Es gibt Kräfte in mir, die sind stärker als ich

„Da bin ich vor dem Chef ausgerastet – das hat mich meinen Arbeitsplatz gekostet“, sagt ein Klient im Coaching. „Ich kam einfach nicht mehr aus meinem Bett raus. Ich konnte diese Ängste nicht mehr steuern“, erfahren wir. Wir alle kennen Kräfte in uns, die stärker sind als wir selbst, also stärker als unser Wille oder unser bewusstes Ich.

„Wenn ich eine Panikattacke habe, kann mich niemand mehr erreichen. Und auch ich selbst kann noch so vernünftig auf mich einreden – ich kann nichts tun, außer zu warten, bis die Panik vergeht.“ Hier passiert vieles, was wir nicht sehen können oder wollen. Wir sagen: „Was ist das denn schon wieder?“, und meinen: „Das soll nicht sein!“ Wenn wir uns sanftmütiger fragen: „Was könnte das sein?“, sieht es vielleicht anders aus (siehe Gabor Maté über Compassionate Inquiry, Youtube).

Vielleicht kann man sagen: Je schwerer die Kindheit, desto stärker erscheinen uns diese Kräfte, die uns scheinbar oder auch real manchmal alles zunichte machen. Das Problem mit diesen Kräften ist, dass wir da oft nicht genauer hinschauen wollen, denn es handelt sich meistens um negative Kräfte, um komplizierte Affekte und aversive Gefühle.

Wenn wir übermannt werden von unseren inneren Kräften, können wir manchmal nicht viel tun. „Ich will gar nicht das, was ich hier gerade will“, sagen wir. Es zieht uns in die Ferne, obwohl wir so manche Trennung gar nicht wollen. Aber genauso, wie wir meistens weiter atmen, so können wir uns weiterhin selbst beobachten. Wenn wir uns vornehmen, hinzuschauen und zu beobachten, kann etwas ganz Neues mit diesen Kräften passieren: Sie sind zwar da, aber wir können sie wahrnehmen, sehen, fühlen, innerlich beobachten und vielleicht irgendwann sogar beschreiben. Allein das Beobachten-Können gibt uns das Gefühl, nicht ganz passiv, ohnmächtig und wehrlos zu sein.

Psychoanalyse, Meditation, Yoga, Qi Gong – alles Mögliche kann helfen, sich selbst zu beobachten.

Die Wahrheit lieben

Durch die Psychoanalyse habe ich Eines zu schätzen gelernt: die Wahrheit. Was das genau ist, darüber streiten sich ja die Geister, aber ich denke, es gibt eine „innere Wahrheit“, die wir nicht verleugnen können. Zu Beginn einer Psychoanalyse möchte man vieles nicht hören – zu groß ist der Schmerz, zu stark die Weglauftendenz. Doch wenn wir einmal wirklich begriffen haben, dass Verleugnen nicht hilft, sondern dass das Anschauen der Wahrheit uns weiterbringt und wieder handlungsfähig macht, dann können wir uns vielleicht auf einmal an den unmöglichsten Stellen freuen.

„Ich hörte mich sprechen und sah mich tun … Ich wollte das so doch gar nicht!“

Manche Kräfte in uns verhelfen uns zu einer Kraft, die wir vorher nicht kannten. Es ist die Kraft, sich der Wahrheit zu stellen und zu merken: Dieses Stückchen Wahrheit bringt mich wieder weiter. So kann die Angst vor den ungeheuren inneren Kräften manchmal langsam zurückgehen, weil man weiß: Diese Kräfte haben ihre Berechtigung und sie bringen mich weiter, wenn ich sie nur beobachten kann.

Häufig rührt die nicht zu steuernde oder zu bändigende Kraft in uns aus einer schädigenden Beziehung am Anfang unseres Lebens. Und manchmal, in einer guten Beziehung, spüren wir, dass es noch etwas Größeres gibt als unsere innere zerstörerische Kraft: die Kraft des anderen, der uns über den Rücken streicht und unseren inneren Tumult beruhigen kann. Doch das ist oft eine „Luxus-Erfahrung“ – schwer traumatisierte Menschen sind oft auf sich alleine gestellt und gezwungen, ganz eigene Wege zu finden.

Stärker als der Wille: unser Körper

Bis zu einem gewissen Zeitpunkt hab‘ ich’s im Griff: Die Angst ist spürbar, aber handhabbar. Die Übelkeit macht sich bemerkbar, vielleicht habe ich mir einen Virus eingefangen, aber ich kann mich zusammenreißen. Der Druck ist da, aber ich kann warten. Die Kurve steigt an. Immer weiter. Und plötzlich, wie in einem Wehensturm, schwappt es über: Es ist eindeutig eine Magen-Darm-Grippe, ich muss alles stehen und liegen lassen. Ich renne und ergebe mich. Es ist eine Panikattacke, ich muss den Raum verlassen.

Dieser Punkt, an dem es zu viel wird und uns unser Wille verlässt, ist ein Graus. Immer wieder hat Freud so recht: Wir sind nicht Herr in unserem Haus. Vor allem nicht mehr ab einem bestimmten Punkt. Wir versuchen alles, um uns zu kontrollieren, doch immer wieder kommen wir an diesen Punkt, wo das andere größer wird als wir es sind.

Der ursprüngliche Wille verändert sich. Er passt sich dem Übermächtigen an: Jetzt will ich auch nur noch ins Bett, verzichte gerne auf den Termin, auf den ich mich so gefreut hatte. Nun will ich nicht mehr für Frieden kämpfen und mich zusammenreißen, nun will ich entsetzlich wütend sein. Nun will ich die Augen nicht mehr aufhalten, da der Schlaf, die Schwäche über mich kommt. Mein Wille kämpft nicht mehr. Er hat aufgegeben.

Wenn ich mich erhole, möchte ich es das nächste Mal besser machen. Länger durchhalten. Willensstärker sein, bewusster sein, vorbeugen. Aber geht das? Wir setzen uns unter Druck, wenn wir vorhaben, etwas im Griff zu haben. Wir können das Leben nicht kontrollieren. Wenn wir das akzeptieren, spüren wir vielleicht, wie wir eine Art von „Kontrolle“ erhalten, wenn wir die Kontrolle aufgeben.

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 5.9.2018
Aktualisiert am 27.12.2025

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