Das Kreuz mit den U: Elternstress ist nicht hausgemacht – Mütter auf der Flucht vor der Vorsorge

Als ich gerade meine Tochter „wegorganisiert“ hatte, um zur Supervision zu fahren, hörte ich im Autoradio eine Sendung auf WDR 5, in der es hieß, Eltern machten sich den Stress selbst („Gestresste Eltern – Elternstress ist hausgemacht“). Ich habe mich im Auto schrecklich aufgeregt. Seit ich denken kann, empfinde ich meinen persönlichen Eltern-Stress als vollkommen „System-gemacht“. Als Helikopter-Mutter treffe ich mich morgens am Bus mit anderen Helikopter-Müttern. Und auch sie beklagen sich: Der systemische Stress ist enorm.
Bereits in der Schwangerschaft hat die Mutter Stress damit, sich dem medizinischen Stress der vielen Untersuchungen zu entziehen. Kaum ist das Baby auf der Welt, muss die Mutter vor den Kinderärzten flüchten, die dem Kind die Vojta-Therapie verschreiben wollen, weil es „eine Seite bevorzugt“. Will die Mutter ihr Baby nicht sofort impfen lassen, wird sie geächtet. Verstehende Gespräche bleiben aus.
Sprachtherapie wird zur Norm
Dann muss das Kind schlafen lernen, es muss sich bis zu einem gewissen Alter drehen können, es muss pünktlich den Kopf heben können und vieles mehr. „Es muss ständig in diese Scheiss-Kurve passen.“ Und wer sagt das? Ursprünglich eher selten die Mütter – sie versuchen vielmehr, sich gegenseitig zu beruhigen. „Das wird schon“ ist ein Satz, nach dem sich die Mütter sehnen. Doch die nächsten Checklisten stehen schon an. Sagt das Kind mit fünf Jahren noch „Pinzessin“ und „Schüssel“ statt „Prinzessin“ und „Schlüssel“, kann man mit einer Sprachtherapie rechnen. Wenn’s nicht der Kinderarzt vorschlägt, dann mit Sicherheit die Erzieherin. Was schließlich das „Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ)“ sagt, löst mitunter ganze Ehekrisen aus.
Immer früher
Die Einschulung naht. Hier werden dem Kind Übungen abverlangt, die oft sogar einem Erwachsenen schwerfallen. Die Kinder werden früher eingeschult als früher und Zahnspangen kommen schon bald nach dem Zahnwechsel in den Mund. Angeblich gibt es kaum noch Hausaufgaben. Doch als „Lernzeit“ verkappt kommen sie daher – und nur das Kind gewinnt, dessen Eltern sich nachmittags mit ihm hinsetzen und die Hausaufgaben machen. Wo bleibt die Entfaltung? Meiner Erfahrung nach empfinden viele Eltern so: Sie sind zunächst entspannt und dann kommt ein Lehrer, ein Erzieher oder ein Kinderarzt daher und die Entspannung ist hin.
Tränen bei der U: „Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt bringen mich immer zum Weinen“
„Wer hat die Krone auf? … Aus welchem Material besteht der Tisch? … Male ein Männchen.“ Typische Sätze aus Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt (Stand 2010). „Niemand hat hier die Krone auf“, antwortet das kesse Kind. „Aus Holz“, sagt die Kleine – puh, zum Glück kennt sie das Wort „Material“. „Ihr Kind malt das Männchen noch mit acht Fingern an einer Hand“, sagt der Kinderarzt. Die Mutter lässt den Kopf hängen. „Wie wird hier eigentlich mein Kind vermessen?“, denkt sie. Normtabellen überall. Doch werden sie dem Kind gerecht? Der Kinderarzt kennt das untersuchte Kind doch fast gar nicht. Nur Mutter und Vater wissen, wieviel es spricht, wie schnell es laufen kann, wie gut es sich zu helfen weiß. Die Fragen und Vermessungen beim Kinderarzt erscheinen manchmal wie eine Farce.
Eine Bekannte ist selbst Ärztin und Mutter dreier Kinder. Das Jüngste wurde zu einer Zeit geboren, als die „U 7a“ eingeführt wurde. „Mein Kind ist gesund“, dachte sich die Mutter – und vergaß die U 7a. Prompt flatterte ihr ein Brief vom Jugendamt ins Haus, mit der Aufforderung, doch zur „U“ zu gehen. Die U1-U9 waren nämlich zu dieser Zeit in vielen Bundesländern Pflicht.
Kontrolliert und schikaniert kommen sich da so manche Eltern vor. „Aber es gibt doch so viele Familien, in denen Kinder misshandelt werden – die wollen wir unbedingt erfassen“, heißt es dann. Einerseits: gut so. Andererseits ist es, als stünden die Eltern unter Generalverdacht. Doch viele problematische Familien erreicht man so gerade nicht – im Gegenteil: Der Druck auf die Familien wird erhöht, was zu mehr Gewalt und Verstecken führen kann.
Je größer die Kontrolle, desto besser die Tarnung
Der „Kontrollcharakter“, den die „U“ haben, setzt gerade Problemfamilien unter ungeheuren Druck und bietet Stoff für viele Konflikte. Eltern, die Probleme haben, die ihre Kinder misshandeln, suchen zu gegebener Zeit nach Hilfe. Aber sie fühlen sich verschreckt von kontrollierenden und moralisierenden Helfern. Die stärkere äußere Kontrolle und der strengere Blick bewirken, dass die betroffenen Familien versuchen, sich besser zu tarnen. Die Scham wird größer und hält die Eltern davon ab, Hilfe zu suchen. Das Kind wird gut instruiert und wirkt in der „U“ unter Umständen relativ unauffällig.
Der gute Wille, misshandelte und verwahrloste Kinder herauszufischen, schlägt manchmal in eine aggressive Suche um. Das spüren auch die „Problemfamilien“.
Die „guten Famiien“ fühlen sich entwertet. So ist niemandem geholfen. Hilfe wird nur suchen, wer dazu ermuntert und eingeladen wird. Doch wenn das „Hilfsangebot“ den Eindruck macht, die „Schuldigen“ zu verfolgen und ihnen auf die Pelle zu rücken, geht der Schuss nach hinten los.
Die Eltern merken, dass da was nicht stimmt
„Das Lippenbändchen ist zu dick,“ sagt der Kinderarzt. „Das Kind bevorzugt eine Seite,“ sagt die Kinderärztin. Na und? Der Junge mit dem dicken Lippenbändchen lächelt und sieht entzückend aus mit seinen neuen Milchzähnchen, die etwas weiter auseinanderstehen. Das Kind, das eine Seite bevorzugt, bevorzugt, bleibt vielleicht dabei und lernt Geige. Wer von uns Erwachsenen hat nicht sein Standbein und seine Lieblingsseite? Manchmal können diese Dinge zum Problem werden. Doch in den meisten Fällen ist es eben kein „Problem“.
„Nächste Woche müssen wir wieder zur „U“. Ich könnt‘ kotzen“, sagt eine Bekannte von mir.
Gestandene Akademikerinnen bekommen einen Herzkasper, wenn sie zur „U“ müssen. Das kann nicht richtig sein. Was alle Eltern und Kinder sich wünschen, ist Anerkennung und Wertschätzung. Schließlich tun Eltern alles erdenklich Mögliche für ihre Kinder, weil sie sie lieben. In der „U“ bekommen sie jedoch allzu oft das Gefühl, versagt zu haben oder zumindest, ein defizitäres Kind zu haben.
Das Übergewicht eines Kindes wird mit einem roten Ausrufezeichen ins U-Heft eingetragen. Doch der Arzt fragt im Alltagsstress nicht nach den Umständen, erfährt nicht, dass der Vater die Familie verlassen hat, sieht nicht die magere Mutter und fragt nicht danach, was Mutter und Kind sich wünschen würden oder was ihnen gut täte. Viele Kinderärzte sind oft selbst im System gefangen und unglücklich darüber. Wie Eltern die Vorsorgeuntersuchungen empfinden, hängt übrigens auch davon ab, wie schwer sie selbst als Kinder durch medizinische Behandlungen traumatisiert wurden.
Auch das Kind fühlt sich ab einem gewissen Alter „vermessen“ und spürt die besorgten Blicke, wenn es nicht so ist, wie die Normtabellen sagen. Viele Kinderärzte erkennen das Dilemma und weisen auf die große Bandbreite der Entwicklungsschritte hin. Das mit der „U“ ist ja an sich eine gute Sache. Jetzt müssten nur noch Zwang, Enge und Kontrolle subtrahiert werden, damit sie zu dem werden kann, was sie sein will: eine Einladung, ein Hilfsangebot und eine Hoffnung für Eltern und Kinder.
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Dunja Voos:
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Dieser Beitrag wurde erstmals verfasst am 25.1.2015
Aktualisiert am 18.12.2025