Es geschieht mir – ein Ringen mit der Akzeptanz

Wir wollen alles im Griff haben, selbstbewusst sein, unseren Mann stehen. Und doch geschieht uns immer irgendetwas. Dinge, die wir so gar nicht wollen: Neue Kosten kommen auf uns zu, wir werden verlassen, wir bekommen ein riesiges Haus vor unser eigenes Fenster gesetzt, die Klassenlehrerin wechselt, die Diagnose ist schrecklich. Mit uns wird etwas „gemacht“. Oder aber – manchmal am Schlimmsten – wir haben selbst unwillentlich etwas getan, das uns in Schuld und Unglück stürtzte. Wir waren unseren eigenen Grenzen ausgeliefert.

Wir können oft nichts tun. Wir wurden geboren und sterben irgendwann. Wir leiden oft an unserem Sein. Und ich merke: Es geschieht mir. Ich werde still und lege die Hände in den Schoß. Doch ich kann nicht so bleiben – ich bin in Panik, springe auf und werde aktiv.

An anderen Tagen gelingt es mir besser: Ich werde gegenüber den grösseren Kräften im Leben demütig und untergebe mich (Englisch: I surrender). Manchmal, wenn etwas sehr viel grösser ist als wir es selbst sind, dann kommt das Gefühl von „Alles egal“. Wir fühlen uns überwältigt. Ich versuche, wahrzunehmen. Ich akzeptiere das Nicht-Akzeptierbare. Und vielleicht passiert etwas Unerwartetes: Ein neuer Mensch tritt in unser Leben. Wir sehen eine Lösung.

Wir brauchen Halt, um geschehen lassen zu können

Wenn wir uns mehr vom Leben und von unserem Unbewussten überraschen lassen, dann können wir das Staunen wieder lernen. Doch das funktioniert leider oft nicht, wenn wir schwer traumatisiert sind und zum Beispiel eine schwere Angststörung haben. Das Ertragen des Nicht-Gewollten funktioniert nur, wenn wir uns gehalten fühlen. Viele sagen, sie fühlten sich von Gott gehalten. Voraussetzung für dieses Gefühl von Gehalten- und Getragenwerden ist jedoch oft, dass wir mindestens eine gute Beziehung erlebten, die uns trug und hielt. Wir brauchen – psychoanalytisch gesprochen – mindestens ein „gutes Objekt“ in uns (z.B. die Oma, die Lehrerin, die Natur oder „Gott“). Oder aber, wir brauchen die ungeheure Kraft, eine gute Beziehung zu uns selbst aufzubauen. Wir können uns selbst ein Halt sein.

Wenn wir immer nur reflexartig handeln und kämpfen, dann sind wir wie ein ungeschickter Schmied, der sich weigert, das Eisen so heiß werden zu lassen, dass es formbar wird.

Gehalten in sich selbst

Durch neue Beziehungserfahrungen innen und aussen können wir uns in uns selbst sicherer fühlen. Durch Yoga und Muskeltraining kann ein Gefühl des Gehaltenwerdens in dir selbst entstehen. Dieses Sicherheitsgefühl macht es sehr viel leichter, ein „Es geschieht mir“ zuzulassen. Das Erleben der Hingabe kann tiefe Freude hervorrufen. Wenn du dich vor dir selbst fürchtest, bist du nur allzu menschlich. Versuche, das Unangenehme zu verstehen.

„Es ist um uns geschehen.“

Ein Abenteuer

Das Geschehenlassen kann ein Abenteuer sein. Wir brauchen dazu Vertrauen – gerade auch dann, wenn wir das, was wir erleben, als vollkommen „sinnlos“ erleben. Wer sein Kind verliert, der will nicht einfach „geschehen lassen“. Wer jung ist und Gewalt erlebt oder an Krebs erkrankt, der will kämpfen. Und doch lassen sich Kämpfen und Geschehenlassen vielleicht miteinander verbinden, indem wir die beiden Tendenzen abwechselnd nutzen. Durch das Geschehenlassen können wir verstehen, was da passiert. Wir können es wahrnehmen, beobachten und bedenken. Und daraus können wir vielleicht die Schritte entwickeln, die wir für unseren Kampf brauchen. Wir können dann unsere Kräfte sinnvoller einsetzen.

„Manchmal müssen wir eben die Dinge den Bach runtergehen lassen.“ Pema Chödrön: Wenn alles zerbricht.

Oft schicken wir Gedanken des „Sich-Unterwerfens“, des „Akzeptierens“ oder der „Demut“ von vornherein von uns weg. An manchen Tagen aber können wir damit einmal experimentieren und vielleicht feststellen, dass das Leben uns wie auf einem Fließband einfach weiterbefördert. Das kann Angst machen und den Wunsch hervorrufen, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Auch das können wir vielleicht beobachten. Während wir geschehen lassen, können wir darüber nachdenken, was zu tun ist, was zu beenden ist oder wo wir einfach „mitmachen“ und uns treiben lassen können.

Es aushalten, beunruhigt zu sein

Wenn wir beunruhigt sind, wackeln unsere Säulen – Säulen, die wir uns mühevoll über Jahre aufgebaut haben. Die Säulen der Überzeugung können durch wenige Worte oder auch nur Gesten brüchig werden. Der Blutdruck ist plötzlich zu hoch, die Krebsvorsorge liefert zweifelhafte Befunde, der Partner ist schon zwei Stunden länger weg als sonst. Ein Krieg droht, ein fremder Nachbar ist eingezogen, das Kind meldet sich nicht, die anderen werfen einem etwas vor, dem beunruhigenden Anruf kann erst am Montag nachgegangen werden, das Geld wurde nicht überwiesen, der Mensch, der unser Vorbild war, verhält sich unverständlich, die Erde ist nicht länger eine Scheibe.

Die Erschütterung geht ins Mark. Beunruhigung ist wie ein Erdbeben. Wir können nicht mehr schlafen. Man ist ständig damit beschäftigt, es gedanklich so zu drehen, dass es doch wieder passt. Es ist wie mit Schrödingers Katze: Ich weiß nicht, was in der Box ist. Ich weiß auch nicht, was gerade mit dem Menschen ist, zu dem der Kontakt abgebrochen ist. Schokolade soll beruhigen, doch nur für einen Moment. Freunde reden auf einen ein, aber nichts hilft.

Beunruhigung ist auch ein körperlicher Prozess

Manche Beunruhigungen lösen sich schnell auf, mit anderen leben wir ein Leben lang: Was kommt nach dem Tod? Wie kommt das Ich ins Ich? Was ist die Seele? Werde ich dieses oder jenes jemals schaffen? Wer sich in einer sicheren Beziehung befindet, der kommt mit den Unsicherheiten des Lebens oft besser klar. Doch oft sind wir mit uns alleine. Manchmal schlägt die Unsicherheit direkt aufs Herz, auf den Bauch, den Rücken oder Magen.

Beunruhigung ist Ungewissheit. So vieles können wir nicht wissen. Doch manchmal gelingt es uns wie einem kleinen Kind, das Sand-Eimerchen zu nehmen, an den Rand des Meeres zu wandern, sich von der Sonne bescheinen zu lassen und gedankenversunken zu buddeln. Und dann beruhigt „es“ sich wieder und du merkst: Ich kann damit leben, mit der Beunruhigung. Sie kommt und geht wie Ebbe und Flut. Manche Menschen sagen, dass sie im Alter immer ruhiger werden. Das ist sehr beruhigend.

Sich in gesunder Weise untergeben können – und Wache halten

„Die Frau ist unter der Geburt“, „Er liegt im sterben“, hören wir. Die Kräfte der Natur sind gewaltig. Doch wovon hängt es ab, ob wir uns einem Schicksal ergeben oder kämpfen müssen? Ob wir trauern, schlafen und vertrauen können oder ob wir uns im Misstrauen sicherer fühlen? „Regression“ kann vieles heißen: eine kindliche Position einnehmen, sich versorgen lassen, sich öffnen, träumen, sich die eigene Bedürftigkeit erlauben.

Abends, wenn wir schlafen gehen, regredieren wir: Wir nehmen vielleicht eine Embryonalhaltung ein und der Schlaf „überkommt“ uns. Wir schlafen ein, wenn wir uns nicht mehr wehren müssen. Sobald wir regredieren können, ohne uns im Kampf festzubeißen, fühlen wir uns erwachsener. Wir werden leichter von anderen Menschen angenommen. Und uns geschieht mehr Gutes.

Manche Menschen sagen noch: „Mir hat geträumt“ – damit bringen sie zum Ausdruck, dass auch der Traum etwas ist, das sozusagen „über uns“ kommt. Einschlafen und Schlafen ist oft eine der schwierigsten Situationen überhaupt. Im Krieg kann es sogar unklug sein. Wachsam sein ist dann die bessere Variante.

Wir wollen die Kontrolle über unser Leben haben und wollen nicht „aus Versehen“ leben, während uns Schreckliches passiert. Wir wollen das im Blick haben. Und fühlen uns doch dem Leben ausgeliefert. Vielleicht reicht es, wenn wir sagen können: Heute will ich leben – auch, wenn es nur 51% sind und auch, wenn ich nur wenig verstehe. Das Leben leitet mich.

Alles fängt damit an, dass wir uns im besten Fall „in Mutters Schoß“ geborgen fühlen. Diese frühe Erfahrung wird Teil unseres Körper- und Lebensgefühls. Nichts ist schlimmer, als dass Mutter oder Vater, die uns eigentlich beschützen sollen, zu Angreifern werden. Diese Situation psychisch zu bewerkstelligen, ist fast unmöglich. Wir versuchen, wenigstens das bisschen Gute, das Verständliche und Erklärbare hinter der wütenden Fassade zu ergründen. Wir wollen uns einen Reim machen, wir wollen verstehen. Aber das funktioniert oft nicht. Und so bleibt das Gefühl der Gefahr: Man muss vorsichtig bleiben.

„Wehre Dich! Halte Abstand! Bleib Du selbst und gib Dich keinesfalls hin!“ Dieses Gefühl des „Ganz-Ich-Seins“ gibt Sicherheit.

Verwandte Beiträge in diesem Blog:

Links:

Emmanuel Ghent, M.D. (1990):
Masochism, Submission, Surrender – Masochism as a Perversion of Surrender
Contemporary Psychoanalysis 26, 1990: 108-136
doi.org/10.1080/00107530.1990.10746643
psycnet.apa.org/record/1990-15256-001

Dieser Beitrag wurde erstmals verfasst am 8.8.2020
Aktualisiert am 18.12.2025

3 thoughts on “Es geschieht mir – ein Ringen mit der Akzeptanz

  1. Dr. med. Andreas Kalwa sagt:

    Guten Tag Frau Voos, vielen Dank für diesen wunderbaren, stärkenden und berührenden Artikel. Ich lese Ihren Blog seit Jahren mit großem Interesse und Gewinn für mich persönlich und für meine Arbeit. Ich bin Anästhesist und habe aktuell kurz vor meiner Facharztprüfung im Fachbereich Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im kommenden September vor 2 Monaten die Diagnose eines M. Hodgkin (zum Glück im Unglück Grad I-II) erhalten.
    Ich weiß und vor allem fühle jetzt, wie viele meiner bisherigen Patienten durchmachen mussten und welche Ängste diese und nun ich auch, wechselnd mit Wut, vielen vielen Fragen, Hoffnungen, Befürchtungen und vielerlei mehr mit sich tragen und wir alle auf uns zurück geworfen werden in unseren jeweiligen Leben, positive, empathische, liebevolle Menschen suchen, die uns begleiten.
    Nochmals vielen vielen Dank für Ihren sehr positiv stimmenden Artikel.
    Beste Grüße aus Bad Mergentheim, A. Kalwa

  2. Dunja Voos sagt:

    Das freut mich, liebe Melande! Alle guten Wünsche!
    Dunja Voos

  3. Melande sagt:

    WUNDERBAR!!!

    DANKE!!!

    Melande

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