
In der Psychoanalyse fällt häufig der Begriff „Abstinenz“. Im weitesten Sinne bedeutet „Abstinenz“, dass der Analytiker keine private – vor allem aber auch keine sexuelle – Beziehung mit dem Patienten eingeht. Der italienische Psychoanalytiker Gaetano Benedetti (1920-2013) schreibt: „Die Abstinenzregel bleibt grundsätzlich gültig als Selbstdisziplin, als Selbstreflexion, als ständige Überprüfung der unbewussten Motivationen, als Verzicht auf narzisstische Interventionen“ (Die Kunst des Hoffens, Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 158).
Viele angehende Analytiker*innen sind anfangs verunsichert und vielleicht überstreng mit sich selbst. „Also atmen ist noch erlaubt“, hörte ich mal von einem Supervisor. „Freude zeigen auch.“
Einen guten Überblick über „Die Geschichte der Abstinenzregel“ (2003, PDF) liefert die Psychoanalytikerin Iris Graurock vom Dresdener Institut für Erwachsenenbildung und Gesundheitswissenschaft e.V.
Gefühle dürfen sich ausbreiten
„Die Patientin hatte mir gegenüber Schuldgefühle, aber ich sagte ihr: ‚Es ist schon ok.'“, erzählt die Psychotherapeutin. Der Supervisor sagt: „Damit haben Sie ihr die Chance genommen, das Gefühl wirklich wahrzunehmen. Sie haben direkt dafür gesorgt, dass sich das Schuldgefühl bei ihr gelegt hat und dass Ihr eigenes unangenehmes Gefühl dadurch ebenfalls abnahm. Sie wollten sie nicht ’schmoren‘ lassen, wollten nicht ’sadistisch‘ sein, konnten es nicht aushalten, dass sich die Patientin schuldig fühlt. Denn irgendwie fühlten Sie sich dabei selbst schuldig. Und das wollten Sie los werden.“
Aus einem sehr eng gefassten Abstinenzverständnis heraus könnte das bereits ein Bruch der Abstinenz sein.
Iris Graurock schreibt:
„Das analytische Abstinenzgebot regelt den Umgang des Analysanden und des Analytikers mit ihren Gefühlen, Phantasien und Impulsen, die nicht in unmittelbare Abfuhrhandlung umgesetzt werden dürfen, um sie analysieren zu können.“
Anders formuliert: Dem Patienten und dem Analytiker ist oft mehr damit geholfen, wenn Unangenehmes und Schmerzhaftes erst einmal bestehen bleiben darf. Denn nur so kann es jeder für sich fühlen und nur so kann es betrachtet und analysiert werden.
„Die Behandlungskunst umfasst die Fähigkeit, das Verhältnis von Intimität und Distanz richtig zu dosieren“, schreibt Iris Graurock.
Sie zitiert den Psychoanalytiker Johannes Cremerius (1918-2002):
„Zu viel Abstinenz, und der Analytiker reduziert sich auf den distanzierten Beobachter; zu wenig Abstinenz, und der Analytiker inflationiert zum Co-Akteur des neurotischen Prozesses.“
Zurückhaltung und Nachdenken sind gefragt
Mit Abstinenz ist also hier eine Art „Zurückhaltung“ gemeint. Der Analytiker soll sich sozusagen davon abhalten, seinen Wünschen nach „Entladung“ nachzukommen. Er darf sich nicht zum „Freund“ des Patienten machen, so wie eine Mutter eben „nur“ Mutter der Tochter ist und nicht „beste Freundin“.
„Die Kur muss in der Abstinenz durchgeführt werden.“ Sigmund Freud, Bemerkungen über die Übertragungsliebe. Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse III, 1915
Anna Freud forderte vom Analytiker „einen gleichmäßigen Abstand zu Es, Ich und Über-Ich des Patienten“. (Iris Graurock, S. 5)
Nicht zu nah dran, nicht zu weit weg
Iris Graurock erinnert an die Sage von Dädalus und Ikarus. Der griechische Handwerker Dädalus baute sich und seinem Sohn Flügel aus Federn, die mit Wachs zusammengehalten wurden. So durften sie nicht zu hoch fliegen, da sonst die Sonne das Wachs zum Schmelzen gebracht hätte. Wären sie jedoch zu tief geflogen, hätte das Meereswasser die Flügel beschwert.
Verführung und Entbehrung
Der Analytiker wird vom Patienten immer wieder „verführt“, alte Lebensspiele mitzuspielen. Da, wo die Worte noch fehlen, wird gehandelt. Der Analyitiker muss einerseits aufpassen, dass er dort nicht mit einsteigt. Andererseits muss er sich auch teilweise verwickeln lassen, damit er erleben kann, was da passiert. Der Analytiker denkt darüber nach und kann oft im Nachhinein die Situation analysieren, deuten und verstehen.
Wehrlos
Der Patient wiederum gibt sich hin und versucht, nicht ständig alles abzuwehren. Er vertraut sich dem Analytiker an. Dadurch wird er sehr verletzlich und ist darauf angewiesen, dass der Analytiker verantwortungsvoll damit umgeht. Der Analytiker muss auf „Lob“ und Bestätigung ebenso verzichten können wie auf die Befriedigung seiner körperlichen und aggressiven Bedürfnisse. Er hält sich zurück, er ist abstinent.
Die Lehranalyse – eine besondere Situation. In der Psychoanalytischen Ausbildung (Beispiel DPV) gilt das Non-Reporting-System: Der Lehranalytiker ist nur für die Lehranalyse zuständig. Er hält sich vollkommen aus allen anderen Ausbildungsangelegenheiten seines Analysanden heraus. Auch das ist Abstinenz.
Iris Graurock führt die Abstinenz-Definition der Psychoanalytikerin Thea Bauriedl (geb. 1938) an:
„Abstinenz bedeutet die Trennung vom Patienten und die Eigenständigkeit des Analytikers. Der Analytiker soll sich nicht verwenden lassen und den anderen nicht dazu verwenden, um das eigene Gleichgewicht herzustellen. Der Analytiker verzichtet auf das Manipulieren und hat die Fähigkeit, allen Manipulationen zu widerstehen.“
Eine hohe Anforderung
Das klingt nach einer nahezu übermenschlichen Forderung. Jeder Analytiker hat hierzu wohl seine eigenen Ansichten und Techniken. Im Grunde ist der „neue“ Abstinenzbegriff eine Frage der Selbstdisziplin. Hier kann das Erlernen von Meditationstechniken sinnvoll sein. Das richtige, sinnvolle „Nicht-Reagieren“ will gelernt sein. Liest man Texte von Analytikern, die mit Psychotikern arbeiten (z.B. von Neville Symington oder Harold Searles), dann wird man auch andere Einstellungen zu diesem Thema finden.
Sich selbst wahrzunehmen ist wichtig
Psychoanalytiker zu sein heißt auch, sich gut um sich selbst zu kümmern, um für den Patienten da sein zu können.
Iris Graurock schreibt: „Wichtig ist wohl ein zufriedenes eigenes Leben. Da liegt meine Verantwortung, und für mich heißt das, mich zu spüren, meine Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse ernst zu nehmen …“
Auch Analytiker haben nicht immer ein zufriedenes Leben. Schicksalsschläge sowie Zeiten der Einsamkeit und Krankheit begleiten auch sie (siehe: Sorgen Sie für ein gutes Privatleben). Auch Patienten können dem Analytiker neue Erkenntnisse vermitteln und ihm somit unbemerkt „Therapeut“ sein. Dies kann der Analytiker ruhig dankbar aufnehmen. Es würde erst dann zum Bruch der Abstinenzregel, wenn er gezielt nach Trost und Bestätigung durch den Patienten sucht.
„Die in der Abstinenzregel zum Ausdruck kommende Aufgabe kann der Therapeut nur lösen, wenn er sich seine Gegenübertragungsgefühle bewusst macht und seine Reaktionen bewusst kontrolliert.“ (Iris Graurock, S. 5)
Muss es anstrengend sein? Ja und Nein.
Die Theorien um die Abstinenzregel klingen irgendwie anstrengend. Und natürlich ist es auch anstrengend für den Analytiker – so, wie es für eine Mutter anstrengend ist, Mutter zu sein. Aber es ist eben nicht alles.
Ohne den Begriff „Abstinenz“ zu verwenden, könnte man vielleicht sagen: Ich als Analytiker respektiere den Patienten mit allem, was dazu gehört. Ich komme ihm nicht zu nahe, dringe nicht in ihn ein. Und ich respektiere auch meine eigenen Grenzen. Ich nehme Unsicherheiten bewusst an. Ich bin neugierig und begebe mich mit dem Patienten in seine Welt. Wie versteht er seine Welt? Wie ist er dort hingekommen? Welche Ideen habe ich? Wie sieht die emotionale Wahrheit des Patienten aus und wie meine eigene? Wo entsteht Resonanz? Wo bekomme ich als Analytiker Angst, weil Eigenes unerledigt ist? Beschäftigt man sich mit solchen Fragen, wird es wieder interessant und wir kommen weg vom „Nicht-Dürfen“ und „Beachten-Müssen“.
Vielleicht kann man die „Abstinenzregel“ mit einem Konzert vergleichen: Alle müssen pünktlich sein, gebügelte Konzertkleidung tragen. Jeder muss geübt haben. Jeder muss sein Instrument stimmen und dem Dirigenten folgen. Das ist der Rahmen. Aber letzten Endes kommen alle zusammen mit der gemeinsamen Sehnsucht nach der Musik, die erklingt, die uns bewegt, die uns fort trägt in ferne Traumwelten und die uns verbindet.
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Linktipp:
Rätsel des Unbewussten
Folge 20: Das Abstinenzgebot
Ein Podcast von Dr. Cécile Loetz & Dr. Jakob Müller
Dieser Beitrag erschien erstmals am 15.9.2016
Aktualisiert am 22.7.2020
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