
Im ersten Lebensjahr stehen Saugen, Nuckeln und das Verlangen, alles in den Mund zu nehmen, an oberster Stelle. Das Baby erkundet seine Welt mit dem Mund – es ist in der „oralen Phase“ (os [lateinisch] = Mund). Geprägt wurde der Begriff von Sigmund Freud. Zunächst überwiegt das passive „Bekommen“. Mit dem Einsatz der Hände und mit den Zähnchen kommt das aktive „Sich-Nehmen“ hinzu. Begierig trinkt das gesunde Kind an der Brust der Mutter oder aus dem Fläschchen. Es nimmt die gute Nahrung in seinen Körper auf. Aber es passiert noch mehr: Der Säugling nimmt dabei die Mutter in seine Psyche auf. Die „Liebe geht ganz durch den Magen“, das Kind hat die Mutter „zum Fressen“ gern.
Spätere Essstörungen oder Ängste um „vergiftetes“ Essen können mit den Beziehungserfahrungen mit der Mutter zu tun haben.
Die Nähe zwischen Mutter und Kind ist während der Mahlzeiten im Säuglingsalter sehr groß. Das Baby verbringt viel Zeit damit, sich die Mutter ganz genau anzusehen. Im Kind entsteht ein Bild von der Mutter und zugleich eine Vorstellung (Repräsentanz) davon, wie es ist, Zuwendung von ihr zu bekommen. Das Bild und das dazugehörige Körpergefühl geben dem Kind später Sicherheit. Die Mutter ist somit auch innerlich da, wenn sie äußerlich weg ist. Bald kommen die Händchen mehr und mehr zum Einsatz. Die Welt wird „hand-hab-bar“ und „be-griffen“.
Die Grenze zwischen Mutter und Kind entsteht
Doch die Mutter ist nicht immer gleich verfügbar. Immer wieder ist das Kind frustriert, weil die Mutter nicht alle Wünsche erfüllen kann. Die Brust kommt nicht immer sofort, wenn Hunger da ist. Dieses „Realitätsprinzip“ führt dazu, dass das Kind lernt, sich selbst von anderen Menschen zu unterscheiden. Gleichzeitig lernt es, dass die „gute Mutter“, die manchmal die Bedürfnisse befriedigt, dieselbe Person ist wie die „böse Mutter“, die manchmal keine Zeit hat, die nicht auf das Kind eingehen kann oder abwesend ist.
Wenn die Mutter viele Probleme hat und seelisch über lange Zeit leidet, kann sie nicht ausreichend auf ihr Kind eingehen. Es fühlt sich dann allein und lernt sich selbst und seine Emotionen nicht so gut kennen wie ein Kind, dessen Mutter emotional verfügbar ist. Mangelt es zu sehr an früher guter Bindung und somit an einem guten Gespür für sich selbst, können sich später Depressionen entwickeln.
Orale Phase und Depression
Depressionen hängen nach psychoanalytischer Theorie mit oralen Themen zusammen. Das heißt nicht, dass eine gestörte orale Phase zwangsläufig Depressionen zur Folge hat oder dass Depressionen immer auf eine Störung in der oralen Phase zurückzuführen sind. Aber die Themen „Versorgen- und Versorgtwerden“ sowie „Abhängigsein und Selbstständigkeit“ hängen eng zusammen.
Erwachsene depressive Menschen erleben sich manchmal so hilflos und passiv „wie ein Baby“. Eine Depression zu haben heißt häufig, nicht ausreichend (aggressiv) „zubeißen“ zu können, die eigenen Bedürfnisse nur wenig zu kennen, zu wenig nach erwünschten Zielen zu greifen und sich nicht ausreichend abgrenzen (Zähne zeigen) zu können. Durch das fehlende Gespür für Abgegrenztheit und Trennung kommt es auch zu einem fehlenden Gespür für Trauer. Interessanterweise lindert sich die Depression häufig, wenn depressive Menschen lernen, Trauer zu spüren.
Viele depressive Menschen haben häufig eine große Sehnsucht danach, gut versorgt zu werden, aber sie wissen nicht, wie sie diesen Wünschen Ausdruck verleihen können. Zu groß wird dann das schlechte Gewissen. Viele Betroffene wehren den Wunsch nach Zuneigung und Versorgung also ab. „Das gehört sich nicht“ oder „das darf man sich nicht wünschen“, glauben sie. Wenn es an Zuneigung, Hilfe und Versorgtwerden mangelt, dann wird diese Sehnsucht manchmal in Aktion verwandelt: Depressive Menschen können andere oft sehr liebevoll und aufopfernd versorgen, umhegen und pflegen. Unter Umständen bekochen sie sich und andere sehr gerne.
Das Versorgen der anderen kann die unbewussten Schuldgefühle vieler Betroffener lindern.
Wer depressiv ist, mag unter Umständen besonders gerne etwas im Mund haben – Zigaretten, Schokolade oder Alkohol. Hier zeigt sich, wie eng die Depression mit „oralen Themen“ (Versorgung, Ernährung, „Haben-Wollen“) zusammenhängt. Auf die „orale Phase“ folgt in der Kindesentwicklung die „anale Phase“ – und hier geht es genau um die Themen, die bei vielen depressiven Menschen zu kurz kommen: um Eigenständigkeit, Abgrenzung und das Erobern der Welt.
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- Buchtipp: Das Orale
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Buchtipp:
„Liebst Du mich, auch wenn ich wütend bin?
Was gefühlsstarke Kinder wirklich wollen.“ Ein Buch von Dunja Voos

Links:
La Leche Liga
Die Geschichte des Abstillens
Abstillen – wann und wie?
Barbara Diepold:
Depression bei Kindern
Psychoanalytische Betrachtungen (PDF)
Zum Nachlesen:
Siegfried Elhardt:
Tiefenpsychologie
5. Der Hunger und seine Folgen
Kohlhammer-Verlag Stuttgart 2001: 76-80
Dieser Beitrag wurde erstmals verfasst am 8.9.2012
Aktualisiert am 24.6.2021
Konsti meint
Hallo.
Besonders bei einer Medizinseite würde ich mir wünschen dran zu denken, dass 1. Die Mutter nicht immer die nächste Bezugsperson ist und damit alle Probleme des Kindes auf die Mutter zurück zu führen sind (das ist vllt bei Freud selbst so gewesen aber entspricht nicht der Realität), dass 2. es nicht immer eine Mutter gibt (schwule und queere Eltern) und dass 3. Die stillende/gebährende Person nicht immer eine Frau oder die Mutter ist, es gibt auch trans Personen z.b. trans Männer, die Kinder gebären und stillen.
Und ja Freud hat das so formuliert, aber Freud war selbst eine extrem problematische Person mit viel Sexismus in den Texten und davon abgesehen denke ich Texte und Theorien gehören an die derzeitige Realität angepasst und weiterentwickelt.
Solche Texte inklusiver zu schreiben, führt dazu, dass queere und trans Elternschaft normalisiert wird und somit die Gewalt und der Hass denen diese Personen ausgesetzt wird, endlich ein bisschen weniger wird.
Lg,
Konsti
Dunja Voos meint
Liebe Goldi,
vielen Dank für Ihre Frage. Ich denke, jede Mutter kennt es, das Gefühl zu haben, etwas verpasst zu haben, nicht genug da gewesen zu sein, nicht „richtig“ beim Baby gewesen zu sein usw. Es ist schwer, diese Gefühle aushalten zu lernen, doch das bewusste Bedauern kann helfen. Wenn es gelingt, diese Gefühle und Vorstellungen nicht abzuwehren, sondern sie anzuerkennen, lässt die Schärfe mitunter nach. Wichtig ist es, über sich und das Kind wahrheitsgemäß nachdenken zu können und in Beziehung zu bleiben.
Was Sie schreiben von „unbewussten Phasen beim Stillen“ könnte auch bedeuten, dass Sie oft eine träumerische Haltung eingenommen haben. Innerlich waren Sie vielleicht sehr mit sich, aber ohne es zu merken wahrscheinlich auch mit Ihrem Kind beschäftigt. Solche träumerischen Phasen sind jedoch sehr wichtig, denn dabei findet die wertvolle Kommunikation von „unbewusst zu unbewusst“ statt.
Goldi meint
Vielen Dank für diesen hilfreichen Text.
Was kann ich tun wenn ich das Gefühl habe dass mein Sohn (4 Jahre) in der orale Phase „zu kurz gekommen „ ist?
Ich war sehr mit mir & meine eigenen Themen beschäftigt & hatte lange unbewusste Phasen beim Stillen…
Herzliche Grüße
Goldi
Dunja Voos meint
Die Frage, ob die Depression genetisch vererbt wird oder ob sie von der Mutter durch ihr Verhalten weitergegeben wird, lässt sich nicht so leicht beantworten. Sicher spielen viele Faktoren eine Rolle.
Häufig findet man eine „vorgetäuschte“ genetische Vererbung: Kinder depressiver Mütter zeigen selbst früh depressives Verhalten. Sie spiegeln die Mutter und nehmen psychisch auf, was die Mutter ihnen vorgibt. Wenn diese Kinder jedoch – z.B. in einer Therapie – neue Beziehungserfahrungen machen können, kann die Depression zurückgehen.
Zudem weiß man heute, dass das mütterliche Verhalten auch Einfluss auf die Gene des Kindes hat. Man kann sich das etwa so vorstellen wie bei einer Schuppenflechte: Es gibt Menschen, die Gene tragen, die an der Schuppenflechte beteiligt sind. Ob die Schuppenflechte jedoch ausbricht, also ob die Gene dann auch etwas ausdrücken, hängt von vielen Faktoren ab.
Der Vorteil dieser Sichtweise: Die Depression ist kein Schicksal, sondern kann durch neue Beziehungserfahrungen zurückgehen.
Der Nachteil dieser Sichtweise: Auf Mutter und Vater lastet noch mehr Druck, alles „richtig“ zu machen und Schuldgefühle können dadurch größer werden. Wichtig ist es, die Eltern von den Schuldgefühlen zu entlasten. Eltern, denen es nicht gut geht, benötigen selbst Entlastung, Ermutigung und möglicherweise auch eine Therapie. So kann man der „Vererbung“ der Depression vorbeugen.
xyz meint
Wird inzwischen nicht viel mehr angenommen, dass Depressionen teilweise auch genetisch bedingt sind? Kann die Häufung zwischen depressiven Kindern und Müttern nicht eher daher rühren, als durch mangelnden Umgang durch Kraftlosigkeit der Mutter verursacht zu sein?
Dunja meint
Liebe Ramona,
soeben habe ich eine Link-Empfehlung hinzugefügt. Vielleicht beantwortet das Familienhandbuch Ihre Frage.
Viele Grüße von Dunja Voos
Ramona Klein meint
…ich möchte mehr über die Bedeutung der oralen Phase bezüglich des Stillens wissen…