Sei achtsam gegenüber Deinen Aggressionen – besonders in guten Beziehungen
Feindselige Beziehungen sind relativ einfach: Hier schaue ich, dass ich zu meinem Recht komme und dass der andere nicht zu viel Gutes abbekommt. Schwierig wird es für uns oft dann, wenn wir eine Beziehung eingehen mit jemandem, den wir wirklich mögen. „Es ist, als verließe ich mich selbst“, sagt eine Studentin in der Psychotherapie und beschreibt die Situation, in die sie kommt, wenn sie jemanden mag: „Dann ist es nur noch wichtig, dass Frieden herrscht. Meine eigenen Bedürfnisse stelle ich hinten an und Missstände spreche ich nicht an. Ich bin in einer guten Beziehung wie gelähmt.“ „Aggression“ bedeutet nicht nur wütendes Schreien oder gewaltsamer Kampf. Aggression (vom Lateinischen: aggredi = herangehen) heißt, dass man auf jemanden zugeht.
Aggressionen zu haben, bedeutet, Kraft zu haben. „Normale“ oder wohldosierte Aggressionen geben uns eine positive Lebensenergie. Sie helfen uns, kraftvoll an eine Aufgabe heranzugehen und Ziele zu erreichen. Sie geben uns Substanz. Die Aggression ist ein Werkzeug, das uns hilft, selbst nicht zu kurz zu kommen.
Aggressionen in Bezug auf die Eltern
Viele Menschen sind so aufgewachsen, dass sie keinerlei Aggressionen gegenüber Mutter oder Vater zeigen durften. Als Kind waren wir abhängig von unseren Eltern. Also taten wir alles, um die Beziehung zu schützen. Waren die Eltern sehr empfindlich, haben wir uns wahrscheinlich sehr zurückgenommen und waren sparsam damit, unsere Bedürfnisse zu äußern. Unsere Aggressionen drückten wir nach ganz unten.
Feindselige Beziehungen sind nicht die Kunst. Es sind die liebevollen Beziehungen, die unser Geschick erfordern.
Wohin mit unseren Aggressionen, wenn wir jemanden mögen?
Wenn wir jemanden mögen, können alte „Vorsichtigkeitsgefühle“ wieder aufsteigen. Wir wollen den anderen schonen, ihm nicht zu Last fallen. Was dann jedoch hinten anstehen muss, sind unsere eigenen Bedürfnisse. Gerade, wenn wir jemanden mögen, wird es wichtig, auf uns selbst zu achten, besonders auf unsere eigenen Emotionen und Aggressionen. „Immer wieder sind meine Beziehungen abrupt zu Ende, von jetzt auf gleich“, beklagen manche. Das kann passieren, wenn wir nicht achtsam genug gegenüber unserem eigenen Befinden sind und ihm zu wenig Ausdruck verleihen.
Es gibt Orte, Menschen und Umgebungen, wo wir so gut wie gar nicht mit unseren Aggressionen kämpfen müssen. Wenn wir in einer gelassenen Umgebung sind und uns niemand zwingt, können wir ruhig werden. Besonders gut lässt sich das bei aggressiven Kindern beobachten: Sie fühlen sich aggressiv, wenn sie bei rigorosen und leicht kränkbaren Eltern sind. Kommen sie zu den Großeltern aufs Land, sind die Aggressionen wie weggeblasen. .
Achtsam sein ist der erste Schritt
Es kann sehr schwierig sein, die eigenen Bedürfnisse zu äußern. Man kann sich fragen: „Wie fühle ich mich im Augenblick? Fühle ich mich eingeengt? Ist es mir warm/kalt, möchte ich eine Pause haben?“ Viele verdrängen bereits ihre Grundbedürfnisse, wenn sie mit jemandem zusammen sind, den sie mögen. „Beziehungen sind so anstrengend!“, sagen die Betroffenen dann.
Wenn man ständig damit beschäftigt ist, sich selbst zu verstecken, ist das eine anstrengende Arbeit.
Bedürfnisse zu äußern ist der zweite Schritt. Der wichtige erste Schritt ist es, überhaupt erst einmal auf das eigene Befinden zu achten. Dann kann man sich leiten lassen und schauen, wohin es führt. Oftmals ist der andere nicht so empfindlich, wie man denkt. In einer Beziehung muss man vieles austarieren.
Wut kannn die Beziehung retten
Wenn wir in guten Beziehungen oder Liebesbeziehungen sind, dann fürchten wir uns oft vor Aggressionen, weil wir glauben, die Aggression könnte die Beziehung zerstören. Wir können uns das Äußern von Aggressionen oft nur als laut oder als Geschrei vorstellen. Und wir meinen, durch das Äußern eines Bedürfnisses müsste es auch gleich befriedigt werden. Doch zerstörerische Wut ist nur das Ende einer langen Kette. Zerstörerische Wut kommt dann, wenn wir lange unsere eigenen Bedürfnisse von uns selbst und dem anderen begraben haben und wenn wir uns lange unsere Aggressionen verboten haben. Aggressionen zu haben und sie zu äußern ist oft mit Schuldgefühlen und „schlechtem Gewissen“ verbunden. Wenn aber die Aggression so sehr gewachsen ist, dass es nur noch um die Frage des Überlebens geht, dann zeigen wir unsere Wut ohne Schuldgefühl.
Wenn wir uns so sehr bedrängt fühlen, dass wir meinen, zu ersticken, geht es uns nur noch um das pure Überleben. Wir stoßen den anderen weg, denn jetzt haben wir das Recht dazu. Bei der Frage um das Überleben geht es nicht mehr um das schlechte Gewissen. Mit Wucht hauen wir den anderen aus unserem Leben raus. Zuerst fühlen wir uns vielleicht stark, befreit und beflügelt. Wir spüren die belebenden Seiten der Aggression. Doch einige Tage später stehen wir vor den Scherben, fühlen wir uns schuldig, wollen den anderen zurück haben, können uns selbst nicht mehr verstehen.
Tröpfchenweise Wut entlassen
Damit es nicht so weit kommt, ist es wichtig, von Anfang an achtsam gegenüber seinen eigenen Aggressionen zu sein. Nicht nur Angst ist ein wertvoller Kompass, den die Psyche uns liefert, sondern auch Ärger, Wut und Zorn. Ärger fängt oft mit einem Gefühl des Unbehagens an. Wir übergehen das Gefühl und sagen uns: „Ach, komm schon, stell dich nicht so an, sei nicht so kleinlich, das wird dir schon nicht schaden, das wirst du schon überleben.“ Aber im Grunde übergehen wir mit solchen Sätzen wichtige Regungen in uns.
Wut geht zurück in der Auseinandersetzung damit, im Verstehen.
Wut ist immer berechtigt, denn auch die innere Realität ist echt
Egal, ob die Wut uns „unberechtigt“ oder „berechtigt“ erscheint – sie ist immer berechtigt. Es macht keinen Unterschied, ob wir tatsächlich und objektiv gesehen Unrecht in einer Beziehung erfahren, oder ob wir uns aufgrund unbewusster Phantasien im Unrecht fühlen. Unbewusste Phantasien sind sehr wirkmächtig. Wenn wir die unbewusste Phantasie haben: „Der andere will immer etwas von uns, er kann uns einfach nicht in Ruhe lassen“, dann sehen wir den anderen so (Übertragung) und reagieren darauf.
Wir handeln mitunter entsprechend unserer unbewussten Phantasie, die wir in Bezug auf den anderen haben. In Wirklichkeit sitzt der andere einfach nur da und hat überhaupt nicht im Sinn, uns zu stören. Er will ja selbst in Ruhe gelassen werden. Die Ursache der Wut liegt in diesem Fall in unserer Phantasie und diese wiederum ist durch Vorerfahrungen entstanden, z.B. durch schmerzhafte Erfahrungen mit unseren Eltern, die uns vielleicht wirklich nicht in Ruhe lassen konnten. Die Wut entsteht und sie ist da und sie will in unserem Beispiel sagen: „Ich möchte meine Ruhe haben.“ Wenn du das bemerkst, kannst du beginnen, sich mit dir selbst und deinem Partner auseinanderzusetzen. Dadurch kann die Wut – ob „berechtigt“ oder „unberechtigt“ – verdaut werden.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 25.11.2016
Aktualisiert am 3.6.2023