Wie entsteht Schizophrenie? Frühe Gewalt kann eine Rolle spielen
Es seien die Gene, die Veranlagung, die hauptsächlich zur Schizophrenie führten. Das Konzept der „schizophrenogenen Mutter“ sei veraltet, heißt es. Gut für die Pharmaindustrie, entlastend für die Mütter und Väter. Doch was der Psychologe Bertram Paul Karon, dignitymemorial.com (1930-2019) im Film „Take these broken wings“ (Youtube, von Daniel Mackler, ab 3:45) sagt, ist sehr berührend.
Bertram P. Karon, PhD (1930-2019):
„I have never met a schizophrenic whose life as experienced by the patient wouldn’t have driven me crazy if I had lived it. Not the life as described in the hospital record by people who don’t want to hear what it was like, but the life as when I finally get to know what this person has experienced. There is no question: I would be just as sick and in just the same way that this patient is. In fact, I have never worked with a schizophrenic where I have not walked away from some session with the feeling: My God, a human being has lived this way.“ (Siehe auch: „Schizophrenia is a Chronic Terror Syndrome, Not Genetic“)
(Frei übersetzt von Voos): „Ich habe noch nie einen schizophrenen Patienten gesehen, dessen Leben mich nicht verrückt gemacht hätte, wenn ich es hätte leben müssen. Es geht nicht um das Leben, wie es in den Krankenakten steht – von Menschen beschrieben, die nicht wirklich hören wollten. Es geht um das, was die Person wirklich erlebt hat. Keine Frage: Ich wäre genauso krank und in derselben Art krank wie dieser Patient. Und in der Tat: Ich habe noch nie mit einem Schizophrenen gearbeitet, bei dem ich nicht so manches Mal aus der Sitzung kam mit dem Gefühl: Oh mein Gott, da musste ein Mensch so leben!“
Wahrscheinlich haben viele schizophrene Patienten enorme Gewalt in der frühen Kindheit erlebt
Bei Patienten mit einer schizophrenen Psychose sind häufig Traumata in der Krankheitsgeschichte zu finden. Die Psychologin Wendy Spence und Kollegen (2006) haben 40 Patienten mit einer Schizophrenie und 30 psychisch Erkrankte, jedoch nicht-schizophrene Patienten miteinander verglichen. Sie fanden heraus: Ein Trauma in der Kindheit wurde signifikant häufiger von schizophrenen als von nicht-schizophrenen Patienten erlitten. Besonders stark war der Zusammenhang, wenn die Forscher körperliche Angriffe in der Kindheit in die Untersuchung einbezogen. Schizophrene Patienten, die Traumata erlitten hatten, konnten sehr oft nur schlecht kommunizieren und litten unter depressiven Symptomen. Die Autoren gehen davon aus, dass Traumata eine wichtige Rolle in der Entstehung der Schizophrenie spielen können.
Halluzinationen könnten mit frühen intrusiven Erfahrungen zusammenhängen
Studien haben einen Zusammenhang zwischen Missbrauch in der Kindheit und Plussymptomen bei der Schizophrenie festgestellt. In diesem Zusammenhang untersuchten John Read und Kollegen (2003) die Symptome von 92 Patienten, die von sexuellem oder körperlichem Missbrauch betroffen waren mit 108 Patienten, die keinen Missbrauch erlebt hatten. Bei 60 Patienten mit Missbrauch speziell in der Kindheit kamen Halluzinationen signifikant häufiger vor als bei den Patienten ohne Missbrauch. Sexueller Missbrauch speziell im Erwachsenenalter war verbunden mit Halluzinationen, Wahnvorstellungen und Denkstörungen. Ein besonderes Ergebnis: Speziell Kindesmissbrauch führt möglicherweise häufig zu akustischen und taktilen Halluzinationen. Wissenschaftler versuchen nun, die psychologischen und neurobiologischen Wege herauszufinden, die vom Missbrauch zu den Symptomen führen.
Intensive Psychotherapie kann bei Schizophrenie helfen
Die Psychoanalytikerin Frieda Fromm-Reichmann, psychoanalytikerinnen.de (1889-1957) und der Psychiater Harry Stack Sullivan, aerzteblatt.de (1892-1949) entwickelten in den USA die „Intensive Psychotherapie“ für schizophren erkrankte Menschen. Hannah Green, die Autorin des berühmten Buches „Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen“, war selbst einmal schizophren und wurde von Frieda Fromm-Reichmann behandelt. In dem beeindruckenden Video „Take these Broken Wings“ (Youtube) erzählt sie über ihre Therapie bei Fromm-Reichmann.
Was ist Schizophrenie (F20)
Die Begriffe „Schizophrenie“ und „Psychose“ werden häufig gleichgesetzt. Sowohl bei der Schizophrenie als auch bei der Psychose verlieren die Betroffenen den Bezug zur Realität, leiden unter Wahnvorstellungen („Ich werde verfolgt“) oder Halluzinationen wie z.B. Stimmenhören. Die Schizophrenie dauert jedoch meistens lange an und die Betroffenen kreisen in ihren Gedanken um ein ganzes Wahnsystem. Oft sind die Emotionen bei der Schizophrenie abgeflacht. Viele Betroffene erinnern an autistische Patienten, jedoch lösen sie in der Gegenübertragung häufig mehr Emotionen aus – das heißt, die Gefühle sind da, aber versteckt: „Ich habe meine Gefühle weggeschlossen“, sagen die Betroffenen vielleicht.
Schizophrene Menschen sind in der Regel bei klarem Bewusstsein, wirken jedoch häufig verlangsamt oder schläfrig. Die veraltete Bezeichnung für die Schizophrenie lautet „Spaltungs-Irresein“. „Schizo“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „gespalten“. „Phren“ ist das griechische Wort für „Zwerchfell“, wobei im alten Griechenland damit die Region gemeint war, in der die Seele bzw. die Gefühle, das Denken und der Wille sitzen.
Psychisch fressen und gefressen werden
Der amerikanische Psychoanalytiker Harold Searles (1918-2015) hat sich intensiv der psychoanalytischen Psychotherapie von schizophrenen Patienten gewidmet. Was ihm besonders aufgefallen ist: Was der Schizophrene denkt und fühlt, hat möglicherweise oft mit dem Unbewussten des Anderen zu tun.
Die „Introjektion“ ist das Gegenteil von „Projektion“. Während man bei der Projektion unerwünschte Gefühle, Gedanken etc. von sich schiebt, indem man sie dem anderen unterstellt („Du bist sauer, nicht ich!“) holt man sich bei der „Introjektion“ die Gefühle, Gedanken etc. des anderen unbewusst in sich hinein: Man fühlt sich traurig, erlebt aber eigentlich stellvertretend die Trauer eines anderen. So die Theorie. Der Psychoanalytiker denkt bei seiner Arbeit oft: „Was hat das, was ich gerade fühle, mit dem Patienten zu tun?“ Damit fragt der Analytiker sich also, wie seine Gegenübertragung aussieht. Er überlegt aber auch: „Was hat das, was der Patient gerade fühlt und denkt, mit mir zu tun?“ Diese Denkweise betonen besonders die intersubjektiven Psychoanalytiker.
Auch mit Schizophrenie kann man Professor werden: Elyn Saks ist Professorin für Recht, Psychologie und Psychiatrie an der University of Southern California (USC). Jahrzehntelang hat sie selbst mit der Schizophrenie gekämpft und 2007 ihr Buch (amazon) „The Center Cannot Hold: My Journey Through Madness“ veröffentlicht (Das Zentrum kann nichts halten: Meine Reise durch das Verrücktsein, Hyperion-Verlag).
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Links:
Zipursky, Robert B., Thomas J. Reilly, and Robin M. Murray (2013):
The myth of schizophrenia as a progressive brain disease.
Schizophrenia bulletin 39.6 (2013): 1363-1372, academic.oup.com/…
I. Janssen et al. (2004):
Childhood abuse as a risk actor for psychotic expériences
Acta Psychiatrica Scandinavica, Volume 109, Issue 1, January 2004: Pages 38-45
doi.org/10.1046/j.0001-690X.2003.00217.x
onlinelibrary.wiley.com/…
„The results suggest that early childhood trauma increases the risk for positive psychotic symptoms. This finding fits well with recent models that suggest that early adversities may lead to psychological and biological changes that increase psychosis vulnerability.“
Cannon M et al. (2002):
Evidence for early-childhood, pan-developmental impairment specific to schizophreniform disorder: results from a longitudinal birth cohort
Arch.Gen.Psychiatry, 2002: (59) 449-456
pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/11982449/
„Emotional problems and interpersonal difficulties were noted in children who later fulfilled diagnostic criteria for any of the adult psychiatric outcomes assessed. However, significant impairments in neuromotor, receptive language, and cognitive development were additionally present only among children later diagnosed as having schizophreniform disorder. Developmental impairments also predicted self-reported psychotic symptoms at age 11 years. These impairments were independent of the effects of socioeconomic, obstetric, and maternal factors.“
(übersetzt von Voos: „… jedoch gab es bei den Kindern, die später eine Diagnose aus dem schizophrenen Formenkreis erhielten, deutliche Beeinträchtigungen der Neuromotorik, der Sprachwahrnehmung und der kognitiven Entwicklung.“)
Wendy Spence et al. (2006):
Rates of Childhood Trauma in a Sample of Patients with Schizophrenia as Compared with a Sample of Patients with Non-Psychotic Psychiatric Diagnoses.
Journal of Trauma & Dissociation, Volume 7, 2006 – Issue 3: Pages 7-22
doi.org/10.1300/J229v07n03_02
www.tandfonline.com/…
„Evidence that childhood exposure to trauma is more common in a population with schizophrenia is consistent with other studies and raises the possibility that such trauma is of etiological importance.“
John Read et al. (2003)
Sexual and physical abuse during childhood and adulthood as predictors of hallucinations, delusions and thought disorder.
Psychology and Psychotherapy, Vol. 76, Issue 1, March 2003: Pages 1-22
doi.org/10.1348/14760830260569210
bpspsychub.onlinelibrary.wiley.com …
Günther Lempa und Heinz Böker (1999)
Theorie und Therapie der schizophrenen Psychose aus psychoanalytischer Sicht
Psychotherapie 4. Jahrg. 1999, Bd. 4, Heft 1, CIP-Medien, München
studylibde.com/doc/2982496/….-cip
Keats CJ aand McGlashan TH (1985):
Intensive Psychotherapy of Schizophrenia
Yale J Biol Med 1985 May-Jun; 58(3): 239-254
Champagne-Lavau Maud et al. (2006):
Social Cognition Deficit in Schizophrenia: Accounting for Pragmatic Deficits in Communication Abilities?
Current Psychiatry Review, 2006: (2) 309-315
DOI: 10.2174/157340006778018184
www.eurekaselect.com/article/2434
www.researchgate.net/publication/233597010…
„Schizophrenic individuals show impairments in language affecting what is referred to as the pragmatic component of language, typically the processing of non-literal language (e.g., irony, metaphor, indirect request). Such non-literal utterances require the ability to process the speaker’s utterance beyond its literal meaning in order to allow one to grasp the speaker’s intention by reference to the contextual information. … Evidence is reviewed suggesting that cooccurrence of a deficit in non-literal language understanding and a deficit in theory of mind may be accounted for by an impairment in context processing associated with a lack of flexibility.“
Schizophrenie
Gesundheitsberichterstattung des Bundes
Herausgeber: Robert-Koch-Institut
Themenhefte, Heft 50, Mai 2010
Soteria-Netzwerk
Internationale Arbeitsgemeinschaft Soteria (IAS)
Dr. Karl Mätzler
Kinderpsychotherapeut in Salzburg
Spezialgebiet „Störungen des autistisch-psychotischen Formenkreises“:
www.maetzler.info
Forum der Psychoanalytischen Psychosentherapie
Schriftenreihe, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht
Frankfurter Psychoseprojekt e.V.
Überregionaler Verein für psychoanalytische Psychosentherapie
www.frankfurterpsychoseprojekt.de/
Peter Widmer, Michael Schmid (2007):
Psychosen: Eine Herausforderung für die Psychoanalyse
Transcript-Verlag, Bielefeld
https://doi.org/10.14361/9783839406618
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 16.1.2016.
Aktualisiert am 31.7.2025
One thought on “Wie entsteht Schizophrenie? Frühe Gewalt kann eine Rolle spielen”
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Ich mag nicht in diesen Fehler fallen, nach dem Motto: Der Schizophrene gleich dem edlen Wilden. -und noch ein Klischee und Vorurteil.
Wer so krank wird, daß sie/ er sich nicht mehr vorstehen kann, der ist froh, wenn er/ sie Unterstützung beim genesen erhält.
Es bleibt eine schwere Prüfung für ihn und seine Umgebung wie viele psychische Erkrankungen. Nur verdient dieser Mensch wie alle anderen Respekt als Gegenüber und Achtung vor ihm als Person und seinem Leben.