Spiegelübertragung, Verschmelzungsübertragung und das Größenselbst: Wenn wir uns im Blick des anderen sonnen

Verschmelzungsübertragung bedeutet, dass wir gefühlt eine absolute Einheit mit unserem Psychoanalytiker erleben – ganz so, wie wir es einmal mit unserer Mutter erlebt haben und auch heute noch in glücklichen Beziehungen erleben können. Es geht um ein subjektives Erleben, das die realistische Beziehung nicht unbedingt widerspiegeln muss.

Wir erleben uns dann als freudig und groß – unser „Größenselbst“ (englisch „Grandiose Self“, Begriff geprägt von Heinz Kohut) zeigt sich. „Für den Analytiker gibt es nur mich“, so meinen wir. Wir können uns im anderen spiegeln und fühlen uns auch Eins mit ihm. Der andere ist unserem Gefühl nach vollkommen einverstanden mit uns und wir sind es mit ihm. Es passt. Wenn wir jedoch sehr viel Ohnmacht erlebt haben, können wir uns auch im krankhaften Sinn verschmolzen fühlen. Wir fühlen uns dann mit der Zeit irgendwie unzufrieden.

Im unzufriedenen, ja vielleicht sogar verachtenden Zustand haben wir dann das Gefühl, wir könnten den Analytiker steuern – zum Beispiel, indem wir etwas Bestimmtes erzählen, damit er dieses oder jenes denkt und fühlt. Unser „Größenselbst“, in dem wir unsere Ohnmacht nicht spüren, gaukelt uns vor, der Analytiker sei eine Verlängerung unserer selbst – so, wie es narzisstische Mütter und Väter bei ihren Kindern empfinden können. „Der Analytiker wird als Erweiterung des Größenselbst wahrgenommen“, schreibt die Psychoanalytikerin Marlies Frommknecht-Hitzler (Die Bedeutung von Idealisierung und Idealbildung für das Selbstgefühl. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1994: S. 168).

„Gehöre zu mir und sei mein Werkzeug!“, könnte die Botschaft lauten, die zur Verschmelzungsübertragung führen soll. Der Analytiker wird zum Selbst-Objekt – er dient mir dazu, meine Angst zu reduzieren oder mir ein gutes Selbstwertgefühl zu erhalten. Der Begriff „Verschmelzungsübertragung“ wurde von dem Psychoanalytiker Heinz Kohut geprägt.

Der Unterschied zwischen gesunden oder krankhaften Verbundenheits- und Verschmelzungsgefühlen liegt vielleicht im Zufriedenheitsgrad. Im guten Sinne fühlen sich die Beteiligten wohl – der Zustand hält vielleicht nur phasenweise an und es gibt eine Weiterentwicklung. Im negativen Sinne gibt es Gefühle der Angst, Kontrollsucht und Unzufriedenheit. Ob Verschmelzungsübertragungen in der Analyse zeitweise gewünscht sind oder ob sie ängstlich-kritisch betrachtet werden, hängt von vielen Faktoren ab. Beispielsweise schreibt Harold Searles über wichtige Phasen der Verschmelzung und Symbiose besonders in anfänglichen Phasen der Behandlung von Psychotikern (Harold Searles: Der psychoanalytische Beitrag zur Schizophrenieforschung, Psychosozial-Verlag, 2008).

Spiegelübertragung: Ich sehe mich im Glanze des Auges der Mutter

Der Begriff „Spiegel-Übertragung“ wurde von dem Selbstpsychologen Heinz Kohut geprägt. Spiegel-Übertragung ist der Wunsch und das Gefühl, dass der andere uns spiegelt und dabei anerkennt, so wie die Mutter uns – im Idealfall – mit einem „Glanz im Auge“ anschaute. „Bitte spiegele mich! Aber nicht so, wie ich bin, sondern so, dass ich mich bei Dir gut fühlen kann“, könnte die Botschaft lauten. „Wenn ich mich richtig gut fühle und Dir davon erzähle, dann fühle ich mich noch besser! Ich habe das Gefühl, dass Du da mitfühlen kannst und mir meine Großartigkeit bestätigst.“ So kann Spiegelübertragung aussehen.

Spiegelübertragung (mirror transference) kann aber auch so verstanden werden: „Ich wünsche mir, dass Du Dich empathisch bei mir einfühlst und mir meine wahren Gefühle spiegelst.“

Allmachtsgefühle (Omnipotenz): Manchmal hilfreich, oft hinderlich

„I’m a survivor“ – der Song von Destiny’s Child ist ein trotziges Lied. Auch „Alles wird gut“ von Bushido handelt vom Wiederaufstehen, vom Es-doch-noch-Schaffen – davon, es den Leuten zu zeigen. Wenn wir unser höchstes Ziel zunächst aufgeben müssen, wenn wir von unserer großen Liebe verlassen wurden, sind wir am Boden zerstört. Wir fühlen uns ohnmächtig und hilflos. Und dann macht die Psyche manchmal einen Umschlag: Wir können zum Beispiel einen „masochistischen Triumph“ spüren oder ein Gefühl von unglaublicher Kraft entwickeln. „Jetzt erst recht!“, sagen wir uns und schwingen uns auf zu neuen Zielen.

Wahrscheinlich kennen wir alle dieses „Höhenfluggefühl“, das sich bei Angst, nach Enttäuschung oder Niederlagen einstellen kann. Es ist ein gutes Gefühl, es gibt Kraft, es lässt einen aufsteigen. Es kann beim Hochleistungssport zu Siegen führen und helfen, ein Studium durchzuhalten. Aber es ist mit Vorsicht zu genießen, denn es kann zu einem Umschwung ins Negative führen.

„Der Herr, der ewige Gott, … wird nicht müde noch matt, … Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“ (www.bibleserver.com/text/LUT/Jesaja40,31) Und im Hohelied der Liebe (siehe z.B. Wikipedia) heißt es: „Die Liebe erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, sie hält allem stand.“

Sigmund Freud beschreibt den Größenwahn unter anderem als einen Abzug der Libido („Liebesenergie“) von anderen Menschen (den „Objekten“) und ein Hinführen der Libido auf sich selbst (“ … dass die durch Versagung frei gewordene Libido nicht bei Objekten in der Phantasie bleibt, sondern sich aufs Ich zurückzieht; der Größenwahn entspricht dann der psychischen Bewältigung dieser Libidomenge, …“).
Zur Einführung des Narzissmus (1914), Projekt Gutenberg

“ Der Größenwahn ist durchaus der im Liebesleben bekannten Sexualüberschätzung des Objektes zu vergleichen.“ Sigmund Freud: Die Libidotheorie und der Narzissmus, Projekt Gutenberg

Ein hoher Preis

Der Größenwahn kann sich gut anfühlen, aber er ist nicht „echt“. Vielleicht spüren wir diese Unechtheit sogar, wenn wir ganz ehrlich zu uns sind. Wir fürchten, abzustürzen wie Ikarus vom Himmel, als das Wachs seiner Flügel durch die Sonne schmolz, weil er zu hoch flog. Der Größenwahn kann uns viel kaputtmachen. Wenn wir uns im inneren Höhenflug befinden, sind wir nicht mehr im echten Kontakt mit uns selbst und nicht im echten Kontakt mit den anderen. Schnell regen wir uns auf, wenn der andere etwas „Hemmendes“ sagt, was nicht unserem Höhengefühl entspricht und uns an unsere Angst erinnert, etwas nicht zu schaffen. Unser Größenwahn ist die Abwehr unseres Ohnmachtsgefühls. Und diese Bedrohung spüren wir innerlich.

Wenn wir im Größenwahn sind, verausgaben wir uns und bleiben oft geschwächt zurück. Wir übersehen vieles, wir übersehen die anderen. Wir leiden dann irgendwann unter unserer Beziehungslosigkeit, fühlen uns wie „abgehoben“, einsam und nicht dazugehörig. Hinter dem Größenwahn steckt eine große Angst. Größenwahn kann absolut zerstörerisch sein.

Die Kunst ist es nun, die „Lust“ am Größenwahn zu erkennen und ganz ehrlich zu uns selbst zu sein. Still zu werden und Ohnmachtsgefühle auszuhalten. So können wir wieder „runterkommen“ und die Meinungen der anderen betrachten, ablehnen oder annehmen, wir können uns wieder freier bewegen, wir können wieder offener und neugieriger sein. Wir werden wieder gemocht, geschätzt und dürfen wieder dazugehören. Die Freude, die dann entsteht, ist eine echte. Das fühlen wir ganz genau.

Primärer Narzissmus: Das Hochgefühl des Kleinkindes

Säuglinge und kleine Kinder haben einen „primären Narzissmus“ (Freud 1914: Zur Einführung des Narzissmus, Projekt Gutenberg). Wichtig ist allein ihr Hunger, ihr Durst, ihr Bedürfnis, sich zu entleeren. Die Mutter wird auf gewisse Weise noch nicht als getrennter ganzer Mensch wahrgenommen, sondern als ewig stillende Brust. Lernen die Kinder laufen, haben sie ein Gefühl von „Mir gehört die Welt“. Die kleinen Kinder können „alles alleine“. Diese große Ich-Bezogenheit, diese Art „Größenwahn“ und das Gefühl der Vollkommenheit des Säuglings und Kleinkindes heißt in der Sprache der Psychoanalytiker „primärer Narzissmus“.

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Links:

Paul H. Ornstein (2000):
Selbstobjektübertragung
In: Stumm, G., Pritz, A. (eds)
Wörterbuch der Psychotherapie. Springer, Vienna.
https://doi.org/10.1007/978-3-211-99131-2_1714
link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-211-99131-2_1714
„Der Analytiker wird in das Selbsterleben des Patienten einbezogen. Der Analytiker hat nur insoweit Bedeutung für den Patienten, als er die Funktionen erfüllt, die ihm unbewußt vom Patienten zugeteilt werden: er erwartet Bestärkung, Anerkennung, Bewunderung und eine Reihe anderer, selbststärkender Reaktionen auf sein subjektives Erleben. Diese Übertragung nannte Kohut „Spiegelübertragung“ (mirror transference).“

Kohut, Heinz (1973)
Narzissmus
Suhrkamp

Kohut, Heinz (1979)
Die Heilung des Selbst
Suhrkamp

Institut für kritische Theorie und Selbstpsychologie
www.selbstpsychologie.ch/

Rolf Nemitz:
Das Spiegelstadium im Spiegel des Anderen
lacan-entziffern.de/spiegelstadium/das-spiegelstadium-im-spiegel-des-anderen/

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 15.6.2014
Aktualisiert am 20.11.2025

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