Bodenlos
Bodenlose Angst, bodenlose Frechheit, bodenloser Hass. Wenn es keinen Halt mehr gibt, geht der Riss durch und durch. Den Unterschied zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit macht die Dicke des Bodens. Der Borderliner fällt nie ganz durch, doch für den Psychotiker ist zeitweise jede Hoffnung verloren. Durchlässig, prorös, arrodiert fühlt man sich. Manchmal kommen Durchfall, Schweiß und Übelkeit. Die Muskeln zittern. Niemand versteht. Grenzenlose Einsamkeit. Doch was macht den Boden aus? Wie kann er wieder eingezogen werden?
Der Boden ist eine innere Schicht: Selbst wenn ich hasse, macht der Hass auf dem letzten Zentimeter Halt vor der Zerstörung. Richtig verloren ist man, wenn da keine Schicht mehr ist und man „durchbrennt“ – nichts hält mehr, das Messer geht durch. Das Zerreißen geht von oben bis unten, wie beim Rumpelstilzchen.
Der Boden kommt durch das Ausgerichtetsein auf ein Ziel zustande, durch die Bezogenheit auf ein Projekt, ein Haus, auf vertraute Menschen. „Boden“ heißt auch, die Vorstellung von Beruhigung zu haben. Jemand kann mich beruhigen. Ich mache Halt vor der kompletten Zerstörung. Es ist mir nicht egal, weil ich nicht in der Endlosigkeit des Augenblicks versinke, sondern den Lichtstrahl am Fenster sehe.
Boden entsteht durch Verstandenwerden, durch Wissen und Bildung, durch zärtliche Berühungen und durch die Befriedigung von Bedürfnissen. Durch ernsthafte Gespräche, emotionale Begegnungen und Stille. Durch Natur, Wüste, Meer, Bäche und frische Luft. Durch Körpererfahrungen. Der Boden, der entsteht, ist heilig. Böden lassen sich auch nachträglich einziehen.
Ist der Schrecken der Bodenlosigkeit vorbei, kann man sich wieder der Welt zuwenden:
„Der welcher wandelt diese Straße voll Beschwerden,
wird rein durch Feuer, Wasser, Luft und Erden.
Wenn er des Todes Schrecken überwinden kann,
schwingt er sich aus der Erde Himmel an.
Erleuchtet wird er dann im Stande seyn,
sich den Mysterien der Isis ganz zu weih’n.“
(Mozart, Zauberflöte, Die zwei Geharnischten.)
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 1.8.2019
Aktualisiert am 8.9.2025
One thought on “Bodenlos”
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.
Sehr einfühlsam