Depression ist keine Krankheit – eine andere Sicht auf einen oft quälenden Zustand

„Wissen Sie, Frau Doktor, es ist wegen dieser Krankheit“, sagt die Patientin. Ich denke: „Oha! Leukämie, Magenkrebs, Brustkrebs?“, und frage: „Welche Krankheit meinen Sie?“ – „Na, die Depression!“ Seit Anbeginn meiner Beschäftigung mit psychischen „Erkrankungen und Störungen“ habe ich Schwierigkeiten damit, die Depression als Krankheit zu sehen. Wir können krank sein, wenn wir eine Gallenkolik haben oder mit 40 Grad Fieber im Bett liegen. Natürlich kommt es auch bei Depressionen vor, dass wir vielleicht nur mit größter Mühe unser Bett verlassen können – oder dass wir unruhig alles erledigen können, uns aber tödlich gequält fühlen. Und doch finde ich den Begriff „Krankheit“ fehl am Platz, auch, wenn ich keine schlaue Alternative nennen kann.
Ich denke an die Videos aus der Babyforschung, wo Mütter im Experiment aufgefordert werden, ihren Babys nicht zurückzulächeln („Still-Face-Experimente“). Es ist phänomenal, wie in wenigen Augenblicken die Babys einen depressiven Gesichtsausdruck bekommen. Leicht kann man sich vorstellen, wie depressiv die Babys werden, wenn die Mutter so sehr in Problemen steckt, dass sie dauerhaft in ihrer Mimik eingeschränkt ist. Eine Depression ist die logische Konsequenz auf das Erlebte. In der Literatur werden immer wieder Depressionen beschrieben: lange Phasen der Hoffnungslosigkeit, der Resignation, der Erschöpfung und Kraftlosigkeit können das Leben eines Menschen bestimmen. Wer Mensch ist, wer fühlt und sich nicht dem Leben verschließt, durchlebt mitunter auch depressive Phasen, die vielleicht sogar sehr lange dauern und von tiefer Einsamkeit geprägt sind.
Und was ist mit dem Stoffwechsel?
Viele Psychiater werden nicht müde, ihren Patienten zu erklären, dass bei einer Depression der Hirnstoffwechsel verändert sei und sie daher besser Medikamente für den Hirnstoffwechsel nehmen sollten. So sehr viele Patienten von den Medikamenten profitieren, so sehr bekommen jedoch auch viele das Gefühl, dass sie der Depression einfach ausgeliefert sind. Psychiater, die sich sehr engagieren und auch wirkungsvoll arbeiten, tun dies oft aus einer inneren Intuition heraus – systematisch gelernt haben sie es in ihrer Ausbildung oft nicht. Im Gegensatz zu einer körperlichen Erkrankung, die oft „starr“ ist und eigene Gesetze hat (wozu z.B. der unaufhaltsame Zerfall durch einen malignen Tumor gehören kann), so bleibt die Depression meiner Erfahrung nach beeinflussbar – und zwar durch Beziehung.
Erleichterung von jetzt auf gleich möglich
Auch ich weiß, wie es ist, depressiv zu sein. Ich kann mich jedoch auf hilfreiche Erfahrungen beziehen: Ich habe die Erfahrung gemacht, wie rasch sich die Depression lichten kann. Durch eine Deutung, eine Erlaubnis, einen Pespektivwechsel oder durch das Verstandenwerden in der Psychoanalyse kann die Lebensenergie sozusagen von jetzt auf gleich zurückkommen. Es muss oft eben „nur“ ein anderer Mensch da sein, der diese Erfahrung möglich macht. Fehlt dieser bedeutsame andere, steckt man oft fest. Die Psychoanalyse macht mir immer wieder deutlich, wie sehr sich eine Depression „körperlich“ und „unbeeinflussbar“ anfühlen kann, doch wie relativ rasch sie einem neuen Lebensgefühl weichen kann, wenn es eine nahe Beziehung gibt, in der man sich wirklich verstanden fühlt.
Natürlich kann es auch lange Phasen der Depression geben, in denen sich nichts zu verändern scheint. Leider werden in unserem Gesundheitssystem die Psychiater oft nicht gut ausgebildet, was das emotionale Verstehen der Psyche anbelangt. Der Schwerpunkt liegt meistens auf der medikamentösen Therapie. Rasch entsteht aufgrund der relativ oberflächlichen psychologischen Ausbildung das Gefühl der Hilflosigkeit, wenn ein Patient sich suizidal zeigt oder sehr leidet. Der Psychiater hat kaum Zeit, eine tiefere Beziehung zu seinem Patienten einzugehen, sodass weder Patient noch Psychiater die Erfahrung machen können, was durch eine tiefere Beziehung wirklich möglich wäre. Es ist wichtig, dass der Therapeut auch an sich selbst als wirksames Medium glauben kann.
Aus meiner Sicht ist eine Depression die logische Folge auf katastrophale, traumatische, vernachlässigende Beziehungserfahrungen. Das Gegenmittel liegt jedoch darin, dem Betroffenen mithilfe von emotionaler Beziehung neue Erfahrungen zu ermöglichen.
Der schwer Leidende
Interessanterweise sträube ich mich zwar gegen den Begriff „Krankheit“, nenne aber die von Depression Betroffenen doch „Patienten“, weil ich eben das schwere Leiden sehe und weiß, wieviel Geduld (lateinisch: Patientia) die Betroffenen brauchen. Ich würde den schwer Leidenden, der mich zu einer Therapie aufsucht, nicht „Klient“ nennen, weil es ihm einfach zu schlecht geht. Er ist eben kein „Kunde“ an der Kasse, sondern er ist geschwächt und sucht Hilfe. Ich sehe jedoch auch: Für viele Patienten ist es enorm hilfreich, ihre Depression als Krankheit anzuerkennen. Es entlastet sie, es nimmt Schuldgefühle und macht es möglich, an diesem Zustand zu arbeiten. Der Begriff „Krankheit“ liefert ihnen Halt und eine Erklärung für das vorher nicht Erklärbare.
Natürlich sehe ich auch, dass eine schwere Depression, die vielleicht immer von schwerster Einsamkeit begleitet ist, schließlich zum Suizid führen kann. „Wenn das keine Krankheit ist?!“, höre ich dann manchmal. Und dennoch: Es ist aus meiner Sicht ein schweres Schicksal, ein Lebensverlauf nach schweren Traumata, ein Drama, eine Tragödie, ein Versagen von Gesellschaft und Therapien, eine hilflose Situation, eine Hoffnungslosigkeit. Es ist etwas, das mich seelisch zutiefst berührt. Ich möchte es lieber namenlos lassen, als es „Krankheit“ nennen.
Erst nach Veröffentlichung dieses Beitrags machte mich ein Twitter-Leser aufmerksam, dass der Schweizer Psychotherapeut Dr. Josef Giger-Bütler ein Buch mit demselben Titel geschrieben hat. Sein Buch „Depression ist keine Krankheit“ ist 2016 im Beltz-Verlag erschienen.
Depressionen können auch durch psychische Ungetrenntheit entstehen
„Wir sind ein eingeschweißtes Team“ schreiben mir Mütter manchmal – gerade, wenn sie zum Beispiel frühe Trennungen vom Kind erlebten oder an ihren Kindern medizinische Behandlungen durchführen sollten. Das Gefühl, zusammengeschweißt zu sein, kann von beiden Seiten zunächst als positiv erlebt werden. Doch als Kinder tragen wir dieses Gefühl mit seinen Vor- und Nachteilen manchmal mit uns fort. Wenn wir mit einem anderen zusammengeschweisst sind, fällt es uns schwer, neue Beziehungen einzugehen – und wenn wir eine neue Partnerschaft eingehen, nehmen wir die unbewusste Vorstellung des Zusammengeschweisstseins vielleicht gleich mit in die neue Partnerschaft. Wir empfinden vielleicht ein Schuldgefühl gegenüber der Mutter. Wir fühlen uns vielleicht nicht als getrennter Mensch – oder wir haben so eine Angst davor, dass wir uns dagegen wehren.
Wir hören auf, innerlich zu leben und passen uns ganz dem Partner an – oder wir haben ständig das Gefühl, dass wir uns anpassen und zurücknehmen bis zu einem Punkt, an dem wir uns nicht mehr wohlfühlen. Es fällt uns dann manchmal schwer zu spüren, dass Anpassung und Zurücknahme eine bewusste Entscheidung sein kann – vielleicht ziehen wir mit dem Partner um, weil sein Beruf es erfordert. Wir wollen mit dem Partner zusammenbleiben, gehen mit und nehmen die Nachteile inkauf. Doch dann kann es schwieriger werden, als wir es uns jemals vorstellen konnten. Es fühlt sich an, als hätten wir keine Wahl gehabt und als hätte uns der Partner seine Vorstellungen übergestülpt. Wir geben dem Partner die Schuld, weil wir vergessen, dass das Leben selbst oft kompliziert verläuft und voller Widersprüche ist. Es ist uns zu viel.
In der Psychoanalyse können psychsche Ungetrenntheiten häufig offensichtlich werden: Es fühlt sich an, als müsstest du dich dem Analytiker unterwerfen, als würdest du an ihm kleben, von ihm teilweise oder ganz verschlungen werden, als könntest du nicht mehr selbstständig denken. In Partnerschaften sind solche Phänomene zwar auch vorhanden, aber sie können oft nicht zur Sprache gebracht werden.
Wenn du dich selbst nicht als getrennt erlebst, fühlst du vielleicht nur eine starke Depressivität, obwohl du vielleicht „glücklich verheiratet“ bist. Andere wiederum sind jahrelang auf Partnersuche und können ihren Partner nicht finden – unter anderem aus der Angst heraus, dann nicht mehr sie selbst sein zu können. Erst das Gefühl, vom anderen in guter Weise getrennt zu sein, ermöglicht ein glücklicheres Zusammensein. In Momenten, in denen du gewahr wirst, dass du ein „eigener Mensch“ bist mit eigenen Wünschen, Vorstellungen, Atemzügen und Bewegungen, kann sich auf einmal ein Gefühl der Lebensfreude einstellen. „Sie können alles tun, was Sie wollen, wenn Sie wissen, warum Sie es tun“, sagte mir eine Psychoanalytikerin einmal.
So manche Depression fühlt sich an wie eine Lähmung, weil du unbewusst am anderen klebst. Werden dir diese Zusammenhänge bewusster, kann ein lebendigeres Lebensgefühl möglich werden.
„Ich tu was ich will und ich tu, was mich freut und ich scher‘ mich gar nicht um das Ratschen der Leut‘.“
Volkslied aus Oberösterreich, gesungen von Kobenzer Streich, Youtube, siehe auch volksmusikdatenbank.at
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 14.6.2020
Aktualisiert am 16.7.2025
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Hallo Liebe Dunja,
ich hatte für mich, Depression auch nie als eigenständige Krankheit gesehen. Für mich stand die Depression eher für ein Symptom oder ein Ausdruck für etwas anderes, für Tieferliegendes oder dahinter liegendes. Vielleicht, weil ich so auch dann das Gefühl hatte etwas damit tun zu können und die Depression sich nicht einfach nur starr anfühlte. Oder im Psychoanalytischen Sinne, beginnend bei der Depression, etwas rückverfolgen zu können, erforschen und verstehen zu können. Wie ein Faden den man bis zu seinem Ursprung zurück verfolgt. Das ist halt meine Art, das so zu sehen, die auch nicht jeder so sieht. Ich glaube, ich fühle mich manchmal persönlich von der gefühlten Starrheit, wobei ich mich dann irgendwie persönlich bewegungslos und festgesetzt fühle getriggert, wenn jemand sagt oder vielleicht auch verteidigt „Depression ist eine Krankheit“. Ich Versuche zu üben den Trigger zu überwinden, anderen zu lassen und seine Art damit umzugehen zu akzeptieren. Ich Stelle mir dabei manchmal vor, während es mein Trigger ist, sich festgesetzt zu fühlen und ich dem Faden nicht folgen kann, dass der andere vielleicht Bildlich oben auf einen wackligen Sockel steht und aus seiner Sicht es ganz viele wacklige Sockel gibt, von denen manche vielleicht noch nicht nah genug oder stabil genug sind um den nächsten zu erreichen oder um einen stabilen Weg zu bilden, um weiter zu kommen. Und ich durch das Labyrinth unter den Sockeln gehe, meinen Faden verfolgen möchte und dabei heftig an den Sockeln wackel oder sogar zum Einsturz bringe. Und umgekehrt, während der andere oben seine Sockel versucht immer stabiler zu machen und immer mehr einen stabilen Weg versucht für sich zu bauen, wir mein Weg immer mehr verbaut und ich werde immer festgesetzter und reingequwetschter. Also diese beiden Arten damit umzugehen, beißen sich auch total und triggert sich gegenseitig auch sehr. Ich hoffe, das war jetzt nicht zu verwirrend und man kann das Bild was ich meine ein bisschen verstehen.
Viele Grüße :)