn der Zwänge erkannt, können sie nachlassen.

Zwänge kommen oft dann, wenn du etwas Bestimmtes nicht fühlen willst, z.B. Schuld, Erregung oder Aggressionen. Auch von manchen Gedanken und Phantasien möchtest du dich vielleicht abhalten. Wenn du nicht an den rosa Elefanten denken willst, denkst du auf einmal nur noch daran. Zwänge können auch dann auftreten, wenn du dich körperlich nicht wohl fühlst – besonders auch, wenn du müde bist oder lange in einer still gesessen oder gelegen hast. Du fühlst dich dann vielleicht an unangnehme, einengende Situationen aus deinem Leben erinnert. Dann versuchst du möglicherweise unbewusst, durch Zwänge Kontrolle zu erlangen. Vielleicht hast du einen Waschzwang entwickelt, um den „Schmutz der Vergangenheit“ loszuwerden.

Der handfeste Zwang gibt zunächst Stabilität, doch dann kommt oft das Gefühl, dass man sich auch darin verliert. Als kleine Kinder konnten wir „zwanghaft spielen“ oder beispielsweise „zwanghaft masturbieren“. Ab der Pubertät kreisen wir oft in unseren Gedanken um bestimmte Themen. Wir machen „zu“, sind in uns und es kann nichts mehr von aussen kommen. Im Zwang sind wir oft allein oder „zu zweit“: Ich und der verhasste Partner, ich und die Mutter, ich und mein Thema, ich und mein Körper. Etwas Drittes von aussen könnte Erleichterung bringen: eine neue Idee, ein neuer Mensch, ein gutes Buch. Auch unsere Neugier und unser Forschergeist könnten uns herausführen. Doch die Verbindung zu diesem Neuen kann uns auch ängstigen.

„Ich gehe im anderen auf – das wäre für mich die Erlösung“, sagt einer. „Für mich wäre die totale Zerstörung die Erlösung“, sagt ein anderer. „Nur meinen Körper empfinde ich als Last.“ Das bewusste Denken ist das Problem. Nachts, wenn wir schlafen, sind wir meistens frei vom Zwang.

Der erste Schritt zur Linderung besteht oft darin, zu erkennen und zu verstehen, was war, kurz bevor der Zwang einsetzte. Nicht selten kann das Erkennen der „wahren Gefühle und Gedanken“ die Zwänge zurückgehen lassen. Auch ist es wichtig, die Angst zu erforschen, die hinter dem Zwang steckt. Zwangsdenken ist manchmal eine bewusste Anstrengung, zu anderen Zeiten fühlen sich die Zwangsgedanken wie aufgedrängt an. Das Träumen hingegen ist ein Zustand, der vom bewusst-kontrollierten Wachdenken weg führt. Doch schon der Gedanke daran, löst in dir vielleicht Angst aus. Vielleicht stellst du auch fest, dass du entweder Panikattacken hast oder Zwangsgedanken. Manche Zwangsgedanken können in dir eine tiefe Angst verursachen. Dennoch scheinen Angstgefühle und Zwang sich eher abzuwechseln, als gemeinsam aufzutreten. Es fühlt sich so an, als wärest du nur sicher, wenn du deine Zwangsgedanken fortführst. Versuche selbst zu erforschen, welche Systeme und Phantasien mit deinen Zwängen verbunden sind.

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Links:

Petry, Heinz (2011)
Obsessive Compulsive Disorder: Psychoanalytisch gesehen eine Zwangsneurose
Dtsch Arztebl Int 2011; 108(43): 741-742
DOI: 10.3238/arztebl.2011.0741b

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 28.1.2018
Aktualisiert am 5.6.2025

2 thoughts on “Grübelzwang: Das Leiden darunter, dass etwas nicht passt und die Beruhigung nicht eintritt

  1. Dunja Voos sagt:

    Liebe Frau Schleicher,
    ganz herzlichen Dank für Ihre Rückmeldung, über die ich mich sehr freue. Ich schreibe zu diesem Thema weiter, sobald ich Neues habe!

  2. Minna sagt:

    Danke vielmals für den Artikel, Sie drücken die innere Lage einer Person, die solche Erfahrungen in der Kindheit gemacht hat. sehr plastisch und empathisch aus! Es wäre schön, wenn Sie dazu noch weitere Erkenntnisse und vielleicht Hilfestellungen veröffentlichen würden!

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