Amok

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„Warum, warum?“, fragen sie sich immer wieder. „Können sie das nicht verstehen?“, frage ich mich. „Ist ihnen Hass so fremd? Fühlen sie niemals diesen furchtbaren Drang, alles zu zerstören?“ Sie sind so merkwürdig erstaunt. „Astonished“, das englische Wort dafür klingt viel treffender. Man hört daraus, wie versteinert die Menschen sind. Doch mich hält nichts mehr. Und noch während ich schieße, denke ich, dass ich sie alle auf eine ganz merkwürdige Weise liebe. Und dass ich nicht will, was ich da tue. Plötzlich, aus dem Tumult, wie aus dem Nichts, ein Brennen. Und noch während ich zusammensinke, denke ich: „Vielleicht bekomme ich es doch noch – ein bisschen Liebe.“ (Gedanken eines Amokläufers. Text & Bild: Dunja Voos)

Amokläufe sind einerseits sehr schwer verstehbar. Andererseits lösen sie in uns auch deswegen so einen Schrecken aus, weil wir vielleicht in unserer hintersten Ecke spüren, dass wir selbst auch zu Schrecklichem fähig wären, wenn uns so viel Verletzung und Unrecht zugefügt würde, dass es nur noch schwer auszuhalten wäre. Der Sozialwissenschaftler Andreas Prokop, Universität Hamburg, hat sich in seiner lesenswerten Dissertation diesem Thema angenähert.

Welche Gefühle Amokläufer in uns auslösen und was wir tun können

„Projektive Identifizierung“ ist so ein wunderbarer Begriff aus der Kleinkindforschung: Das Kind/der andere findet keine Worte für seinen Zustand. Also macht der andere, dass wir uns fühlen so wie er sich fühlt. Wenn wir wieder die Nachricht erhalten, dass da einer um sich geschossen hat, dann fühlen wir uns wütend, hilflos, allein, in Rage. Wir spüren Rachsucht, haben Albträume, können nicht schlafen, uns fehlen die Worte. Wir können davon ausgehen, dass der Amokläufer sehr Ähnliches fühlte wie das, was er in uns auslöst.

„Der Amokläufer fühlte sich großartig und mächtig“, möchten wir einwenden. Vordergründig in den letzten Momenten seines Lebens vielleicht ja. Aber dieses Allmachtsgefühl ist oft die Abwehr eines großen Ohnmachtsgefühls. Und auch das spiegelt sich in unserer Reaktion wider. Wir sagen: „Wir wollen den Tätern zeigen, dass wir uns nicht beirren lassen! Wir werden den Terror bekämpfen und unseren Alltag normal fortsetzen. Wir werden uns nicht unterkriegen lassen.“ Wir versuchen, „Stimmung“ zu machen, uns Mut zu machen, als Reaktion auf unsere primäre Hilflosigkeit und Ratlosigkeit.

Weg mit den Etiketten

Auf der Suche nach Halt und Sicherheit versuchen wir es mit „Etiketten“. Aber es ist nicht „der Islam“, es ist nicht „die Depression“, die zu Amokläufen führen. Doch was ist es dann? Es ist die psychische Bedrängnis. Psychisches Leid entsteht immer wieder nach ähnlichen Prinzipien: So, wie Mangelernährung zu körperlichen Erkrankungen führt, so führt die Mangelernährung der Seele zu psychischen Krankheiten.
Das Kind musste immer wieder erfahren, dass es von Gruppen abgelehnt wurde, es hat seine Wurzeln verloren (wenn es denn je welche hatte), es hat Gewalt erlebt. Es kam nicht in den Genuss von Bildung, es konnte zu wenig in Worte fassen, wie es ihm geht. Es hat keine Bindungen, keine Beziehungen, keine Zukunft. Wie schnell kann aus der hoffnungslosen Situation Gewalt entstehen.

Was bei Gesunden funktioniert, funktioniert bei psychisch kranken Menschen oft nicht

„Aber jeder ist doch auch seines Glückes Schmied, jeder muss doch auch Verantwortung tragen, jeder kann doch seine Situation verbessern“, sagen „wir“, die wir gesund sind. Ich finde es immer erstaunlich, dass wir dieses Bild von der Psyche haben. Wir kämen doch nicht auf die Idee, einem Menschen mit nur einem Arm zu sagen, er solle mit beiden Händen nach dem Apfel greifen. Genauso verhält es sich mit der Psyche: Gesunde Worte wie „Dankbarkeit“, „Verantwortung“, „Wertschätzung“ oder „Selbstwirksamkeit“ sind denen, die das alles nie spüren konnten, völlig fremd. Diese Zweige sind in dem „Baum Psyche“ sozusagen nicht vorhanden. Sie können mit viel Glück erst langsam wachsen, zum Beispiel, wenn solche Patienten die richtige Therapie erhalten.

Das „Böse“ ist uns immer nah

Was wir „böse“ nennen, ist uns immer nah. Bekommen wir nichts zu essen, werden wir in einer Menge eingequetscht, werden wir auf dem Amt gedemütigt, werden wir „böse“ und neidisch. Doch was wir als „böse“ bezeichnen, ist doch eigentlich immer nur eine Folge des Mangels an Gutem und Verbundheit. Die Abwesenheit der guten Mutter erlebt ein Kind als die Anwesenheit von etwas Bösem, das sich in dem Gefühl des Alleinseins, der Kälte, des Hungers, der Trostlosigkeit äußert. Kinder von Eltern, die Gewalt anwenden, sagen später sehr oft in der Therapie: „Ich habe halt immer auch das Gute hinter der bösen Maske meiner Mutter/meines Vaters gesehen.“

„Demons“

Das Lied „Demons“ war lange „in“. Es zeigt sehr schön, wie wir den „Teufel in uns“ spüren. Wir haben diese dunklen Seiten, diese Schatten. Wir fürchten uns so oft vor uns selbst, aber auch vor unseren nächsten Mitmenschen, weil wir wissen, dass es diese Seiten gibt. Es gibt nicht nur den Lebenstrieb, sondern eben auch den von Sigmund Freud beschriebenen „Todestrieb“. Die Lust an der Zerstörung kennen wohl die meisten Menschen. Und wie schön ist es bei Kindern zu sehen, mit wieviel Freude sie ihren selbstgebauten Turm zerschlagen.

Der Schlüssel: Das Verständnis

Je mehr Verständnis wir für uns selbst haben und je ehrlicher wir mit uns selbst umgehen, desto leichter wird es uns gelingen, die vermeintlich „bösen Menschen“ zu verstehen. Wer traumatisiert ist, zeigt leider oft nur sein grausames Gesicht. Alles, was in einer einzelnen Person ablaufen kann, kann auch in Gruppen ablaufen. Und natürlich werden Gruppen dann gefährlich. Und doch: In der Psychoanalyse erleben Analytiker jeden Tag, wie rasch rasende Wut und Hass abklingen können, wenn sich der Patient plötzlich vom Analytiker verstanden fühlt. Häufig verschließen sich psychisch kranke Menschen zunächst dem „Verstehen“ oder der Warmherzigkeit eines anderen. Aber wir können davon ausgehen, dass die Sehnsucht danach immer da ist.

Dank an Dolpo Tulku Rinpoche (www.facebook.com/notes/dolpo-tulku-international-group/dolpo-tulku-rinpoche-on-acts-of-violence/1163754357000759)

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Prokop, Andreas (2015):
Gewalt und Mimikry
Destruktive Aspekte der Selbstkontrolle bei amokartiger Gewalt
Dissertation 2015, Universität Hamburg
Kapitel 2: Mörderische Selbstkontrolle, S. 44
https://d-nb.info/1073970418/34

Andreas Prokop zitiert den Psychoanalytiker Otto Fenichel auf S. 44: „Bis jetzt haben wir gesagt, dass die Abkömmlinge abgelenkter Affekte zur falschen Zeit erscheinen, sich auf die falschen Objekte richten oder eine falsche Qualität erkennen lassen können. Sie können auch durch eine besonders aufwändige Gegenbesetzung aus ihren gesamten psychischen Zusammenhängen isoliert werden.“
Otto Fenichel

Andreas Prokop, S. 47: „Das führt mich zu der These, dass Selbstkontrolle – jedenfalls eine bestimmte Form derselben – insofern problematische Auswirkungen auf das Zusammenleben haben könnte, als sie den sozialen Zusammenhang und -halt schwächt, die Affizierbarkeit im Interaktionengefüge einschränkt und damit auch unsere Fähigkeit, die Perspektive des anderen zu übernehmen, ihn spontan zu beantworten. Wenn wir uns (zu stark) zurücknehmen, kontrollieren, sind wir nicht in Beziehung.“

Klaus Theleweit:
Das Lachen der Täter: Breivik u.a.
Psychogramm der Tötungslust
Residenz Verlag, 2021
https://www.residenzverlag.com/buch/das-lachen-der-tater-breivik-u-a

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 18.6.2016
Aktualisiert am 13.11.2024

One thought on “Amok

  1. Melinas sagt:

    Puh, sowas habe ich mir auch schon öfter gedacht, nach diesen Amokläufen. Ich bin immer jemand der den Motiven auf den Grund gehen will.
    Ziemlich sicher bin ich auch, dass es den Amokläufern um das Geliebtwerden geht und um die Aufmerksamkeit, die man bräuchte um existieren zu können. Und wenn jemand nie wirklich gesehen wird, nie beachtet, vielleicht noch verachtet….dann denke ich versucht man sich noch einmal Gehör zu verschaffen – selbst wenn es das Letzte ist, was man tut.
    Ich habe schon immer das Gefühl – wenn mir die Liebe fehlt werde ich sehr böse, wenn mir der Glaube an einen liebenden Gott (in welcher Form auch immer) abhanden kommt, dann würde ich mich und diese grausame Welt auch zerstören wollen.

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