Ultralangsames Yoga tut gut bei Frühtraumatisierung

Manchmal fangen wir hochmotiviert mit Yoga an und geben dann wieder auf. Dabei tritt die gute Wirkung oft erst nach einer längeren Zeit ein. Der Gründer des „Somatic Experiencing“, Peter Levine, sagt so treffend: „Die Fähigkeit des Körpergewahrseins muss sich langsam entwickeln. Wir können den Körper nur ganz allmählich erfahren“ (www.somatic-experiencing.de/…).
Die neuen Körpererfahrungen können in uns ein Wohlgefühl erwachen lassen und dahin wollen wir kommen. Dazu ist es wichtig, dass wir möglichst keinen „inneren Schweinehund“ überwinden müssen. Wie kann das gehen? Oft fängt die erste Yoga-Übung damit an, dass man sich hinstellt, die Arme beim Einatmen nach oben führt und beim Ausatmen nach unten. „Das ist mir schon zu viel“, sagen wir vielleicht, wenn wir an Gelenkschmerzen leiden oder mit unangenehmen psychischen Zuständen kämpfen.
„Mir tun die Schultern zu weh“, sagen wir, oder: „Mir wird’s schlecht, ich fühle mich beengt.“ Das Engegefühl korreliert vielleicht mit der Weite, die wir suchen – oder umgekehrt: Wir suchen und fürchten die Weite, wenn es uns einst viel zu eng war. Wenn wir anfangen wollen, um dran zu bleiben, müssen wir ganz klein anfangen: Wichtig sind schon die Vorbereitungen.
- Wir müssen die Uhrzeit herausfinden, zu der wir uns am meisten belasten können.
- Der Raum sollte warm und die Luft frisch genug sein, damit wir uns wohl fühlen.
- Wir brauchen eine rutschfeste Yogamatte, vielleicht sogar eine große, damit wir uns auch bequem hinlegen können, ohne uns einzuengen.
- Wenn wir barfuß sind, kann sich bei Fußübungen ein größeres Wohlgefühl einstellen als in Socken. Wir können eine Wärmflasche und eine Decke auf den Boden legen und uns damit die Zehen bedecken.
- Wenn wir alleine sind und uns in der Stille allzu verloren fühlen, können wir im Nebenraum leise Radio oder Fernsehen laufen lassen. Es kann sogar helfen, die Waschmaschine anzumachen.
- Wenn wir das Fenster leicht geöffnet halten, haben wir mehr Verbindung zur Umwelt und fühlen uns weniger einsam. Gleichzeitig hilft die kühlere frische Luft bei Gefühlen des Eingeengtseins.
- Auch, wenn oft empfohlen wird, Yoga nüchtern zu machen: Du darfst ruhig schon gefrühstückt haben, sodass Du kein Mangelgefühl hast. Das kann Dir dabei helfen, morgen wieder auf die Matte zu gehen.
- Nimm Dir keine zu lange Zeitspanne vor – anfangs reichen wenige Minuten. Das Ziel ist das ausreichend gute Gefühl, sodass Du am nächsten Morgen Lust hast, wieder auf die Matte zu gehen.
Meditation in Stille „ohne irgendwas“ kann für Frühtraumatisierte eine Überforderung sein. Daher ist es gut, im Stehen und in Bewegung zu meditieren. Du kannst anfangen, indem Du Dich einfach hinstellst und mit Deiner Aufmerksamkeit den Körper durchwanderst. Das muss nicht geordnet sein – schau einfach, was dran ist.
Dein Gewicht zu spüren, kann zu Wohlbefinden führen
Oft tun Übungen gut, bei denen Du Dein eigenes Gewicht spürst und leichte, gespannte Dehnungen durchführst. Dazu kann es reichen, Deine Arme neben dem Körper hängenzulassen, Deine Finger langsam zu spreizen und sie dann zu einer Kralle zu krallen. Du kannst auch spüren, wie Du auf Deinen Füßen stehst und dann das Gewicht etwas nach vorne verlagerst, um das Gewicht Deines Körpers zu spüren. Oder Du kippst Deine Füße ganz leicht Richtung Außenkanten und spürst dort Dein Gewicht.
Fußübungen können leicht schwierig werden, wenn Du z.B. an Gicht, an Fersensporn oder an einer Großzehengelenksarthrose leidest. Berechne all das mit ein und nimm Rücksicht darauf.
Die dänische Körperpsychotherapeutin Merete Holm Brantbjerg spricht über solche wohltuenden Mini-Bewegungen in ihrem Video „Supporting Sustainable Change“, also „Nachhaltige Veränderung unterstützen“ (Youtube). Sie geht da besonders auf das Problem der „Hypotonie“, also der „Unter-Spannung“ bestimmter Muskelpartien in angespannten Zuständen ein.
Im Yogaunterricht kannst Du auch bemerken, ob Du Dich schämst oder nicht und wann Du Dich schämst. Wir schämen uns oft dann sozusagen natürlicherweise, wenn etwas, was in unserem Innersten ist, nach außen kommt. Vielleicht schämst Du Dich, wenn Du Deine Stimme zeigen sollst, also wenn Du z.B. beim Ausatmen summen oder auf eine andere Art tönen sollst. Vielleicht sind Dir auch Berührungen oder Atemgeräusche der anderen während der Yogastunde peinlich. Achte auch auf diese Gefühle.
Beim extrem langsamen Yoga kannst Du die Bewegungen, die Du im Yoga lernst, anwenden – nur, dass Du sie eben ganz langsam machst. Für die Übung „Bei Einatmung Arme nach oben, bei Ausatmung Arme nach unten“ kannst Du da schon mal eine ganze Weile brauchen. Schau, wo der Schmerz anfängt und verharre einen Augenblick genau an der Stelle, an der es noch nicht weh tut und gerade anfängt, weh zu tun. Das „gerade noch schmerzlose“ Gefühl ist wichtig, damit sich dieses Gefühl bei Dir einprägt und Du am nächsten Morgen Lust hast, weiterzumachen. „Healing takes place on the mat“, heißt es – „Die Heilung findet auf der Matte statt.“

Beim extrem langsamen Yoga machst Du quasi permanent einen „Body-Scan“ – Du gehst also in Gedanken langsam Deinen Körper durch. „Check the pot“, also „Überprüfe Dein Gefäß“, sagte der Yogalehrer Desikachar dazu (Freud und Yoga, amazon). Rechne auch mit dem Unangenehmen.
Auf X.com schrieb eine Twitterin einmal sinngemäß: „Als ich aufgefordert wurde, meinem Atem gedanklich zu folgen, wollte ich nur noch weg. Nichts hätte mich mehr triggern können.“ Stelle solche Dinge fest und versuche, ehrlich zu Dir zu sein. Vielleicht macht dich das Ganze ja auch ganz unwirsch. Vielleicht fühlst Du Dich mit Deiner starken Reaktion einsam, weil kein anderer von so etwas spricht. Mache Deine Erfahrungen zum Forschungsgegenstand.
Durch dieses sehr langsame Yoga stellst Du vielleicht irgendwann fest, dass irgendwo eine Flexibilität entstanden ist, die vorher nicht da war. Oder aber, Du merkst, dass manche Dinge nicht besser werden und dass Du Deinem Körper auch beim Altern zuschauen kannst. In Zeiten, in denen es Dir wieder besser geht, vergiss auch nicht, Deinen Körper als Ganzes wieder zu aktivieren. Beginne (wieder) mit Spazierengehen, Laufen, Schwimmen oder Klettern, um das Gesamtsystem in Bewegung zu bringen. So können sich auch „Einzelteile“ wie Zehen- oder Fingerschmerzen wieder verbessern, auch, wenn Du nicht gezielt mit der schmerzenden Stelle arbeitest. Das langsame Yoga kann ein guter erster Schritt sein – und wenn Du langsam für Dich Dein eigenes System entwickelst, wirst Du auch spüren, wie sich ein gute Wirkung über die Zeit entfaltet.
Ähnlich wie beim Sport, wenn wir nach den ersten Momenten irgendwann das Gefühl haben, endlich „angesprungen“ zu sein, merken wir bei ausdauernder Meditation oder fast täglichem Yoga, wie etwas in uns anspringt – eine Art Energie stellt sich uns dann zur Verfügung, die wir immer zuverlässiger für uns gewinnen können. Das Üben erscheint kurzfristig manchmal unzumutbar – doch das Gefühl auf lange Sicht hilft auch beim Altern. Du kannst Dich selbst in allem dann immer besser begleiten.
wer frühtraumatisiert ist, leidet oft an vielen beschwerden. normales yoga in der gruppe und manchmal sogar im einzelunterricht können dir vielleicht nicht gerecht werden, wenn du schon körperlich-psychisch schwer verletzt wurdest, bevor du sprechen konntest (z.B. operationen, vojta-therapie, sexueller missbrauch). mitunter geht es dir dann nach dem yogaunterricht vielleicht schlechter als vorher. ich habe herausgefunden, dass ein ultralangsames yoga wirkliche veränderung bringen kann. yoga heisst „verbindung“. es geht also darum, dich mit dir selbst zu verbinden – deine füsse (in gedanken) mit dem kopf, deine atmung mit der bewegung, deine körperhaltungen mit psychischen zuständen.
es ist eine beobachtende meditationsarbeit. ähnlich wie sich durch emdr oder brain spotting psychische zustände festmachen lassen und verändern können, so funktioniert dies möglicherweise auch mit einzelnen körperhaltungen und langsamen körperbewegungen (siehe auch somatic experiencing von peter levine).
so kannst du anfangen: stelle dich auf eine yogamatte, einen weichen teppich oder auch barfuss auf den steinboden. stelle dir vielleicht japanische mönche vor, die im stehen meditieren. gehe dann vor wie bei der freien assoziation in der psychoanalyse – folge deinen inneren bewegungen. beginne mit der aufmerksamkeit auf jedes beliebige körperteil – welches dir immer grad vordergründig in den sinn kommt.
- schaue, wie sich deine ausgewählte körperregion anfühlt und beobachte. was will dein körper jetzt tun, haben oder nicht tun? vielleicht brauchst du noch mal einen schluck wasser oder du möchtest ein fenster kippen. richte es dir ein, wie du es brauchst.
- lässt du vielleicht etwas spannung aus den oberschenkeln raus, sodass sie sich leicht nach innen drehen? möchtest du gewicht auf deine vorderfüße geben, um das gewicht deines körpers zu spüren? was macht die atmung in deinem bauch?
- knicke vielleicht die knie etwas ein und komme langsam immer etwas tiefer richtung hocke, aber nur angedeutet. verweile, wenn du dich in einer bestimmten position wohlfühlst.
- du kannst auch deinen kopf drehen, oder deine schultern sehr langsam heben. ab wann tut dir etwas weh? verweile an der grenze.
- bei komplexeren bewegungen wie z.b. dreh- und beugebewegungen des oberkörpers wird es dir vielleicht etwas schlecht. gehe dann wieder langsam zurück. spüre, wie es dir in den einzelnen körperhaltungen geht. vielleicht stellst du ein für dich eigentümliches gefühl fest, was du nicht benennen kannst, aber was du von bestimmten wetterlagen oder tageszeiten her kennst?
auch einzelne, spezielle gelenkbeschwerden können sich durch die ganzkörperbewegungen bessern. wenn eine minibewegung nur etwas linderung bringt, kann sich das dein körper merken. du nimmst dann unbewusst vielleicht öfter wieder diese etwas schmerzfreiere haltung ein – auch, wenn es sich nur um veränderungen gefühlt im millimeterbereich handelt.
- du kannst dich an den normalen yoga-asanas orientieren – nur, dass du sie eben sehr langsam machst oder gar nur andeutest. spüre zum beispiel,, ob du vielleicht eine darmbewegung wahrnimmst, wenn du den rechten arm hebst. gehe sehr langsam vor.
- führe diese übungen nur 10-20 minuten lang durch.
- gehe der bewegung nach, die dein körper machen will. du kannst so vorgehen im stehen oder sitzen, im knien, im schneidersitz, in der hocke, im vierfüßlerstand oder im liegen.
- du kannst auch eine decke unter deine fersen rollen und dich dann so hinhocken, dass dein gewicht auf den ganzen füßen liegt (tiefe hocke mit unterstützung unter den fersen). wenn es bequem ist, bleibe eine weile so sitzen. in dieser position lässt sich auch gut singen – die stimme kann sich entfalten,
- beobachte auch deinen kopf, deinen kiefer, deine zunge, deine zahnberührungen und die luft, die durch deine nase strömt.
- kombiniere das ultralangsame yoga mit einer ganzkörperaktivierung, das heisst, gehe irgendwann am tag spazieren oder schwimmen. die kombination aus sanften bewegungen und ganzkörpertraining verhilft dir auf dauer zu einem stabileren vegetativen und ganzkörpersystem. viel spaß beim ausprobieren!
verwandte artikel in diesem blog:
- warum hilft mir yoga nicht?
- CFS: Yoga kann helfen
- zu müde zum sport? erst erholen, dann bewegen: post exertional malaise (pem)
- Lerne deinen Körper langsam kennen
links:
Chungda Lee (2018):
How can mindfulness-led breathing of qigong/Tai Chi work on qi and the meridian network?
Advances in Integrative Medicine, Volume 5, Issue 3, December 2018, Pages 122-127
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S2212958818300442
„Although a growing body of clinical research suggests that a series of postures with slow and graceful movements of qigong are beneficial to various pathological conditions, the mechanical stimuli and corresponding biological mechanisms remain unclear. This article integrates the modalities of qigong with modern theories of lymphatic biology and mechanobiology to put forth the efficacy of qigong.“
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 25.11.2023
Aktualisiert am 26.8.2025
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