Respektvolle Beziehung: „Aber Kinder sind doch keine kleinen Erwachsenen!“
Wann immer es um respektvolle „Erziehung“ von – oder besser: Beziehung zu – Kindern geht, kommt rasch der Spruch: „Aber Kinder sind doch keine kleinen Erwachsenen!“ Dieser Satz hat mich von jeher irritiert. Es ist eine Frage der Haltung: Ich finde es wichtig, mit Kindern so umzugehen wie mit Erwachsenen auch, jedoch unter der Berücksichtigung, dass es eben noch Kinder sind. Wenn ein Kind mich fragt, warum der Himmel blau ist, kann ich nicht mit ausgefeilten physikalischen Berechnungen daher kommen, sondern muss es in kindgerechte Worte fassen. Aber ich erkläre es ihm so, dass es sich ernstgenommen fühlt.
Unsere Kinder können uns emotional bis aufs Blut herausfordern. Doch wir können wieder zur Mitte zurückfinden. Es ist wichtig, mit Kindern nur so zu sprechen, wie wir als Erwachsene es auch akzeptieren würden. „Du kommst jetzt ganz schnell weg da! Eins, zwei,…?! Ein bisschen plötzlich, Frollein!“ Wie würden wir reagieren, wenn unser Partner so mit uns spräche? So einen Partner würden wir – wenn wir nicht gerade masochistisch sind – wahrscheinlich bald verlassen.
Erwartungen
Kinder wollen wie jeder Mensch behandelt werden – mit Respekt und Verständnis. Auch wenn wir wütend auf unser Kind sind, können wir respektvoll mit ihm sprechen: „Ich bin müde! Den ganzen Tag habe ich aufgeräumt. Und wenn ich hier über Deine Spielsachen falle, macht mich das wirklich wahnsinnig.“ Und jetzt kommt der spannende Punkt: Können wir damit rechnen, dass ein Kind darauf reagiert? Ja! Und zwar dann, wenn wir uns immer um eine gute Bindung bemüht haben. Wenn wir für das Kind zeitlich ausreichend zur Verfügung stehen. Wenn das Kind uns kennt, dann will es nichts mehr, als dass wir ihm wohlgesonnen sind. Ein Kind will, dass wir es lieben und es will die Liebe der Eltern nicht verlieren. Hier können wir eine Reaktion erwarten wie von Erwachsenen auch: Das Kind wird bemüht sein, in irgendeiner (altersangemessenen Form) auf uns zuzugehen.
Das Gefühl, bei unseren Kindern irgendetwas falsch gemacht zu haben, ist schrecklich. Manche Eltern sind von ihren eigenen Taten traumatisiert. Die Scham hält viele davon ab, Hilfe zu suchen. Doch oft hilft es dem Kind am meisten, wenn die Mutter/der Vater Entlastung finden.
Das Kind reagiert auf uns, wenn wir eine gute Bindung haben
Wenn wir eine gute Bindung zum Kind haben, dann wird es weinen, wenn wir sagen, dass wir wütend geworden sind. Wenn wir ihm zeigen, dass es unsere Grenzen übertreten hat, wird es das spüren und daraus lernen. Unsere Worte kommen bei unserem Kind an. Wenn wir es aber überwiegend respektlos behandeln und unsere Macht ausnutzen, dann wird es nicht unmittelbar auf uns reagieren, sondern sich uns widersetzen.
„Ja, aber wenn ich konsequent bin, dann fühlt es sich doch geborgen, oder?“ Auch hier kommt es wieder auf die innere Haltung an. Es fühlt sich geborgen, wenn der Erwachsene sich tatsächlich erwachsen fühlt, wenn er eine innere Haltung hat, wenn er gelassen umsetzen kann, was er für richtig hält, wenn er dem Kind zeigt, was „richtig“ und „falsch“ ist in dem Wissen, dass jedes Kind auch ein Präkonzept von „richtig und falsch“ in sich trägt.
Konsequenz
Manche Eltern sagen: „Ich dachte hinterher: Drei Tage Fernsehverbot ist echt ein bisschen viel, aber nun hatte ich’s gesagt, nun muss ich es auch durchziehen um der Konsequenz willen.“ Hier wird’s wieder fraglich. Ich würde nicht wollen, dass mir jemand drei Tage lang das Fernsehen verbietet. Mit welchem Recht sollte er das tun? Und wenn sich jemand geirrt hat und in der Wut etwas gesagt hat, was er nicht so meint, freue ich mich über eine Entschuldigung.
Aus der Angst heraus, nicht respektiert zu werden, tun viele Erwachsene lauter Dinge in einer Weise, die das Kind dazu bringt, sie erst recht nicht mehr zu akzeptieren.
So geraten die Erwachsenen in einen Teufelskreis. Am natürlichsten geht es, wenn man sich selbst fragt: „Wie würde ich mich fühlen? Mein Wille ist mein Himmelreich. Der Wille meines Kindes ist auch sein Himmelreich. Mein Körper gehört mir. Und auch der Körper des Kindes gehört dem Kind. Wie kann ich da so mit ihm umgehen, dass es ihm gut geht?“ Die meisten Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Kaum über etwas wird mehr diskutiert als über die „richtige Erziehung“. Vieles wird leichter, wenn man die Erziehung beiseite lässt und sich um eine gute Beziehung bemüht.
„Eins, zwei, drei …!“ Warum zählen so viele Eltern?
„Warum zählen so viele Eltern immerzu bis Drei?“, fragte ich auf Twitter. Die Antwort einer Mutter: „Weil’s funktioniert.“ Ich stelle mir vor, mein Partner würde mich bitten, ihm Kaffee mitzubringen und dann sagen: „Aber ganz schnell! Eins, zweeeiiii …“ Kinder sind zwar nicht erwachsen, aber sie wollen mit demselben Respekt behandelt werden wie Erwachsene. „Eins, zweeeiii …“, sagt die Mutter. „Okay“, sagt das kleine Kind und tut, was die Mutter will. Die Mutter freut sich. Ihr Kind „tanzt ihr nicht auf der Nase herum“. Was aber nur der Außenstehende sieht: In ihrem Kind wächst eine Pflanze der Wut. Natürlich gehorcht das Kind, was soll es auch anderes tun? Es weiß, dass Strafen folgen, wenn es bei Zwei nicht reagiert. Also wählt das Kind das kleinere Übel.
Am Anfang kann ein Kind nur nehmen. Es kann Respekt empfangen. Später wird es den Respekt zurück geben. Wenn Eltern aber zählen, zeigen sie dem Kind: „Ich bin mächtig, Du bist ohnmächtig.“
Eine Pflanze der Wut wird genährt
Jedes Mal, wenn Eltern in dieser Weise zählen, wächst im Kind ein Stückchen Wut. Die Mutter kann diese Wut kaum wahrnehmen, denn ihre Befriedigung und Erleichterung sind groß. Doch dieses Zusammenspiel zwischen Mutter und Kind findet Tausende Male statt. Das Kind „gehorcht“, insgeheim wütend, um Schlimmeres zu verhindern. Mit dem EinsZweiDrei wird ein Beziehungsmuster geflochten, unter dem viele Erwachsene noch zu leiden haben. Es ist oft unbewusst geworden – meistens sagen wir dann: „Komisch, und ich tu auch noch, was der mir sagt!“
„Ja, aber im Alltag geht es nun mal nicht anders“, sagt eine Mutter. Wie kommt so eine Überzeugung zustande? Warum glauben Eltern, es ginge nicht anders?
Warten, Beobachten, Verstehen statt Zählen
Das Leben ist nicht leicht und wir haben nicht immer die Zeit, so zu handeln, wie es gut wäre. Aber oft haben wir dennoch die Möglichkeit, es anders zu machen. Die Lösung besteht in ruhigen Momenten darin, das Kind genau zu beobachten, einmal zu warten und es zu verstehen. Manchmal sieht es unsinnig aus, wenn wir unser Kind um etwas bitten und es das nicht sofort tut. Doch Kinder sind innerlich langsam – sie brauchen Zeit. Sie wollen ihre Sache noch beenden, Gedachtes zu Ende denken, die Konsequenzen des Lebens selbst entdecken.
Manchmal haben Kinder auch etwas Sinnvolles vor, das wir nur erkennen, wenn wir warten: Genau dieses Kind, das scheinbar nicht auf seine Mutter hörte, als sie es rief, wollte einfach noch schnell seine Schuhe holen, die die Mutter vergessen hatte. „Ach ja, gut, dass du daran gedacht hast!“ Warten heißt: das Kind verstehen lernen.
Frollein! Freundchen!
„Freundchen, pass bloß auf! Und Frollein, wenn Du jetzt nicht hörst …!“, klingt es drohend am Sandkasten. Viele Mütter und Väter sprechen mit ihren Kindern so, wie mit ihnen selbst gesprochen wurde – in einer verachtenden Weise. Es fällt uns oft gar nicht auf, weil wir es von unseren Vätern und Müttern kennen. Wie sie uns angesprochen haben, ist fest in uns verankert. Wenn es uns bewusst wird, müssen wir es nicht länger wiederholen.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 7.5.2017
Aktualisiert am 22.11.2025