Um zu denken, brauchen wir Gedanken und einen Denkraum – doch wie entsteht ein Denkraum? Psychoanalytische Gedankentheorien
Häufig haben wir Gedanken, die wir gar nicht bewusst denken („Thoughts without a thinker“, Bion). Sie schweben einfach in uns herum, vielleicht als unbewusste Phantasie oder Körperempfindung. Sie sind noch nicht ausgegoren. Die Gedanken brauchen einen Raum, in dem sie gedacht werden können: Sie brauchen einen Denkraum und natürlich einen Denker, der sie denkt.
Es können nur Gedanken gedacht werden, die auch reif genug sind, um gedacht zu werden. In seinem Buch „Elemente der Psychoanalyse“ beschreibt der Psychoanalytiker Wilfred Bion (1897-1979), dass es aus seiner Sicht einen Denkapparat gibt und Gedanken, die sich in diesem Denkapparat bewegen. Denkstörungen können seiner Ansicht nach einmal in einem unterentwickelten Denk-Apparat oder in unterentwickelten Gedanken ihre Ursache haben.
Bion unterscheidet ein „primitives Denken, das bei der Entwicklung des Denkvermögens aktiv ist von einem Denken …, das für die Verwendung von Gedanken erforderlich ist. Das Denken, das bei der Entwicklung von Gedanken angewandt wird, unterscheidet sich von dem Denken, das erforderlich ist, um Gedanken zu verwenden, wenn sie bereits entwickelt sind.“
(Bion: Elemente der Psychoanalyse, suhrkamp 1992, S. 66)
Bion hat die Theorie, dass „… thoughts must be distinguished from thinking, originate before thinking and require a mind to think them.“ Übersetzt von Voos: „Gedanken müssen vom Denken unterschieden werden. Sie entstehen vor dem Denken und brauchen einen Geist, der sie denkt.“ James Grotstein (1925-2015): A Beam of Intense Darkness – Wilfred Bion’s Legacy to Psychoanalysis, Karnac Books 2007, S. 207: A Theory of Thinking.
Gedanken werden nicht immer NUR gedacht. Bion spricht davon, dass eine psychotische Person etwas mit ihren Gedanken tut, anstatt sie zu denken. Bion macht darauf aufmerksam, „wieviel Disziplin und Mühe jeden Menschen ein gewisses Maß an kohärentem Denken kostet.“ (Bion: Elemente der Psychoanalyse, suhrkamp 1992, S. 61) „Ich schlage vor, den Apparat für das Denken vorläufig durch das Zeichen ?? zu repräsentieren.“ (Bion: Elemente der Psychoanalyse, suhrkamp 1992, S. 62)
So entsteht ein Denkraum im Baby
Babys kommunizieren via projektiver Identifizierung: Sie schreien und zeigen der Mutter ihr Unwohlsein, ihren Hunger, ihre Angst. Sie legen quasi ihre Gefühle in die Mutter hinein. Die Mutter spürt das Unbehagen. Sie kann nicht anders, als zum Baby hinzugehen und es hochzunehmen. Die Mutter will das Baby verstehen, sie will ihm die Spannung nehmen. Die Mutter erspürt die Körperspannung des Babys, hört auf die Art des Schreiens, schaut auf das Gesicht des Kindes, nimmt eine ähnliche Mimik an.
Das Baby liefert seinen Gefühlszustand bei der Mutter ab. Die Mutter kann diesen Gefühlszustand aufnehmen. Das Baby kann noch nicht nachdenken über das, was da mit ihm und in ihm geschieht. Es kann nur wahrnehmen, schreien und sich bewegen. Was da psychisch in ihm vorhanden ist, sind einfach nur „Zustände“. Der Psychoanalytiker Wilfred Bion (1897-1979) nannte dieses unreife Etwas, was da zu Beginn reichlich in Babys Psyche ist, die „Beta-Elemente“. Diese „Beta-Elemente“ kann die Mutter umformen. Sie nimmt das Baby auf, nimmt seine Gefühle auf und hält sie für einige Augenblicke in sich. Ihre Psyche ist wie ein Körbchen, wie ein „Container“ für den Zustand des Babys.
Der Verstehensraum
Dieser Container ist wie ein Raum in der Mutter. Die Mutter kann über das Baby nachdenken. Sie erfasst intuitiv: „Mein Baby hat Hunger, hat Sehnsucht nach mir, fühlt sich alleine.“ Sie wiegt das Baby, legt es an ihre Brust, berührt es, streichelt es, beruhigt es mit ihrem Atem, ihrer Körperwärme, mit ihrer Stimme. Sie gibt dem Baby, was es braucht. Im Baby verändert sich der Zustand: Die Not lässt nach, es stellt sich ein wohliger Zustand ein.
Ist dieser Vorgang dauerhaft gestört, zum Beispiel weil die Mutter abwesend ist, können psychische Störungen entstehen. Bei schweren psychischen Störungen, z.B. bei einer Borderline-Störung, zeigen die Betroffenen, dass sie die körperliche Anwesenheit des Therapeuten brauchen, damit die psychische Verarbeitung von Ängsten und Zuständen überhaupt möglich ist.
Das Baby macht die Erfahrung: „Ich hatte Not, habe sie gezeigt, die Mutter ist gekommen, hat meine Not aufgenommen, hat meinen Hunger gelindert, hat meine Spannung verringert – kurzum: Sie hat mich verstanden und beruhigt. Diese Vorgänge wiederholen sich abertausende Male. Das Baby kann sich diesen Vorgang immer besser vorstellen. Es denkt an die Mutter und stellt sich vor, wie die Mutter seine Gefühle aufnimmt und wie sie ihm gibt, was es braucht. Die Mutter macht aus den unreifen, chaotischen psychischen Elementen, den Beta-Elementen, reifere psychische Elemente, die „Alpha-Elemente“.
Ein Container als Denkraum
„Alpha-Elemente“ sind sozusagen Teile in der Psyche, über die wir nachdenken können, die wir handhaben können. Alpha-Elemente machen im Gegensatz zu Beta-Elementen viel weniger Angst. Das Baby nimmt im Laufe der Zeit die Mutter in seine Psyche auf, oder besser gesagt: Es nimmt ihren Container in seine Psyche auf. So entsteht ein innerer Raum, in dem das Kind seine Gefühle und Zustände zunehmend selbst verarbeiten kann. Es entsteht ein „Denk-Raum“.
Second Thoughts: Unser bewusstes Denken entsteht aus unbewusstem Denken heraus
„Second Thoughts“, also „Zweite Gedanken“ ist ein Begriff, den in der Psychoanalyse der Psychoanalytiker Wilfred Ruprecht Bion (1897-1979) geprägt hat. Er ging davon aus, dass wir die ganze Zeit unbewusste Gedanken haben. Das, was wir allgemein als „Denken“ bezeichnen, sei nur das Denken, das uns tatsächlich bewusst geworden ist. Unsere bewussten Gedanken seien also eigentlich „Zweitgedanken“, während ein unbewusstes Gedankenband immer mitläuft. Damit die Gedanken „gedacht“ werden können, brauche es einen „Denker“ und einen „Denkraum“ („Gedankenapparat/Denkapparat“, Container, „Mind“).
Gedanken – vom Irgendwie zum klaren Gedanken
„Der Himmel ist blau.“ Ein Gedanke, der schon immer da war. Aber wir müssen ihn erst finden. Wir müssen auf die Welt kommen, gesunde Augen haben, den Himmel sehen können und Sprache entwickeln, damit wir irgendwann diesen Gedanken denken können. Gedanken liegen überall herum. Es ist besonders in Gruppen oft nur die Frage, wer den Gedanken zuerst findet, „aufgreift“ und ausspricht.
Im Traum haben wir oft keine bewussten Gedanken. Die Bilder und Eindrücke schweben. Doch auf einmal, wenn wir wacher und bewusster werden, denken wir: „Ich träume.“ Und wenn wir noch klarer werden, können wir unsere Gedanken im Traum lenken – mit etwas Anstrengung zwar, aber immerhin. Wenn wir wach sind, können wir unsere Gedanken meistens wie selbstverständlich lenken.
Gedanken fühlen sich „griffig“ an
Wir haben das Gefühl, dass die Gedanken „Grip“ haben wie Winterreifen im Schnee. Wir können einen „Gedanken festhalten“ oder wieder ziehen lassen, wir können „rechts“ denken und dann bewusst „links“ denken, um das auch mal das Gegenteil gedacht zu haben. „Gehe ich in Klinik A oder Klinik B?“, denken wir. Und während wir das denken, kommt ein Gefühl hinzu. „Klinik A“ fühlt sich wohlig an, „Klinik B“ verursacht Magengrummeln. Also gehen wir in Klinik A.
Es gibt störende und nicht störende Gedanken. Es gibt träumerisches, nicht anstrengendes und angestrengtes Denken. Unser Wille spielt dabei eine große Rolle. Wenn wir etwas nicht wollen, wie es ist, dann kann Denken anstrengend werden.
Emotionen können das Denken vernebeln
Wenn wir emotional stark gebeutelt sind, fällt uns das klare Denken schwerer. Die Gedanken scheinen uns mehr zu drängen. „Ich bin so wütend, ich könnte dem jetzt Eine …!“ Manchmal haben wir das Gefühl, dass sich unser Denken ganz ausschaltet. In bedrohlichen Situationen handeln wir instinktiv. Unser Körper sagt uns: „Lauf links lang!“ Wir hören vielleicht sogar diesen Gedanken in uns. Er kommt von einer „höheren Instanz oder Weisheit“ her, so empfinden wir das. Unser Körper hat viele Empfindungen ausgewertet, z.B. konnte er vielleicht verorten, dass Rauchgeruch von rechts kommt, sodass wir automatisch links lang laufen. Die Auswertungen des Körpers führen zu dem Gedanken: „Lauf nach links.“
Manche sagen, dass Denken nur mit Worten möglich ist. Aber wenn wir Instrumental-Musik hören oder träumen, dann „denken“ wir in Bildern. Erinnerungen kommen hinzu und Gefühle der Rührung. Wir haben manchmal „schwebende Gedanken“, die wir nicht in Worte fassen können. Menschen, die bei einem Schlaganfall die Sprache verloren und sie wiederfanden, sagen, dass sie sehr wohl denken konnten und Gedanken hatten, aber eben ohne Worte. Es gibt bewusstes und unbewusstes Denken. Wann wird unser Denken „griffig“ und was macht, dass es griffig wird?
Es gibt konkretistisches Denken und symbolisches Denken. Beim symbolischen Denken hebt das Denken sozusagen ab. Es entsteht etwas Drittes. Das symbolische Denken verbindet die Phantasie mit dem Echten, gibt dem Gefühl eine Bedeutung und dient der Kommunikation. Beim Symbolisieren wird das Wort „wie“ benutzt: Mein Magen fühlt sich an „wie“ ein Stein.
Ein „Etwas“ betasten
Als Baby haben wir oft zunächst weder greifbare Gefühle noch verbalisierte Gedanken. Wir spüren unseren Bauch und fühlen da ein furchtbares „Irgendetwas“ in uns. Wir sind in Panik, wir wollen dieses fürchterliche „Etwas“ loswerden. Es macht uns eine enorme „Unlust“, die den ganzen Körper umfängt. Der Psychoanalytiker Wilfred Bion (1897-1979) nannte diesen Wust an Gefühlen und undenkbaren Gedanken „Beta-Elemente“, womit er unreife, ungeformte psychische Elemente meint.
Dann fühlen wir in unserem Chaos plötzlich die Mutter und wenden uns instinktiv zur Brust. Es ist wie eine „gedankenlose“ Reaktion. Es überkommt uns. Und dann fließt die Milch und wir merken, wie dieses furchtbare „Etwas“, dieses „Gefühl“ beruhigt wird. Mit der Zeit lernen wir, dass dieses unglaublich schreckliche Gefühl, das da im Bauch sitzt, „Hunger“ heißt. Durch Wiederholungen lernen wir die Abläufe kennen, sodass wir den Hunger einordnen können.
Von der Ursuppe zum Dreigänge-Menü
Mit der Zeit nimmt die Bedrohlichkeit des Gefühls ab, weil wir so etwas wie ein „Wenn-Dann“ fühlen oder präverbal denken können. Wenn ich dieses „Gefühl“ habe und ich laut schreie, kommt meine Mama und macht mich satt.“ Im Laufe der Zeit finden wir Worte dafür, sodass sich das Gefühl eingrenzen lässt und es gleichzeitig zum dem Gedanken wird: „Ich habe Hunger.“ Diese Reifung findet durch den Körperkontakt und die Kommunikation mit der Mutter statt. Wenn wir dann erwachsen sind, können wir unsere Gefühle mithilfe unserer Gedanken steuern: „Ich habe Hunger, aber ich entscheide mich, zu warten, weil das Essen am Mittag in Gesellschaft schöner ist.“
Gefühlsgedanken
Manchmal überwiegt unser Gedanke, manchmal unser Gefühl. Wir können einen gefühlten Gedanken haben, einen „Gefühlsgedanken“. Wir fühlen uns traurig und sagen dann, dass wir traurig sind. Wir können aber auch „Denkgefühle“ haben, z.B. wenn wir uns bei einem bestimmten Gedanken wohl oder unwohl fühlen. Das Denken findet im Kopf statt, das Fühlen in Brust und Bauch. Gedanken finden in Beziehung statt. Sie haben mit der Beziehung zu uns selbst oder zu anderen zu tun.
Zwanghaftes Denken
Bei Zwangsstörungen gehen die Gedanken eigene Wege. Zwangsstörungen zeichnen sich durch wenig Gefühl und wenig befriedigende Beziehungen aus. Somit machen die Gedanken „Alleingänge“. Die Gedanken hängen nicht unbedingt mit greifbaren Gefühlen wie Ärger, Angst oder Trauer zusammen, sondern sind verbunden mit einem Gefühl von Verlorensein, von „namenloser Angst“ oder absoluter Bodenlosigkeit. Sobald sich Beziehungen und Zusammenhänge herstellen lassen, können die Zwangsgedanken zurückgehen.
Das Wort „Gedanken“ hängt vielleicht mit dem Wort „Dank“ zusammen. Dank empfinden wir, nachdem etwas geschehen ist. Gedanken lieben die Ordnung und die Konsequenz, den folgerichtigen Ablauf. Im Chaos oder bei Überraschungen müssen sich unsere Gedanken erst „neu sortieren“. Ob wir unsere Gedanken für uns behalten dürfen oder ob wir das Gefühl haben, dass andere unsere Gedanken lesen können, hängt von vielen Faktoren ab. Manchmal sind wir auch zu müde zum Denken und schlafen ein. Wenn wir dann „aufgetankt“ sind (im Schlaf Tanken waren), könen wir auch wieder denken. Man könnte sich noch endlos Gedanken zum Denken machen …
Träume und Gedanken lassen sich durch Bewegung wegwischen
Wenn wir einen Traum hatten und nach dem Wachwerden unbeweglich liegenbleiben, können wir uns noch einen Weile an den Traum erinnern. Wenn wir uns aber bewegen und die Körperposition wechseln, dann kann es sein, dass dadurch der Traumgedanke verschwindet. Wenn wir etwas gesagt haben, dass uns Angst macht, dann klopfen wir geschwind auf Holz, damit das Gedachte wieder unwirksam werden kann. Wenn wir wütend sind oder Kummer haben, wollen wir joggen gehen, um „den Kopf frei zu bekommen“.
Wir träumen intensiv in den Schlafphasen, in denen unser Körper unbeweglich ist und sich nur die Augen rasch bewegen (REM-Phasen, REM = Rapid Eye Movement, schnelle Augenbewegungen). Wenn die Muskeln schlafen, sind unsere Phantasien wild.
Menschen mit Tics oder Tourette-Syndrom bekämpfen aus psychoanalytischer Sicht unerwünschte, peinliche oder aggressive Gedanken durch rasche Bewegungen und Laute. Menschen mit Psychosen bewegen sich hin und her oder sie führen bestimmte Bewegungen aus, um bestimmte Gedanken unschädlich zu machen. Manchmal trauen wir uns nicht zu bewegen, weil wir in andächtiger Stille sind und diesen Moment halten wollen. Körper und Geist sind so eng miteinander verbunden.
In der Bibel gibt es diesen schönen Satz, der die Idee eines psychischen Raums beschreibt:
„Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“ (Lukas 2:19)
Manchmal haben wir das Gefühl, unser psychischer Raum ist nur ganz klein: Wenn wir einem anderen Menschen gegenüberstehen und uns in einem Spannungszustand befinden, ist es vorbei mit dem Nachdenken und Gefühle-Regulieren. Wir sagen: „Ich weiß überhaupt nichts mehr“. Wir fühlen uns gelähmt und empfinden nichts mehr. Wenn wir sehr wütend sind, wird es ebenfalls schwieriger, einen klaren Gedanken zu fassen und über uns und den anderen nachzudenken. Die Mentalisierungsfunktion kann geschwächt sein.
Zum Denken brauchen wir Abstand
„Die Überlegung, dass die Wahrnehmung eines inneren Raumes erst entwickelt werden muss, impliziert die Möglichkeit, dass dieser Prozess scheitert und daraufhin kompensatorische Maßnahmen, die primitivsten aller Abwehrformen, entwickelt werden, die (Esther) Bick (1968) als ‚Zweithautphänomene‘ (Second-Skin Phenomena) bezeichnet hat.“ Robert D. Hinshelwood: Wörterbuch der kleinianischen Psychoanalyse. Klett-Cotta, Stuttgart 1993, S. 336
Der Begriff „Zweite Haut“ wird allerdings auch im Positiven verwendet, z.B. wenn ein Patient in der guten Beziehung zum Analytiker so etwas wie eine Schutzhülle empfindet. Manche Patienten sagen dann: „Ich fühle mich, als hätte ich einen Schutzmantel an oder als legte sich eine zweite Haut über mich.“
Gedankenlandschaften
Wenn jemand mit seinen Händen über unseren Körper gleitet, dann tun sich übergangslos ganze Landschaften von Gedanken und Phantasien auf. Vor dem inneren Auge geht ein Bild in das nächste über. Und man kann wahrnehmen, wie sehr die Gedankenübergänge mit den Körperübergängen zusammenhängen. Unser Körper ist eine Landschaft und unsere Gedanken sind mit unserem Körper verbunden. Nicht nur unsere Körperoberfläche, sondern auch unser Körperinneres bestimmt unsere Gedanken mit. Und wenn wir durch unsere Gedankengänge wandeln, dann sind die Gedanken, die wir finden, oft der Spiegel unserer körperlichen und organischen Zustände.
Innere Wahrnehmungen unseres Körpers und äußere Wahrnehmungen der Welt ergänzen sich. So können schöne Lichter ebenso wohltuende Gedanken hervorrufen wie ein Stück Schokolade auf unserer Zunge.
Thought-Action-Fusion: Wenn Gedanken schon wie Taten sind
Gedanken (mehr „worthaft“) und Phantasien (mehr „bildhaft“) können sich so mächtig und grenzenlos anfühlen, dass es einem vorkommt, als hätte man schon längst gehandelt oder etwas mit seinen Gedanken in der Außenwelt bewirkt. Der Gedanke wird oft von einem drängenden Gefühl begleitet. Wenn ich sexuelle Gedanken oder Phantasien habe und dazu ein Gefühl der Erregung, dann kann es sein, dass ich mich schäme, obwohl ich doch aktiv gar nichts getan habe – es ist, als würde schon durch meine Gedanken und Gefühle etwas geschehen. Diese Gleichsetzung von Handeln und Tun nennen Psychologen „Thought-Action-Fusion“. Das Bindeglied ist oft ein starkes Gefühl, das sowohl beim Denken/Phantasieren als auch beim Handeln ähnlich ist.
In der Bibel findet man den Satz: „Doch ich sage euch: Schon wer eine Frau mit begehrlichen Blicken ansieht, der hat im Herzen mit ihr die Ehe gebrochen.“ (Matthäus 5:27-48, bible.com) Auch dies lässt an Thought-Action-Fusion denken – auch, wenn nur „im Herzen“ die Ehe gebrochen wurde. Nicht wenige streng Gläubige und Menschen mit Zwangsstörungen haben Angst vor solchen inneren Regungen und Gedanken. Doch sie zu unterdrücken, macht sie nicht weg. Besser ist es, sie bewusst wahrzunehmen, denn dann können wir sie besser steuern. Wir wissen dann: Ich muss nicht automatisch handeln. Es gibt auch noch den Verstand. Und: Zwischen mir und anderen besteht eine Grenze – andere bekommen nicht eins zu eins mit, was ich denke.
„Ich bin dein Liktor, und ich geh‘
Beständig mit dem blanken
Richtbeile hinter dir – ich bin
Die That von deinem Gedanken.“
Heinrich Heine, Ein Wintermährchen
Und was ist ein cartensianisches Weltbild? René Descartes (Renatus Cartesius, 1596-1650) war ein Philosoph, der den Körper wie eine „Maschine“ betrachtete. Er trennte „Leib und Seele“. Aus seiner Sicht war eine Leiche ein Körper ohne Seele. Wann immer grob gesagt die „Trennung von Leib und Seele“ gemeint ist, spricht man vom cartesianischen Weltbild – ein Bild, das „den Gedanken von der Tat, den privaten Gedanken von der öffentlichen Rede, die Seele vom Körper und eine Seele von den anderen Seelen trennte“ (Cavell 2006: S. 64).
Kapitel 3: Der Denkraum (S. 85)
„Für (André) Green hat die Psychoanalyse bis heute vernachlässigt, eine Theorie der inneren Räume zu entwickeln. … Um die primitiven Mechanismen des Es zu transformieren, müssen sie in Kontakt mit einem mütterlichen Raum kommen. Der mütterliche Außenraum ermöglicht die Umwandlung der projektiven Identifizierung in die reiferen Mechanismen der Projektion und Introjetkion. In Anlehnung an Winnicott … postuliert Green einen Übergangsraum, der an den Grenzen zwischen dem Es und dem Unbewussten entsteht. Im Unterschied zum Es-Raum, der allein aus Triebregungen besteht, ist das Unbewusste ein strukturierter Raum, der mit Triebrepräsentanzen und Affekten arbeitet. … In diesem inneren Übergangsraum …. siedelt Green das Denken des Primärprozesses an.“ Martina Feurer:
Psychoanalytische Theorien des Denkens. Verlag Königshausen & Neumann, 2010, amazon
Der Türrahmen-Effekt: Was wollte ich jetzt noch denken?
Wir wollen unsere Brille aus der Küche holen, doch sobald wir die Küche betreten haben, wissen wir nicht mehr, was wir hier eigentlich wollten. Wir wissen nur noch, dass es wichtig war. Der Wechsel in einen anderen Raum hat uns vergessen lassen, was wir wollten. Diesen sogenannten „Türrahmen-Effekt“ beschrieben Forscher um Gabriel Radvansky, pubmed im Jahr 2011.
Die Tür stellt dabei eine Grenze dar, die anscheinend auch unser Gehirn als Grenze verwertet. Im neuen Raum ist alles anders, das Alte ist vergessen. Die Psychotherapie versucht zwar, diesen Effekt bei der Behandlung von Zwangsgrübeleien zu nutzen, doch das wirkt meiner Erfahrung nach kaum. Ähnlich ist es mit Bewegungen: Wenn wir morgens aufwachen und noch still im Bett liegen, können wir uns vielleicht noch an unseren Traum erinnern. Sobald wir uns bewegen, ist die Traumerinnerung weggewischt.
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Links:
Muho:
Alles, was du denkst, sind nur Gedanken
Ballast los werden und im Jetzt ankommen
O.W. Barth
www.droemer-knaur.de/…
Elizabeth Stewart:
Catastrophe and Survival: Walter Benjamin and Psychoanalysis
Bloomsbury Publishing, USA, 2013
books.google.de …
„See also Warburg’s „Denkraum“ (Chapter 3) and Bion’s rescue of the idea of „thinking“ in Chapter 5.“
Dieter Seiler:
Theologen lesen Bion
April 2014
doi.org/10.13109/…
www.vr-elibrary.de/doi/…
„Theologians of both Christian Churches in Germany are interested readers of Wilfred Bions work, especially of „learning from experience“. Central issues are: Experience, faith and truth. The commentary starts and finishes with the term ‚faith‘, which was introduced by Bion into the psychoanalytic theory and practice.“
Martina Feurer (DPV, Feiburg):
Die Kunst, zu finden, was man nicht schon weiß
Psychoanayse-aktuell, 2.3.2016
Bion, Wilfred R. (1967):
Second Thoughts
Karnac Books, 1984
Denis Mellier
The psychic envelopes in psychoanalytic theories of infancy
Front Psychol. 2014; 5: 734
doi: 10.3389/fpsyg.2014.00734
www.ncbi.nlm.nih.gov/…
Lauren Powers (2006)
The trouble with thinking
The Dangerous Trip from In the Head to Out the Mouth
iUniverse.com, 2006
amazon
Herman Beland:
Die Angst vor Denken und Tun
Psychosozial-Verlag 2014
Cavell, Marcia:
Becoming a Subject.
Reflections in Philosophy and Psychoanalysis
New York: Oxford University Press, 2006
www.oxfordscholarship.com/…
Cavell, Marcia:
The psychoanalytic mind.
From Freud to Philosophy.
Harvard University Press, 1996
www.hup.harvard.edu/…
Radvansky GA, Krawietz SA, Tamplin AK (2011):
Walking through doorways causes forgetting: Further explorations.
Q J Exp Psychol (Hove). 2011 Aug;64(8):1632-45. doi: 10.1080/17470218.2011.571267.
pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/21563019/
Marcia Cavell
Philosophy UC Berkeley
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 9.7.2015
Aktualisiert am 8.12.2025
2 thoughts on “Um zu denken, brauchen wir Gedanken und einen Denkraum – doch wie entsteht ein Denkraum? Psychoanalytische Gedankentheorien”
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Danke! Sie haben mir mehr Klarheit über meine Gedanken mitgegeben.
Wie sagt man doch so schön: Das Gehirn ist ein Organ das denkt, dass es denkt!
Die Entstehung der Gedanken findet – wie auch der Ablauf aller Prozesse des sogenannten Lebens – nur im Raum der Gegenwart statt. Da die Wahrnehmung der Gedanken aber Zeit benötigt, können Gedanken im Jetzt nicht existieren, Gedanken existieren also grundsätzlich in der fiktiven Vergangenheit. Somit könnte man die Gedanken ebenfalls als Fiktion einstufen.
Ich habe übrigens auch einen kurzen Artikel über das Denken der Gedanken geschrieben: http://www.erkenne-die-wirklichkeit.de/gedanken.php
Es stellt sich letztlich die Frage: Wie viel Gedanken brauchen wir eigentlich? Das Endergebnis unserer globalen Gedanken ist zumindest alles andere als erfreulich: Eine Zivilisation mit samt ihrer Peripherie, wo die Uhr – dank unserer denkenden Intelligenz – schon 12 Uhr geschlagen hat!
PS. Was würde eigentlich passieren, wenn man das gesamte Leiden der Menschheit zu einem Leid zusammenfassen würde? Ich bin überzeugt, es würde einen zweiten Urknall auslösen! -)