
Wohl die meisten Menschen haben in ihrem Leben schon Erfahrungen gemacht, von denen sie sagen: „Das muss Telepathie (Gedankenübertragung) gewesen sein.“ Wohl jeder hat schon erlebt, dass das Telefon klingelt und es ist derjenige dran, an den man gerade dachte. Manchmal fühlt sich das unheimlich an: Was, wenn es Telepathie gibt? Dann kann man doch auch Böses damit anstellen, oder?
Gerade in der Psychoanalyse, in der es um die Kommunikation von „Unbewusst zu Unbewusst“ geht und wo eine große emotionale Nähe hergestellt wird, kommen telepathisch anmutende Ereignisse häufig vor. Auch Sigmund Freud machte sich darüber Gedanken.
„Es wäre so schön, wenn wir in der Gesellschaft eine Art ‚Coming Out“ hätten, was Telepathie betrifft. Es wäre so schön, wenn auch Wissenschaftler zugeben würden: Ja, ich kenne das.“ So ähnlich formuliert es der Forscher Rupert Sheldrake in dem Youtube-Video „Beyond the Limits of the Ordinary“, 5.8.2019, https://youtu.be/V21dVAmI3Bc
Gut erklärbar
„Gruselig – das ist ja wie Gedankenübertragung“, sagt eine Psychoanalyse-Patientin, die auf der Couch liegt. Aus Sicht des Psychoanalytikers, der hinter der Couch sitzt, war es keine Gedankenübertragung, denn das, was die Patientin vorher erzählte, führte ihn automatisch zu den Gedanken, die er dann laut äußert.
Häufig baut sich ein Bild auf und wenn der Analytiker seine Deutung gibt, sagt der Patient: „Da musste ich auch gerade dann denken.“ Oder aber der Analytiker sagt infolge der Erzählungen des Patienten, dass ihm gerade Ähnliches durch den Kopf ging. Man könnte hier an Gedankenübertragung denken, aber wenn man den Dialog genau verfolgt, dann ist meistens klar, wie das gemeinsame Denken zustande kam. Wenn jemand sagt: „Da steht was mit einem Dach auf der Wiese“, dann denken wohl die meisten an ein Haus, eine Hütte oder einen Stall. Hier werden innere Bilder vervollständigt.
Nicht gut erklärbar
Dann aber gibt es die Begebenheiten, die nicht so gut erklärbar sind: Paare träumen vielleicht dasselbe. Die Ehepartnerin spürt, dass ihr Mann in der Ferne verunfallt. Zwei Patienten träumen fast dasselbe.
Sigmund Freud: „Aber ich habe nie einen »telepathischen« Traum gehabt.“ Traum und Telepathie (1922)
Und:
„Bedeutsamer erscheint mir allerdings eine andere Tatsache, daß ich nämlich während meiner ungefähr siebenundzwanzigjährigen Tätigkeit als Analytiker niemals in die Lage gekommen bin, bei einem meiner Patienten einen richtigen telepathischen Traum mitzuerleben.“ Sigmund Freud: Traum und Telepathie (1922) https://www.gutenberg.org/files/31560/31560-h/31560-h.htm
Sigmund Freud schreibt in seiner 30. Vorlesung (Traum und Okkultismus): „Der telepathische Vorgang soll ja darin bestehen, dass ein seelischer Akt der einen Person den nämlichen seelischen Akt bei einer anderen Person anregt. Was zwischen den beiden seelischen Akten liegt, kann leicht ein physikalischer Vorgang sein, in den sich das Psychische an einem Ende umsetzt und der sich am anderen Ende wieder in das gleiche Psychische umsetzt. Die Analogie mit anderen Umsetzungen wie beim Sprechen und Hören am Telephon wäre dann unverkennbar.“
Die Angst vor der Telepathie
Viele Menschen haben Angst vor der Telepathie. Viele Menschen mit psychotischen Schüben haben das Gefühl, andere könnten ihre Gedanken lesen oder das Gefühl, es würden ihnen ihre Gedanken entzogen werden. Telepathie hängt auch eng mit der Vorstellung zusammen, man könnte jemand anderem böse Gedanken schicken und ihn beeinflussen (siehe: Über das Gefühl, dass ein anderer in die eigene Seele eindringt.)
Freud beschreibt das Empfinden eines Jungen, der eine Handlung ausführte, die zeitlich mit den Gedanken der Mutter zusammenhingen: „… die Handlung hatte sich wie ein Fremdkörper in das Leben des Kindes an jenem Tage eingedrängt.“
Freud: Psychoanalyse und Telepathie
Vor der Telepathie fürchten sich besonders psychisch geschwächte Menschen, die vielleicht Eltern hatten, die ihnen immer sagten, sie seien für sie „wie aus Glas“. Es sind Menschen mit wenig Rückhalt und einem geschwächten Ich, denen der Gedanke an die Telepathie besonders große Angst macht. Sie fühlen sich oft „bröckelig“ und „dünnhäutig“ und es mangelte ihnen an einer vertrauensvollen und befriedigenden Beziehung zur Mutter.
Der Psychoanalytiker Michael Balint beschreibt anschaulich, wie „Telepathie“ in dem Moment auftrat, als die Beziehung zwischen Patient und Analyitker besonders angespannt war:
„The patient in his helpless dependence reacted to this by renewed efforts to win the analyst’s full attention, and in this very tense situation, bordering on despair, apparently telepathic and clairvoyant phenomena occurred.“ | „Der Patient in seiner hilflosen Abhängigkeit reagierte mit immer neuen Anstrengungen, um die Aufmerksamkeit des Analytikers zu gewinnen. Und in dieser sehr angespannten Situation, nahe der Verzweiflung, geschahen telelapthische und hellseherische Phänomene.“ (Michael Balint 1955: Notes on Parapsychology and Parapsychological Healing. Siehe unten.)
Auch in meinem Blogbeitrag „Beängstigende Telepathie: Das Nicht-Verstandenwerden ist das Problem“ schreibe ich darüber, wie als telepathisch empfundene Geschehen dann auftreten, wenn es an verstehender Bindung fehlt. Vielleicht hängen deswegen die Themen Angst, Psychose und Telepathie so eng zusammen.
Man könnte die Schwäche des psychischen Schutzraums vielleicht mit der beschädigten Haut des Neurodermitikers vergleichen: Durch die Neurodermitis ist die äußerste Barriere geschwächt und Äußeres wie z.B. Fruchtsäuren, werden als schmerzhaft empfunden. Es gibt Tage, da ist es, als sei unsere Seele „dünnhäutig“ – sie reagiert empfindlicher auf äußere Einflüsse als sonst.
Können Gefühle der Verlassenheit zur Telepathie führen?
Michael Balint sieht telepathische Phänomene im Zusammenhang mit einer problematischen Beziehung wie sie zum Beispiel in der Psychoanalyse auftauchen kann. Er beschreibt in seinem Beitrag „Notizen zur Parapsychologie“, dass ein Patient telepathische Fähigkeiten entwickelte in einer Phase, in der sich der Patient von ihm als Analytiker verlassen fühlte:
„Not every patient is capable of producing so wholesome a shock for his analyst, but in my experience those who are able to do so resort to this method only in these almost desperate dependent situations.“
(Frei übersetzt:) „Nicht jeder Patient ist in der Lage, für seinen Psychoanalytiker einen solchen Schock (Anmerkung: durch telepathische Phänomene) zu produzieren. Aber meiner Erfahrung nach greifen die Patienten nur in Situationen der verzweifelten Abhängigkeit darauf zurück.“
„Since I have become aware of these dynamic connections I have not met any more telepathic phenomena in my practice.“
„Nachdem mir diese Dynamik klar wurde, habe ich in meiner Praxis keine telepathsichen Phänomene mehr beobachten können.“
„For some time I prided myself that my technique had become more sensitive, and that I was able to spare my patients unnecessary suffering by understanding them before they were forced to resort to such a desperate means of communication as telepathy.„
„Eine Zeitlang rühmte ich mich damit, dass ich eine einfühlsamere Technik entwickelt hatte, sodass ich meinen Patienten dieses unnötige Leid ersparen konnte. Ich zeigte ihnen, dass ich sei verstand, noch bevor sie dazu gezwungen waren auf so verzweifelte Kommunikations-Mittel wie Telepathie zurückzugreifen.“
„Recently, however, I have gradually become aware of another possible aspect of this problem. I now ask myself: Is it advisable to intervene early enough and, so to speak, to overprotect one’s patient by timely interpretations? Or would it be a better technique, in the sense of one producing more fundamental and lasting results, to tolerate the patient’s getting into this situation of very high tensions and to enable him to learn to cope with these high tensions also? I have no answer to this question, and must content myself with simply stating it.“
„Seit kurzem aber frage ich mich: Ist es ratsam, meinen Patienten durch zeitnahe Deutungen so voreilig zu schützen (zu overprotekten)? Oder könnte es eine bessere Technik geben, sodass der Patient fundamentale und dauerhaft anhaltende Ergebnisse erzielt? Indem ich es toleriere, dass der Patient in eine hochangespannte Situation gerät und ich ihn dadurch befähige, mit diesen hohen Spannungen zurechtzukommen? Ich habe bisher keine Antwort auf diese Frage gefunden.“ Michael Balint: Notes on Parapsychology and Parapsychological Healing
„Telepathie“ kommt hauptsächlich zwischen sehr vertrauten Menschen zustande. (Rupert Sheldrake, https://www.youtube.com/watch?v=V21dVAmI3Bc)
Die Sinne außer Gefecht
Telepathische Erfahrungen macht man gerne in einem Zustand, in dem die Sinne geschwächt sind: wenn man schläfrig, ausgehungert, übermüdet, überreizt oder fiebrig ist. Menschen mit einer Angststörung fühlen sich häufig der Psychose nah, wenn sie insgesamt geschwächt sind. Sie haben das Gefühl, nicht mehr Herr über sich selbst zu sein und kommen sich leicht gesteuert vor.
Sie fühlen sich, als ob da jemand von außen etwas mit ihnen macht. Sie können oft nicht spüren, dass es sich um innere psychische Vorgänge handelt. Die Beziehung zur Mutter war vielleicht so eng, dass eine Abgrenzung nicht stattfinden konnte und so „Innen und Außen“ nicht klar unterschieden werden können. Kleine Kinder nehmen in ihrer Entwicklung eigene Gedanken als etwas von außen Kommendes wahr.
Vielen Patienten mit einer schweren psychischen Störung geht es besser, wenn sie zum Beispiel in der Psychoanalyse die Erfahrung einer guten, haltgebenden Beziehung machen. Es geht ihnen auch oft besser, wenn sie den Kontakt zu nahen Verwandten abbrechen, bei denen sie oft das Gefühl haben, dass diese Verwandten sie verrückt machen könnten.
Schon allein der Gedanke an Telepathie kann bei vielen regelrechte Panikattacken auslösen. Eine Gänsehaut entsteht, alles fühlt sich schwebend an, die Hautleitfähigkeit bei der Panikattacke ist erhöht (Lader & Mathews, 1970). Der Schutz durch eine sichere Bindung fehlt. Der Aufbau einer sicheren Bindung hilft. Sie wird oft wie ein schützender Mantel empfunden oder wie eine Heilung der eigenen Haut.
Wir brauchen Schutz durch Begrenzung
Was Angst macht, ist das Gefühl, dass eine Grenze fehlt. Daher stärkt alles, was das „Grenzgefühl“ stärkt: sich behaupten, Wut spüren, heiß oder kalt duschen, Sport treiben, heiße oder kalte Getränke trinken, starke Düfte riechen etc. Alles Körperliche kann von den Angstgefühlen, die bei den Gedanken an die Telepathie entstehen, wieder wegführen. Allerdings nicht immer: Viele Angstpatienten leiden selbst beim Joggen und Schwimmen unter Angst. Hier stehen noch viele Fragen offen.
Der Körper spielt eine Rolle
Der Forscher Rupert Sheldrake betont die biologischen Prozesse, die mit der „Telepathie“ zusammenhängen. Zum Beispiel erwähnt er die stillende Mutter, die von zu Hause weg ist und deren Milch einschießt, sobald das Kind in der Ferne tatsächlich vor Hunger nach ihr ruft – auch unabhängig von gewohnten Zeiten. Zuerst sei der Milcheinschuss da und dann der Gedanke an das Baby, so Sheldrake. Es sei nicht so, dass die Mutter denkt, das Baby könnte Hunger haben und ihr daraufhin die Milch einschießt. Der biologische Aspekt spielt bei der Telepathie anscheinend eine große Rolle. (https://www.youtube.com/watch?v=V21dVAmI3Bc)
Auch Gerüche können eine Rolle spielen. Wer bisher nicht an Telepathie glaubte, der hat wahrscheinlich keine Katze, mit der er mal zum Tierarzt musste – sobald man zur Tür reinkommt, verschwindet die Katze. :-)
Ein schönes Erklärvideo zum Thema „Psychoanalyse und Telepathie“ von Dr. Heath: Telepathy, the Occult, and Freud’s Psychoanalysis https://youtu.be/Dv0ppMzc_jc
Literatur von Sigmund Freud:
Sigmund Freud: 30. Vorlesung:
Traum und Okkultismus (1933)
http://archiv.abcphil.de/html/traum_und_okkultismus.html
„Zugegeben, daß die Annahme der Telepathie die bei weitem einfachste Erklärung gibt, aber damit ist nicht viel gewonnen. Die einfachste Erklärung ist nicht immer die richtige, die Wahrheit ist sehr oft nicht einfach, und ehe man sich zu einer so weittragenden Annahme entschließt, will man alle Vorsichten eingehalten haben.“
…
„Ich will Ihre Erwartung auch gleich weiter einschränken, indem ich Ihnen sage, daß der Traum im Grunde wenig mit der Telepathie zu tun hat. Weder wirft die Telepathie ein neues Licht auf das Wesen des Traums, noch legt der Traum ein direktes Zeugnis für die Realität der Telepathie ab. Das telepathische Phänomen ist auch gar nicht an den Traum gebunden, es kann sich auch während des Wachzustands ereignen. Der einzige Grund, die Beziehung zwischen Traum und Telepathie zu erörtern, liegt darin, daß der Schlafzustand zur Aufnahme der telepathischen Botschaft besonders geeignet erscheint. Man erhält dann einen sogenannt telepathischen Traum und überzeugt sich bei dessen Analyse, daß die telepathische Nachricht dieselbe Rolle gespielt hat wie ein anderer Tagesrest und wie ein solcher von der Traumarbeit verändert und ihrer Tendenz dienstbar gemacht worden ist.“
http://archiv.abcphil.de/html/traum_und_okkultismus.html
Sigmund Freud:
Psychoanalyse und Telepathie (Manuskriptfassung 1921)
Beilage zu LUZIFER-AMOR 63 (2019/1)
PDF
Sigmund Freud:
Traum und Telepathie (1922)
Vortrag in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung
Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften VIII (1922). S. 1–22
https://www.gutenberg.org/files/31560/31560-h/31560-h.htm
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Weitere Literatur:
Luzifer-Amor, Ausgabe 63:
Themenschwerpunkt: »Psychoanalyse und Telepathie«.
Die drei Patienten in Freuds Vortrag auf der Harzreise 1921
https://www.luzifer-amor.de/index.php?id=428
Robert J. Stoller
On „Telepathic dreams?“: an unpublished paper
J Am Psychoanal Assoc. 2001 Spring; 49(2):629-57
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/11508380
James Strachey (englische Version):
Psychoanalysis and Telepathy
1953, In: Psychoanalysis and the Occult. New York, International Universities Press, S. 56-68, PDF
Michael Balint (1955):
Notes on Parapsychology and Parapsychological Healing.
International Journal of Psychoanalysis. XXXVI, 1955, Pp. 31-35
Psychoanalytic Quarterly (1965), 25:442-443
https://www.pep-web.org/document.php?id=paq.025.0442d
„I think it is fair to say that a number of experienced analysts have met episodes in their practice which have struck them as probable cases of telepathy or extrasensory perception (called E.S.P.)“ (Michael Balent)
Malcolm Lader, Andrew Mathews (1970):
Physiological changes during spontaneous panic attacks
University of Oxford, Journal of Psychosomatic Research, December 1970Volume 14, Issue 4, Pages 377–382
DOI: http://dx.doi.org/10.1016/0022-3999(70)90004-8
www.jpsychores.com/article/0022-3999(70)90004-8/abstract
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 18.8.2016
Aktualisiert am 1.8.2020
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