Hyperreflexivität: bei einer psychischen Störung grübeln wir zu sehr über uns selbst nach

Wenn wir „reflexiv“ sind, dann sind wir nachdenklich. Wenn wir sehr viel über uns nachdenken, dann sind wir „hyperreflexiv“. Eigentlich ist es kein „Nachdenken“, sondern ein fruchtloses Grübeln. Wenn wir unter einer psychischen Erkrankung leiden, dann scheint uns unser Leiden dazu zu zwingen, nur über unsere eigenen Sorgen nachzudenken, während die anderen Menschen unwichtiger werden. Wenn wir Zahnweh haben, sind uns die Rückenschmerzen des anderen egal: Wir konzentrieren uns gedankelich auf unser Leiden. Auch das, was wir gesagt und getan haben, kann uns verfolgen – wir fühlen uns schuldig und können dem anderen kaum zuhören.

Die Hyperreflexivität entsteht oft, wenn wir Angst haben, wenn wir angespannt sind und wenn wir uns selbst geringschätzen. Wenn wir posttraumatische Zustände erleben, liegt unsere Aufmerksamkeit ganz bei uns selbst – wie bei einem Notfall. Es ist, als spürten wir eine psychische Notsituation, den wir nicht überhören können. Das, was wir innerlich oder äußerlich wahrnehmen, kommt uns wie eine Gefahr vor, sodass es uns fast unmöglich wird, auch an andere zu denken. Das kann akut vorkommen, aber auch zum chronischen Dauerzustand werden. Viele Traumatisierte wissen das – und doch ist es schwer, daran etwas zu verändern.

Hyperreflexivität kann sich aber auch auf den anderen beziehen: „Der hat bestimmt ‚Hallo‘ gesagt, weil der was von mir will“, sagen wir. Wenn wir dem anderen ständig mehr unterstellen, als wirklich dahintersteckt, dann hypermentalisieren wir. Wir sind hyperreflexiv in Bezug auf den anderen. Wir denken ständig über die Absichten des anderen nach – auch, wenn der andere gar nicht so starke Absichten hat, wie wir meinen, so sind wir uns doch vielleicht „ganz sicher“, dass der andere „so tickt“, weil wir doch Bescheid wissen. In Wirklichkeit aber stülpen wir dem anderen etwas über, was wir mit anderen Menschen, z.B. mit unseren Eltern in unserer frühen Kindheit erlebt haben. Diese „Sicherheit“ aufzugeben, ist wichtig, um in einen echteren, aber zunächst vielleicht auch unsichereren Kontakt mit dem anderen zu kommen.

Verlässliche Verbindung zum anderen finden

Manchmal hilft die Erfahrung, dass es einem anderen so schlecht geht wie uns selbst. Dann fühlen wir uns ungetrennter und spüren, dass andere Menschen ganz ähnliche Erfahrungen machen wie wir. Wenn wir schwer traumatisiert sind, dann erscheint uns unser Trauma wie eine Mauer zwischen uns und den anderen. Wenn es uns aber gelingt, unser Trauma zu bearbeiten, dann erleben wir das Trauma unter anderem als Brücke zu anderen Menschen. Die Voraussetzung dafür aber ist, dass unser Angstlevel und unsere Anspannung sinken. Wenn wir uns selbst ernstnehmen können, fällt es uns auch leichter, den anderen ernstzunehmen. Wenn wir uns in Fragen rund um die Beziehung zum anderen weiterentwickeln und gleichzeitig lernen, mit unserem Leiden in uns still zu werden, dann können wir mit dem verstärkten Denken an uns selbst nach und nach aufhören.

Präreflexives Bewusstsein: das Erleben vor dem Nachdenken

Unter dem „präreflexiven Selbstbewusstsein“ (pre-reflexive self-consciousness) versteht man das bewusste Erleben, bevor wir darüber nachdenken. In der Stanford Encyclopedia of Philosophy heißt es (frei übersetzt von Voos): „Das präreflektierende Selbst-Bewusstsein ist da, wann immer ich durch eine Erfahrung gehe, das heißt, wann immer ich die Welt bewusst wahrnehme. Dazu gehört z.B. die Erinnerung an ein vergangenes Ereignis, die Vorstellung eines zukünftigen Ereignisses, das Denken eines gerade auftretenden Gedankens. Auch Traurig- oder Fröhlichsein, Durst- oder Schmerzenhaben, gehören dazu.“

„… the pre-reflective self-consciousness which is present whenever I am living through or undergoing an experience, e.g., whenever I am consciously perceiving the world, remembering a past event, imagining a future event, thinking an occurrent thought, or feeling sad or happy, thirsty or in pain, and so forth.“ Phenomenological Approaches to Self-Conciousness, Feb 19, 2005

Sobald wir darüber sprechen, sobald wir das Wort „Ich“ benutzen und ein Narrativ haben, nennt man es nicht mehr „präreflexives Bewusstsein.“ Bei der Schizophrenie soll dieses präreflexive Selbstbewusstsein vermindert sein (Aaron L Mishara, 2010). Heute geht man davon aus, dass bei der Schizophrenie eine präreflexive (= operative) Hyperreflexivität besteht. Als „Hyperreflexivität“ wird ein verstärktes Nachdenken (über sich selbst) bezeichnet, was wiederum das Selbst „stört“.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Felix Richter et al. (2020):
Mentalisierung bei Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis.
psychopraxis. neuropraxis 2020 · 23:175–179
doi.org/10.1007/s00739-020-00654-4
link.springer.com/…

Thomas Fuchs (2011):
Psychopathologie der Hyperreflexivität
De Gruyter, 29.8.2011, Aus der Zeitschrift Deutsche Zeitschrift für Philosophie
doi.org/10.1524/dzph.2011.0045
www.degruyter.com/…
Thomas Fuchs: „As a rule, mental illnesses are connected with increased self-observation, a narrowing of attention to one’s own person, and with the backward turn of thinking to what has already been done or has happened. These phenomena can be summed up in the concept of hyperreflexivity.“
(frei übersetzt von Voos): „Psychische Störungen sind verbunden mit einer erhöhten Selbstbeobachtung und einer Verengung der Aufmerksamkeit auf die eigene Person. Dazu gehört auch ein verstärktes rückwärts gerichtetes Denken über das, was schon getan wurde oder was passierte. Dieses Phänomen kann als Konzept der Hyperreflexivität bezeichnet werden.“ (Thomas Fuchs, Psychopathologie der Hyperreflexivität)

Aaron L Mishara (2010):
Kafka, paranoic doubles and the brain: hypnagogic vs. hyper-reflexive models of disrupted self in neuropsychiatric disorders and anomalous conscious states.
Philosophy, Ethics, and Humanities in Medicine, 2010; 5: 13.
doi: 10.1186/1747-5341-5-13

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 15.9.2023
Aktualisiert am 9.12.2025

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