Zärtlichkeit ist eine Schicht – warum sie oft so schwer zu ertragen ist

Manchmal stellen wir unsere Borsten auf, sobald uns jemand mit Zärtlichkeit begegnet. Wenn wir nur wenig Zärtlichkeit in unserem Leben erfahren, wächst die Sehnsucht danach. Wenn uns dann jemand zärtlich begegnet, spüren wir nochmal sehr deutlich, was wir alles vermisst haben. Der „Schmerz des Unterschieds“ zwischen der Zärtlichkeit jetzt und dem Mangel, der ansonsten herrscht, ist nur schwer auszuhalten. Zudem kann die gefühlte oder phantasierte Nähe zur Sexualität oft Scham hervorrufen – besonders, wenn die Zärtlichkeit unpassend ist.

Zärtlichkeit kann rasch als zu nah erlebt werden und dann unter Umständen auch mit Ekel verbunden sein. Ekel kann besonders entstehen, wenn jemand, den wir nicht mögen, zu wenig Abstand hält. Wenn wir unter sehr traumatischen Umständen groß wurden, reagieren wir manchmal sogar dann schon mit Abwehr, wenn ein anderer zärtlich mit uns spricht. Zu diesen Traumata kann eine zu frühe und lange Trennung von Mutter oder Vater gehören. Aber auch sexueller Missbrauch sowie frühe medizinische Behandlungen wie z.B. Operationen oder die Vojta-Therapie können es für Betroffene unerträglich machen, sich einem anderen Menschen nahe zu fühlen. Die Gefühle, die dabei ausgelöst werden, sind zu unangenehm.

Zärtlichkeit ist nahe an der Sexualität, nah am Missbrauch, nahe an der Scham und am Gefühl, zu schmilzen und nicht mehr weg zu können. Zärtlichkeit ist eine ganz empfindliche Schicht zwischen Schwäche und Kraft, zwischen Gut und Böse.

Wo etwas Zartes ist, können wir es auch leicht zerbrechen

Zärtlichkeit erinnert uns auch daran, wieviel Kraft in uns steckt. Wenn wir zärtlich sind, spüren wir, wie leicht wir etwas zerdrücken können und vielleicht selbst zerdrückt werden könnten. Vielleicht wird der Drang, etwas zu zerdrücken durch Zärtlichkeit sogar erst geweckt. Es braucht viel Übung für den Fahrer eines großen Trucks, bis es ihm gelingt, das Ungetüm sanft zu bremsen und zu lenken.

Berührung ist oft sehr nah am psychischen Schmerz.

Wir leiden vielleicht unter der Abwesenheit von Zärtlichkeit und berührenden Worten – doch natürlich können wir sie nur von Menschen annehmen, die uns wirklich sympathisch sind und denen wir vertrauen. Vielleicht wurde unser Bedürfnis nach Zärtlichkeit schon früh mit Häme beantwortet. Vielleicht reagieren wir bei Zärtlichkeit sogar vegetativ: Uns wird es übel oder wir bekommen Angst, sobald jemand zärtlich zu uns ist. Es fühlt sich an wie ein Zuviel und wir wollen weglaufen. Das hängt natürlich sehr von der Person ab, die uns mit Zärtlichkeit begegnet.

Sigmund Freud sagte: „Wir rechnen zum ‚Sexualleben‘ auch alle Betätigungen zärtlicher Gefühle, die aus der Quelle der primitiven sexuellen Regungen hervorgegangen sind, auch wenn diese Regungen eine Hemmung ihres ursprünglich sexuellen Zieles erfahren oder dieses Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles, vertauscht haben.“ Sigmund Freud: „Über ‚wilde‘ Psychoanalyse“, 1910, Projekt Gutenberg

Wir können im Laufe des Lebens (besonders auch in einer Psychoanalyse) die Erfahrung machen, dass Zärtlichkeit eine breite Schicht ist. Wurden wir missbraucht und fällt es uns schwer, „gute Menschen“ zu finden, ist der Weg vom „normalen“ bis zum „sexuellen Kontakt“ kurz. Es lässt sich aber lernen, dass dazwischen eine breite Schicht liegen kann, die aus vielen Formen der Zärtlichkeit besteht. Es gibt so etwas wie eine „sichere Zärtlichkeit“.

Es gibt liebevolle und zärtliche Begegnungen und Beziehungen, in denen die Grenze zur Sexualität sicher gewahrt bleibt. Zärtlichkeit kann sexuelle Erregung erwecken. Vielleicht können wir das bemerken und genießen. Jeder kann bei sich bleiben und sich sicher fühlen. Vielleicht flüchten wir aber auch und wehren die Zärtlichkeit ab, weil wir merken, dass uns der andere nicht gut tut – oder im Gegenteil: dass wir verliebt sind. Verlieben wir uns in den Psychoanalytiker, erscheint seine zarte Stimme gefährlich, weil sie am falschen Ort ist. Die Liebesverbindung ist verboten. Vielleicht befürchten wir, wir könnten unsere Impulse nicht beherrschen. Das hängt sicher auch vom Lebensalter ab: Je älter wir werden, desto breiter kann die Zärtlichkeits-Schicht werden, weil die jugendliche Wucht der Hormone mit zunehmendem Alter nachlässt.

Der Psychoanalytiker Hermann Beland erklärt, wie Sigmund Freud den Zusammenhang von Sexualität und Zärtlichkeit sah: „So spricht Freud von zielgehemmten Trieben als Ursache der Zärtlichkeitsbeziehung, die unzweifelhaft aus Quellen sexueller Bedürftigkeit herrührt und regelmäßig auf deren Befriedigung verzichtet‘ (1933a, S. 103), so dass eine dauernde Objektbesetzung* und eine anhaltende Strebung zustande kommt.“ (Hermann Beland: Die Angst vor Denken und Tun. Psychosozial-Verlag, 2. Auflage 2014: S. 30) | *“Objektbesetzung“ heißt, dass der andere einem viel bedeutet. Der andere ist also mit viel Bedeutung besetzt.

Relativ sichere Zärtlichkeit

Zärtlichkeit erscheint uns oft unsicher, doch bei der „sicheren Zärtlichkeit“ ist es so wie in einem entspannten Elternhaus, in dem die Eltern die Grenzen der Kinder wahren. Das sieht sicher überall etwas anders aus. Günstig sind vielleicht diese Aspekte: Die Eltern klopfen an, bevor sie das Zimmer des Kindes betreten, sie ziehen sich etwas über, bevor sie aus dem Badezimmer kommen, sie beschämen das Kind nicht absichtlich und verschonen es mit doppeldeutigen Berührungen, Bemerkungen und obszönen Witzen. Sie können ihr Kind in Ruhe lassen und ihm einen eigenen Raum geben.

Es erfordert viel Kraft, zärtlich zu sein.

Die frühe Abwesenheit der Mutter kann Angst vor Zärtlichkeit auslösen

Die Psychoanalytikerin Hayuta Gurevich (The Language of Absence, 2008) hat weitere Zusammenhänge gut auf einen Punkt gebracht. Sie schreibt über die Folgen, die sich ergeben, wenn eine Mutter für den Säugling zu sehr abwesend ist und dieses Trauma dann auch noch nicht einmal ernst nimmt. Dann kann Folgendes entstehen:

„Whenever the need for tenderness is aroused, there is an attendant fear of annihilation and breakdown, defended by self-condemnation and self-annihilation, resulting in a sense of inadequacy and basic fault (Balint, 1968), as well as shame and guilt for the very existence of the authentic self.“
Also allein schon, wenn das Bedürfnis nach Zärtlichkeit entsteht,kommt die Angst vor Vernichtung und Zusammenbruch. Es entsteht die Gefahr, wieder diese schreckliche Abwesenheit zu erfahren. Wir verdammen ns dann selbst, indem wir uns sagen, dass wir sowieso nicht liebenswert sind. Wir sagen uns: „Nur, weil ich diese Sehnsucht nach Zärtlichkeit habe, habe ich überhaupt solche Schmerzen.“ Wir bestrafen uns für den Wunsch nach Nähe. „Intersubjectively, the other is repeatedly experienced as an ever-present threatening aggressor, demanding compliance, submission (Ghent, 1990/1999), and subjugation (Ogden, 2004).“ (Übersetzt von Voos:) „Der andere wird immer wieder als ein bedrohlicher Agressor erlebt, der Anpassung und Unterwerfung verlangt.“
Hayuta Gurevich:
The Language of Absence and the Language of Tenderness:
Therapeutic Transformation of early Psychich Trauma and Dissociation as Resolution of the ‚Identification with the Aggressor‘, fort da (2015), 21 (1) 45-65, S. 49

So wehren wir Zärtlichkeit ab

Manchmal werden wir den ganzen Tag über kritisiert oder mit Anforderungen zugeschüttet. Und dann plötzlich, spricht jemand zärtlich mit uns. Wir spüren, dass uns der andere zugewandt ist und liebevoll mit uns umgeht. Wir können es einen Augenblick ertragen und dann schlagen wir es von uns. Schon kurz danach bereuen wir es zutiefst, den anderen feindselig weggestoßen zu haben. Manchmal ist es wie ein Zurückschrecken vor der Zärtlichkeit des anderen. Die Zärtlichkeit weckt Gefühle in uns, die uns verunsichern.

Wir geraten vielleicht in Anspannung und dann wollen wir nur eines: weglaufen aus der Situation, die uns so unsicher macht. Zärtlichkeit kann wohlige Gefühle wecken, vielleicht sogar sexuelle Gefühle. Der zärtliche Moment ist ein wertvoller Moment, den wir schützen wollen. Und wir schützen ihn manchmal, indem wir ihn wegschlagen und vor ihm weglaufen. Wir werden unruhig, aggressiv, rufen Unangenehmes auf den Plan, sodass der andere uns wieder kritisiert und wir in bekanntem Fahrwasser sind. Wir trauern um den schönen Moment, aber wir fühlen uns auf dem rauen Boden wieder sicherer.

Frühe Beziehungserfahrungen werden wach

Wenn jemand zu uns zärtlich ist, werden frühe Beziehungserfahrungen wach. Wir fühlen uns etwas hilflos. Wenn wir zärtlich behandelt werden, können wir versuchen, den Reflex, den anderen wegzustoßen, zu unterdrücken. Nehmen wir die Anspannung, den Weglauf-Reflex und die Unsicherheit wahr. Wir müssen nichts tun. Vielleicht können wir einfach offen unsere Unsicherheit zeigen. Wir können wie ein Igel üben, die Stacheln unten zu lassen. Irgendwann kann dann der Punkt kommen, an dem wir es genießen können, (emotional oder real) berührt und gestreichelt zu werden. Dieser Punkt der gegenseitigen Zärtlichkeit kann sich ausdehnen und zu einem breiteren Bereich werden. Wir können zunehmend uns und den anderen ernst nehmen.

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Links:

Ferenczi (1933):
Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft.
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse XIX 1933 Heft 1/2
archive.org/…

Dieser Beitrag erschien erstmals im Februar 2015.
Aktualisiert am 20.10.2025

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