Neid macht einsam – Einsamkeit macht neidisch

„Ich fahr‘ da nicht hin, denn da sind nur Pärchen.“ – „Ich geh da nicht hin, denn da sind all die Schwangeren/die Gesunden/die, die eine Arbeit haben oder im Studium weiterkommen.“ Wir beneiden meistens die, die uns ähnlich sind und die etwas geschafft haben, was wir beinahe auch geschafft hätten oder was wir vielleicht noch erreichen können.
Mit der Einsamkeit ist es ähnlich: Wie fühlen uns oft besonders unter Gleichgesinnten einsam, die eine Familie haben, während wir alleine da stehen (wobei der Traumaforscher Bessel Van Der Kolk so schön auf Youtube sagt, dass er noch nie eine „normale“ Familie gesehen habe). Wenn die, die uns ähnlich sind, weniger einsam sind als wir selbst, führt das zu furchtbar beißendem Neid. Der Neid steht jedoch zwischen uns und dem anderen.
Der Beneidete spürt den Neid und hält den Neidenden auf Abstand. Der Beneidete, der eine Familie hat, führt dem Einsamen ständig vor Augen, was dieser nicht hat. Es ist, als hätte man riesigen Hunger und müsste dabei zuschauen, wie der andere ein Brot verspeist. Leichter wäre der Hunger zu ertragen, wenn auch der andere kein Brot hätte. Einsamkeit ist nichts anderes als der Hunger nach Nähe, Verbundenheit, Intimität, Verstandenwerden, Geselligkeit, Schutz und Geborgenheit. Doch eine einzige emotionale Berührung kann Einsamkeit und Neid für eine ganze Weile verschwinden lassen.
Man kann vier- oder fünfmal in der Woche zur Psychoanalyse gehen, also theoretisch fast täglich echte Nähe erleben, und sich dennoch zutiefst einsam fühlen, wenn man selbst alleine ist und der Analytiker/die Analytikerin eine Familie hat. Der Neid lässt keine Nähe zu.
Aber ich kann den Neid doch nicht abstellen!
Auf unsere Gefühle haben wir nur mäßig Einfluss. Wenn wir traurig sind, können wir uns trösten oder trösten lassen. Wenn wir Angst haben, können wir uns beruhigen. Wenn wir einsam sind, dann lässt sich jedoch nicht mal einfach ein Partner, eine Schwester, ein Kind, eine Familie herbeizaubern. Einsamkeit ist sehr zäh.
Aber auch der Neid ist nur schwer abzustellen. Wichtig ist es zu bemerken, wie der Neid uns an unserem Ziel hindert, dem anderen näher zu sein. Neid und Einsamkeit können sich durch Vertrauen und Selbstvertrauen verringern. Manchmal können wir uns zu Vertrauen entschließen. Wenn wir uns und andere ernst nehmen, können wir vielleicht spüren, dass wir es schaffen können, ein familiäres Vertrautheitsgefühl zu erlangen. Sobald wir uns weniger einsam fühlen – und das kann schon durch Ernstnehmen anfangen – kann auch der Neid nachlassen. Wenn wir die Stärken sehen, die aus unserer Situation erwachsen, dann lässt der Neid ebenfalls nach.
„So ein Quatsch! Wer ausgehungert ist, zieht daraus keine Stärke mehr, sondern kann daran sterben!“ Ja, auch das Sterben müssen wir in Betracht ziehen. Irgendwann muss jeder essen. Auch das Argument, man könne Frieden mit sich schließen und dann weniger einsam sein, hinkt, denn wenn man wirklich im Außen kaum Beziehungen hat, dann kann es auch um den inneren Frieden schwer bestellt sein. Dennoch kann in der weiteren Entwicklung das ursprüngliche Leid tatsächlich zu einer Kraftquelle werden.
Einsamkeit ist zäh und stur. Und doch ist sie oft beweglich genug, um zu kommen und zu gehen. Sie gehört immer mal wieder zum Leben – auch zum Leben derer, die eine Familie haben.
Neid ist wie ein Muskelkrampf. Erst wenn der Muskel wieder weicher wird, geht’s weiter.
Wie dem Teufelskreis entrinnen?
Wichtig ist es, die Einsamkeit und den Neid zu spüren und sich damit auseinanderzusetzen. Wichtig ist es auch, zu wissen, dass es anderen Menschen ebenso geht. Die traumatischen Geschichten mögen unterschiedlich sein, doch die Gefühle der Einsamkeit sind bei vielen Menschen wohl sehr ähnlich. Manche beschließen bewusst, aus ihrer Situation herauszutreten. Es ist für viele ein tiefer Wunsch, Beziehung zu finden und Einsamkeit hinter sich zu lassen. Diesem Wunsch kann man folgen. Man kann Dinge möglich werden lassen.
Offen sein, weiter suchen, ausruhen, resignieren, weitermachen.
Manche finden erst nach sehr langer Zeit einen Menschen, durch den sie ein ganz neues Lebensgefühl erlangen. Wer einsam ist, dem hilft es möglicherweise nicht, sich an eine frühere Zeit zu erinnern, in der man vielleicht noch Partner, Familie und Kinder hatte. So wird man neidisch auf sein eigenes, früheres Ich. Aber die Erinnerung kann helfen, sich das Gefühl des Eingebundenseins und der Intimität vorzustellen und sich zu wünschen, dieses Gefühl wiederzufinden.
Wir können „trainieren“, unseren Körper kennenzulernen, unsere Bedürfnisse zu erkennen, unsere Wünsche wie ein Projekt zu verfolgen und uns und andere ernst zu nehmen. Eine einzige gute und tiefere Beziehung reicht aus, um das Einsamkeitsgefühl und damit auch den Neid spürbar zu lindern.
Das Leben ist nicht gerecht – es formt uns
Die einen leben im Krieg, die anderen ohne Wasser, wieder andere werden von einer Überschwemmung heimgesucht. Da verliert eine Frau ihr Kind, während die Nachbarin das zweite gesunde Kind bekommt. Der eine leistet sich eine teure Ausbildung, der andere hat dafür kein Geld. Manche Menschen haben die „Gerechtigkeit“ zu ihrem Steckenpferd gemacht. Sie studieren Jura und bekommen dann als Anwalt ein Burnout, weil sie sehen, dass sie kaum gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt ankämpfen können. Oft hadern wir mit unserem Schicksal und unserem Leid, weil wir vor unserem inneren Auge das Bild haben, es müsse gerecht zugehen.
Ungerechtigkeiten und Schicksale
Vieles wird leichter, wenn wir am inneren Bild von der Waage nicht mehr so sehr festhalten. Das Leid formt uns. Und es bietet immer eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung. Eine junge Frau, die schwer an Krebs erkrankt ist, ist sicher nicht zu beneiden. Denken wir. Und doch findet sie in ihren letzten Lebenswochen zu einer inneren Lebenshaltung und Ruhe, um die sie viele beneiden. Sie hat zu einer Art des Erlebens gefunden, die manche Menschen niemals kennenlernen werden.
Wir können uns über den Unterschied ärgern, den wir zum anderen spüren. Während der andere in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen ist und man selbst um jeden Cent ringen muss, kann man sich über den Unterschied aufregen. Man kann ihn aber auch erspüren und fragen: „Was macht das mit mir?“ Den Unterschied zu erspüren ist etwas ganz anderes, als gegen ihn anzukämpfen und mit ihm zu ringen. Wir können den Unterschied zu unserer eigenen Entwicklung nutzen. Und daran wachsen.
Szondis Schicksalsanalyse. Der Psychiater Leopold Szondi, szondi.ch (1893-1986) entwickelte zwar die Schicksalsanalyse, aber leider ist damit nicht gemeint, was das Schicksal mit uns macht. Szondi versuchte eher zu erklären, warum man sich für dieses oder jenes entscheidet und so sein Schicksal mitformt.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 2.5.17
Aktualisiert am 27.12.2025
2 thoughts on “Neid macht einsam – Einsamkeit macht neidisch”
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.
Wie schön gesagt – vielen Dank, das freut mich!
Beim Lesen finde ich es immer wieder überaschend und wunderschön, wenn Ihre Worte/Passagen, Fr. Dr. Voos, mit meinen Gedanken und Erfahrungen quasi 1 zu 1 übereinstimmen! Das tut soo gut!
Einen ganz lieben Dank!!
Melande