Wer sich mit einem anderen Menschen identifiziert, der übernimmt seine Verhaltensweisen und Meinungen. Kleine Kinder spielen, wie der Vater zur Arbeit zu gehen und wie die Mutter das Baby zu wickeln. In diesem Moment fühlen sie sich wie die Eltern. So lernt das Kind, sich in eine andere Person hineinzuversetzen. Gleichzeitig wird ein Vorbild so zum Ich-Ideal: „Ich möchte sein wie der Cowboy im Film“, denkt der kleine Junge. Später möchte er dann „idealerweise“ männlich und cool sein. Wenn er so ist, ist er zufrieden mit sich – er entspricht dann seinem „Ich-Ideal“.
Nein, das darfst Du nicht!
Das Kind ahmt nach, wie die Eltern ihm Dinge verbieten. Dabei entwickelt sich sein Über-Ich. Identifikationen finden also im Über-Ich ihren Platz. Manchmal ist das Kind so mit einem Elternteil identifiziert, dass man denken könnte, es hätte einige Verhaltensweisen schlicht vererbt. Diese Verhaltensweisen liegen dann aber nicht (nur) auf den Genen, sondern sind das Ergebnis der Identifikation. Diese Vorgänge gehören zur normalen Entwicklung.
Identifikation unter Angst
Manchmal entsteht Identifikation aber unter Angst. Wer in einer Gruppe Angst hat, ausgeschlossen zu werden, der sieht zu, dass er sich den Gruppenmitgliedern und dem Gruppenführer anpasst und die Vorstellungen übernimmt. Dieser Mechanismus spielte zum Beispiel im Dritten Reich eine entscheidende Rolle.
Identifikation mit dem Aggressor
Kleine Kinder sind den Aggressionen der Eltern hilflos ausgeliefert. In diesen Situationen helfen sich die Kinder damit, dass sie sich in den Angreifer hineinversetzen und die gleichen Überzeugungen haben wie er: „Schläge sind gut für die Erziehung“, oder „die paar Klapse auf den Hintern sind doch nicht schlimm“ sind charakteristische Ausdrücke von Eltern, die sich mit ihren eigenen aggressiven Eltern identifiziert haben.
Introjektion
Je früher in der Kindheit Identifikationen stattfinden, desto tiefer sind sie verwurzelt (Siegfried Elhardt). Solche starken, frühen Identifikationen werden auch Introjektionen genannt. Sie sind fest mit dem „Ich“ verbunden. Man geht oft mit sich selbst so um, wie früher die Eltern mit einem umgegangen sind – im Positiven wie im Negativen. Vereinfacht gesagt bedeutet Introjektion: „Wie Du (Mama) mich damals behandelt hast, so behandele ich mich selbst heute.“
Identifikation kann eine Form der Abwehr sein
Wenn wir einen nahestehenden Menschen verlieren, dann übernehmen wir manchmal eine Gewohnheit von ihm und erhalten ihn so innerlich lebendig. Das kann jedoch so weit gehen, dass man vor der Trauerarbeit flieht. Es kann sogar den Charakter verzerren. Ein Mädchen, dass zum Beispiel den Tod des Vaters kaum verschmerzt, kann dabei in ihrer Art vermännlichen.
Triebpsychologisch sagt man auch, dass Identifikation eine Einverleibung des anderen sei, eine Art „seelischer Kannibalismus“ (Elhardt). „Identifikation vermittelt Schutz, ihre Lösung Selbstständigkeit, aber auch oft Einsamkeit“ (Elhardt). Wer sich aus alten Identifikationen löst, sich „de-indentifiziert“, der verliert auch immer ein Stück Heimat, egal, wie „schlecht“ das Vorbild und die Identifikation mit ihm waren.
Introjektion als „Gegenteil“ von Projektion
Viele kennen den Begriff „Projektion“: Wir laden Gefühle oder Eigenschaften, die wir selbst (unbewusst) haben, manchmal auf andere ab. Wir sagen: „Der Chef war heute aber sauer“ und merken gar nicht, dass wir selbst (auch) sauer waren. Bei der „Introjektion“ findet oft der umgekehrte Weg statt: Wir übernehmen unbewusste Regungen, Gefühle oder Phantasien des anderen und halten sie für unsere eigenen Regungen, Gefühle und Phantasien. Der amerikanische Psychoanalytiker Harold F. Searles schreibt über einen Therapeuten, der seine eigenen sexuellen Wünsche stark verdrängt. Gleichzeitig lässt sich bei dem Patienten des gehemmten Therapeuten feststellen, wie er verstärkt sexuell aktiv wird und sich mit sexuellen Themen beschäftigt. Der Patient hat das Unbewusste des Therapeuten quasi „aufgenommen“ und die Wünsche des Therapeuten „ausagiert“. Dieser Vorgang spielt, so Searles, auch bei Psychosen eine entscheidende Rolle. Wo das schwache Ich zu Projektionen neigt, da kann es auch leicht zu Introjektionen kommen.
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Quelle:
Siegfried Elhardt
Tiefenpsychologie
Kohlhammer Stuttgart 2001: 50-52
Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht am 29.5.2012
Aktualisiert am 12.4.2014
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