„Mein Patient hat sich umgebracht.“ Wie gehen Psychotherapeuten mit dem Suizid ihrer Patienten um?

Wenn sich ein Psychotherapie-Patient das Leben nimmt, kann der Psychotherapeut trauern wie nach dem Tod eines Angehörigen. So ging es mir selbst – und so wird es auch im Deutschen Ärzteblatt beschrieben: „Selbstfürsorge: Wenn Patienten sterben“ (PP 10, Ausgabe November 2011, Seite 506). Viel wird darüber nicht gesprochen, denn Schuld und Scham spielen eine große Rolle. Wenn der Patient, dem man helfen wollte, aus dem Leben scheidet, hinterlässt dies auch das Gefühl des Scheiterns. Mitunter tauchen dramatische Ängste auf: „Ob jetzt wohl die Polizei zu mir kommt?“, fragt man sich als Therapeut – und manchmal ist es so. Oft wird der Tod des Patienten sehr still verarbeitet: „Ich habe tagelang nur geweint“, erzählt ein junger Psychoanalytiker.
Im Zusammenspiel zwischen Patient und Psychotherapeut ist in der Zeit vor dem Suizid viel geschehen, was oft erst im Rückblick ersichtlich wird. Jedoch ist der Psychotherapeut nur ein Teil des Gesamtgeschehens, dem der Patient ausgesetzt war. Als Psychotherapeut/Analytiker spürt man selbst ein grosses Gewicht, eine grosse Beteiligung – verständlich, denn die Beziehung eines Patienten zu seinem Psychotherapeuten ist mit die wichtigste, manchmal sogar die einzige Beziehung, die er über einen bestimmten Zeitraum hat. Psychische Mechanismen wie z.B. Projektive Identifizierung wirken auch über den Tod hinaus. Ein Patient, der alle Verantwortung und „Schuld“ von sich wies, wird im Therapeuten vielleicht ein besonders großes Schuldgefühl hinterlassen.
Ob Psychoanalytiker, die ihre Patienten vier Mal pro Woche sehen, anders vom Suizid eines Patienten betroffen sind als Psychotherapeuten oder Psychiater, die ihren Patienten nur einmal pro Woche sehen? Wie geht es Psychiatern in Kliniken? Das frage ich mich oft.
Mitten ins Herz
Die Phasen der Verarbeitung sind für Therapeuten wie für Angehörige sehr ähnlich: Wenn die Nachricht kommt, ist das ein ganz, ganz komisches Gefühl. Das Nichtwahrhabenwollen, das Betäubtsein, das Begreifenwollen sowie Wut und Trauer können den Therapeuten sehr beschäftigen. Manchmal kann sogar eine Form von Neid hinzukommen: Während der Therapeut sich weiterhin mit vielen Fragen quälen muss, hat der Patient nun seine Ruhe, so könnte der Gedanke lauten.
Auch kann auf eine merkwürdige Weise Bewunderung für den Patienten mitschwingen, insbesondere vielleicht, wenn Narzissmus in der Behandlung eine Rolle spielte. Der Patient, der im Therapeuten den Retter suchte und dann tief fiel, kann den Therapeuten bildlich gesprochen mit in den „beruflichen Tod“ ziehen.
Manche Therapeuten träumen von ihrem verstorbenen Patienten und davon, wie sie den Tod hätten verhindern können. Als Therapeut spürt man bewusst, wie auch die Abwehr arbeitet. Die Erklärung, dass der Suizid eine aggressive Handlung ist, die auch den Therapeuten und die Angehörigen schädigen soll, kann eine Rolle spielen. Doch vielleicht sollen die vielen Theorien auch von der Erkenntnis ablenken, dass ein Leben psychisch so unaushaltbar sein kann, dass man sich nur noch den Tod wünscht.
Es ist wichtig, einem suizidalen Patienten mit tiefem Respekt zu begegnen – immer in dem Bewusstsein, dass man ihn vielleicht nicht retten kann. Der Schriftsteller Jean Améry (1912-1978, Wikipdia) zeigte, wie lange er mit sich kämpfte, bis er sich schliesslich doch das Leben nahm. Und auch der bekannte niederländische Autor Viktor Staudt (1969-2019, Wikipedia) hat trotz aller Anstrengung nicht überlebt. Noch am 10.9.2015, dem Welttag der Suizidprävention, sagte er in der HR-Sendung „maintower“, er komme von der dunklen Seite des Lebens und sei nun auf der hellen. Viktor Staudt litt unter Angst und Panik und warf sich 1999 in selbstmörderischer Absicht vor einen Zug. Dabei verlor er beide Beine. Danach klärte er Menschen viele Jahre über Depressionen und Angststörungen auf. Am 8.9.2019 nahm er sich in Italien endgültig das Leben.
Körperlich Kranke, die sich den raschen Tod wünschen, lassen von diesem Wunsch oft ab, wenn sie palliativmedizinisch gut versorgt sind und ihre Beschwerden verlieren. Psychiatrisch erkrankte Patienten haben jedoch oft schon alles durch: von Klinikaufenthalten über medikamentöse Pirouetten bis hin zu Elektrokrampftherapien, Meditationen und Psychoanalysen. Nicht hat ihnen geholfen. „Ich will das nicht!“ Der Gedanke, dass der Suizidwunsch bei einem psychisch Kranken die Folge eines unaushaltbaren inneren Zustandes sein kann, ist schwer zu ertragen. Wir haben allzu oft die Vorstellung, dass wir die Psyche verändern könnten, wenn wir nur stark genug wollten und arbeiteten.
Der wirkungsvolle und wirkungslose Therapeut
Als Psychotherapeut und Psychoanalytiker lässt sich oft erleben, wieviel Veränderung durch eine Psychotherapie bewirkt werden kann. Als Therapeut hält man häufig die Hoffnung aufrecht, die der Patient selbst nicht mehr hat. Wenn die Therapie den Patienten jedoch nicht erreicht, wenn sie nichts verändert, nicht ausreichend hilft oder den Zustand zunehmend verschlechtert, entsteht ein Ohnmachtsgefühl, das vielleicht ebenso groß ist wie bei Ärzten in der Körpermedizin, wenn sie sagen müssen: „Wir können nichts mehr tun.“
Man fragt sich als Therapeut: Hätte ich die ernsthaften Anzeichen früher bemerken sollen? Habe ich die Anzeichen vielleicht verleugnet oder mir als Therapeut den Tod vielleicht unbewusst gar mitgewünscht, damit die schwierige Behandlung endet? Wollte der Patient mir nur etwas beweisen? Hätte ich den Rettungswagen oder die Polizei rufen sollen, um sie zum Patienten zu schicken? Alles, was man als Therapeut getan oder unterlassen hat, kann sich falsch anfühlen. Ein Patient, der unter Zwang zum hundertsten Mal in die Psychiatrie kommt, fühlt sich gequält. Nimmt er sich dennoch das Leben, kann das Gefühl entstehen, den Patienten zusätzlich belastet zu haben. Hat man die Situation als nicht so bedrohlich eingestuft und keine Zwangseinweisung eingeleitet, stellt man sich als Therapeut vor, dass es dem Patienten nach der kritischen Phase in der Psychiatrie vielleicht jetzt doch wieder besser ginge.
Oft habe ich in der Klinik erlebt, wie erleichtert alle waren, wenn ein Psychotherapeut des Teams einen Anti-Suizid-Vertrag mit einem Patienten geschlossen hatte. Ich bin Patienten begegnet, die sagten, dass ihnen solch ein Vertrag sehr gut getan und ihnen das Leben gerettet hat. Mein Gefühl zu solchen Verträgen war bisher jedoch immer, dass ich mit einem solchen Vertrag den Patienten nicht ernst nehmen würde und dass er nur Ausdruck meiner eigenen Hilflosigkeit wäre. So ein Vertrag wirkte auf mich immer wie ein Aktivismus zur Beruhigung des Therapeuten. Siehe hierzu auch: „Do no-suicide-contracts work?“ von McMyler, C. and Pryjmachuk, S. (2008).
Das Gedankenkarussell aus „Wenn und Aber“ und „Hätte ich doch“ und „Hätte ich doch nicht“ ist nach dem Suizid eines Patienten höchst aktiv. Das geht häufig auch den Kollegen und Supervisoren so – daher, können gerade sie oft besonders wenig helfen. Darüber schreibt z.B. Rebecca Clay in ihrem Beitrag „Coping with the Patient’s Suicide“ (Monitor on Psychology, September 2022).
Raum und Zeit
Man muss sich Zeit lassen. Über die Zeit werden sich klarere Bilder ergeben. Es kann hilfreich sein, sich zu erkundigen, wie genau der Patient/die Patientin gestorben ist. Manchmal melden sich Angehörige zum Gespräch und auch hier ist es Ermessenssache, ob man mit Angehörigen sprechen möchte oder nicht. Die Antwort hängt sicher auch von der Persönlichkeit des Patienten und der Angehörigen ab. Vielleicht möchte man den Angehörigen den Raum geben, ihre Vorwürfe und Schuldzuweisungen loszuwerden. Ähnlich wie Internisten von den Angehörigen beschuldigt werden, wenn ein Patient gestorben ist, nehmen auch Psychotherapeuten mitunter die Rolle des Schuldträgers an, was die Angehörigen entlastet.
Die Frage ist, ob man als Therapeut die Schuldzuweisungen hören kann und möchte. Mitunter fühlen sich Gespräche mit Kollegen und Supervisoren schuldzuweisender an als Gespräche mit Angehörigen.
Angehörigengespräche können sehr versöhnlich, traurig und bewegend sein und sowohl für den Angehörigen als auch für den Therapeuten ein wenig heilsam wirken. Gleiches gilt für die Frage der Beerdigung: Wenn Angehörige zur Beisetzung einladen, muss sich der Therapeut fragen, wie es ihm damit gehen würde. Auch hier kann die Entscheidung nur individuell ausfallen.
Der Psychiater Michael Kammer-Spohn weiss, wie es ist, einen Patienten durch Suizid zu verlieren. Er schreibt in der ZEIT (Nr. 37, 2013): „Ein Suizid eines Patienten lässt mich innerlich nicht so schnell wieder los. Ich habe schlaflose Nächte, bin nervös, Zweifel nagen an mir – und immer wieder erinnere ich mich an das Unglück. Ich bin eine Zeit lang unsicher im Beruf wie zu Hause … Doch die Angst, angeklagt zu werden, die bleibt. Ein juristisches Verfahren würde mich über Jahre belasten. Ebenso die Angst vor der ‚Rache‘ der Angehörigen. … Es ist eine Illusion, zu meinen, Glück und Gesundheit seien Rechte und von der Medizin einzufordern. Scheitern ist ein notwendiger Teil jedes Lebens. Auch jenes eines Arztes.“ Michael Kammer-Spohn, Psychiater, Chefarzt des Zentrums für Psychiatrie ZfP-Reichenau.
Nicht selten werden auch Therapeuten von allen möglichen spirituellen Phantasien begleitet: Ob der Patient einem nun von oben irgendwie zuschaut? Darf ich wieder Freude haben und es mir gut gehen lassen? Darf ich meine Partnerschaft und mein Familienleben genießen, obwohl der Patient so einsam war? Solche und andere Fragen können auftauchen und den Therapeuten verwirren oder gar verfolgen. „Werde ich den Patienten innerlich jemals los? Wird der Patient/werde ich jemals Ruhe finden?“, fragt man sich vielleicht.
Wie auch immer der eigene Weg im Umgang mit dem Patienten aussieht: Die Wahrheitssuche, Pausen, Stille, Gespräche mit anderen, innere Dialoge, Schweigephasen und Alltagsbeschäftigungen helfen. Der Psychoanalytiker Christopher Bollas schreibt in seinem Buch „Wenn die Sonne zerbricht“ (Klett-Cotta, 2019), dass der Alltag für psychotische Patienten und für die, die mit ihnen arbeiten, etwas sehr Tröstliches hat. Ein Stückchen Käsekuchen und ein gutes Fernsehprogramm oder der Gang in den Baumarkt können einen gerade in der Akutphase von den quälenden Gedanken und Gefühlen zumindest etwas wegbringen.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
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- Zerstörungswut: Wenn’s schon fast kaputt ist, will ich’s ganz kaputt machen
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Links:
„There are two kinds of psychologists: those who have had patients die of suicide and those who will if they practice long enough.“ Samuel Knapp, zitiert aus:
Rebecca A. Clay (2022)
Coping with a patient’s suicide.
Monitor on Psychology, Vol 53, No 6, page 79
www.apa.org/monitor/2022/09/coping-patient-suicide
Michael Kammer-Spohn
Selbsttötung – Ist der Psychiater schuld?
Zeit Nr. 37/2013, 5.9.2013
www.zeit.de/2013/37/patient-suizid-psychiater-michael-kammer-spohn
Suizid belastet Auch Psychotherapeuten
gesundheitsberatung.com/psychologie/news-…
Harry T. Hunt (2007):
“Dark Nights of the Soul”:
Phenomenology and Neurocognition of Spiritual Suffering in Mysticism and Psychosis.
Review of General Psychology, Vol. 11, Issue 3
https://doi.org/10.1037/1089-2680.11.3.209
journals.sagepub.com/doi/abs/10.1037/1089-2680.11.3.209
McMyler, C. and Pryjmachuk, S. (2008):
Do ’no-suicide‘ contracts work?
J Psychiatr Ment Health Nurs. 2008 Aug;15(6):512-22
doi: 10.1111/j.1365-2850.2008.01286.x.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/18638213/
Paul Götze & Ulrich Lamparter (2020):
Suizid – ein Thema für die Psychoanalyse
Forum der Psychoanalyse, 7. Mai 2020, Volume 36, pages 119–122
link.springer.com/article/10.1007/s00451-020-00392-8
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 1.7.2023
Aktualisiert am 3.8.2025
One thought on “„Mein Patient hat sich umgebracht.“ Wie gehen Psychotherapeuten mit dem Suizid ihrer Patienten um?”
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Es geht um das, was unser Menschsein ausmacht. Und das leidet, weil einem der andere Wert ist.
Solche „Antisuizidverträge“ sind in sich schon pervers, weil oft jede Behandlung oder Hilfe abgelehnt wird von therapeutischer Seit aus, wenn man so etwas nicht unterschreiben kann oder will.
Es geht denen um die Versicherungstechnische Verantwortlichkeit.
Der Mensch als solches ist denen gleich.
„Friss Vogel oder stirb.“ – Wobei dies Therapeuten bei einigen doch Erfolg haben, weil die Menschen wollen und es auch können oder es gelernt haben, denen nach dem Mund zu reden.
Das ZI Mannheim sagte mir mal:“ 1/2 Stunde pro Woche investieren wir nicht in einen Menschen.“ Vor 2 Jahren wurde dort ein Patient erschlagen von der Polizei, weil er sich dem Zugriff der Klinik entziehen wollte und der Arzt wegen angeblicher Suizidalität die Polizei rief.
Ein Menschenleben gilt nichts.
Wer darunter leidet und an einem anderen „hängt“ zeigt einfach eines: sein Menschsein.