Freilerner und Psychoanalytiker sollten sich zusammen tun
„Da musst Du ja sicher viel lernen!“, sagen mir manche, wenn sie hören, dass ich eine Psychoanalyse-Weiterbildung mache. Ich werde dann immer etwas verlegen, weil ich das Gefühl habe, dass ich bisher noch gar nichts „gelernt“ habe. Jedenfalls nicht mit Anstrengung. Ich setze mich nicht mit einem Lehrbuch hin, um dieses oder jenes zu lernen ohne Sinn und Verstand.
Vielmehr ist es so: Ich gehe zur Lehranalyse und stehe vor Problemen. Wie ist das mit dem Zulassenkönnen von Nähe? Warum schäme ich mich hier wieder so? Warum ist es mir eigentlich unangenehm, den anderen atmen zu hören? Wieso bin ich heute so gut gelaunt? Meine Patienten stoßen auf ähnliche Fragen. Diese Fragen können ganz klein sein, aber oft brennen sie auch wie Feuer und ich bin schier verzweifelt. Ich merke: Ich will dieses Problem lösen. Für meine Patienten und mich.
Und dann fange ich an, nachzulesen: Was sagte Freud dazu? Was sagt die moderne Forschung zur „Scham“? Haben andere Analytiker Erklärungen und Lösungen gefunden? Ein interessantes Youtube-Video zu diesem Thema ist auf Französisch – also schlage ich Vokabeln nach. Beim Seminar merke ich, dass eine Kollegin sehr gut über ein Thema Bescheid weiß, das mich auch interessiert. Neid kommt auf – ich will das auch wissen! Und lese nach.
Neid ist auch eine Lern-Triebfeder
Manche Kollegen sind nie erkältet – das will ich auch, denn mit Erkältung Patienten zuzuhören ist anstrengend. Ich mache mich schlau über gesunde Ernährung und Yoga. In diesen Jahren der Weiterbildung habe ich so viel gelernt wie damals im Medizinstudium. Nur anders. Ich lerne, weil ich Muße habe, weil ich inspiriert, verzweifelt, traurig, unglücklich oder glücklich bin. Ich muss keinem Lehrplan folgen. Es gibt Angebote, es gibt eine Bibliothek, Seminare, Kongresse, aber keinen Zwang.
Mir kommt diese Weiterbildung vor wie Spielen. Und dann lese die Beiträge von Dagmar Neubronner, die für das Homeschooling in Deutschland kämpft. Und ich merke: Das Konzept der Freilerner ist dem der Psychoanalytiker in vielem ähnlich.
In Ruhe ausatmen lassen
„Wir sind die einzige Spezies, die ihre Kinder morgens weckt“, sagt André Stern. Allein das Ausschlafen bringt so viel mehr Energie zum Spielen, Lernen und für das friedliche Miteinander. Ähnlich in der Psychoanalyse: Der Patient wird nicht gedrängt. Er bekommt die Zeit, die er für seine Entwicklung braucht. Die Krankenkassen sind dann wie das Schulsystem: Sie sagen: „Wir brauchen Ziele, Qualitäts- und Effektivitätsnachweise.“ Und schon ist man eingespannt in Zügel, die der Freiheit der Psychoanalyse entgegenstehen.
Aber es muss doch auch Grenzen geben, oder?
Gutes Freilernen und gute Psychoanalyse haben nichts mit „Zügellosigkeit“ zu tun, sondern mit gesunder Bindung. Es ist den Eltern nicht egal, was die Kinder machen. Die Eltern schauen, was die Kinder gerade beschäftigt und versuchen, ihnen das zu geben, was sie brauchen, um genau das zu lernen, was sie gerade interessiert. Der Psychoanalytiker erscheint jeden Tag pünktlich. Er versucht, sich gesund zu halten. Er hört gut zu, fühlt mit dem Patienten mit, hat Antennen für ihn, sorgt für einen verlässlichen Rahmen, hält Grenzen ein. So kann innerhalb der Analyse die Freiheit aufblühen, die der Entwicklungsprozess braucht. Ich glaube, das Denken von Freilernen und Psychoanalytikern ist sich so ähnlich, dass es sicher eine Freude wäre, wenn sie sich – in welcher Form auch immer – gegenseitig finden könnten.
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