Buchtipps: Die rote Couch von Irvin D. Yalom und: Und Nietsche weinte
Es ist schon rührend wie Irvin D. Yalom, emeritierter Psychiatrieprofessor der Stanford University, die Psychoanalyse immer wieder (ironisch) verteidigt und wie er sorgen- und humorvoll schreibt, wie andere Verfahren den Markt erobern: „Der Feind war bereits … nahe …: Biofeedback und Muskelentspannung gegen krankhafte Angstzustände; Implosion oder Desensibilisierung gegen Phobien; Medikamente gegen Depressionen … und dann all die verfluchten ‚Zwölf-Punkte‘-Gruppen für alles andere!“ (Die rote Couch, S. 247). Doch wird der Psychiater Irvin Yalom in seinem Buch der Psychoanalyse gerecht?
„Aufmarschiert unter den brandneuen Bannern des Gesundheitsmanagements verdunkelten die Bataillone der Kurzzeittherapie die Landschaft und bestürmten die Tore der Analyseinstitute, der letzten bewaffneten Enklaven der Weisheit, der Wahrheit und der Vernunft in der Psychotherapie“ (Die rote Couch, S. 247).
Die Geschichte: Der junge Psychoanalytiker Ernest Lash ist Gutachter in einem Verfahren gegen einen Psychoanalytiker, der seine Patientin sexuell missbraucht hat. Später wird Lash selbst Psychoanalytiker und behandelt einen Mann, dem es schwer fällt, seine tyrannische Frau zu verlassen. Irgendwann schafft der Patient es, sich zu trennen. Seine Ex-Frau ist verbittert – sie will sich an Ernest Lash dafür rächen, dass er es geschafft hat, ihren Mann während der Psychoanalyse zur Trennung zu bewegen. Sie meldet sich unter einem falschen Namen bei ihm zur Psychoanalyse an. Sie will Ernest Lash verführen und sich dadurch rächen, dass sie ihn später selbst wegen sexuellen Missbrauchs an ihr anzeigen kann.
Sexuelle Übergriffe an der Tagesordnung?
Hauptthema dieses Buches ist der sexuelle Übergriff in der Psychotherapie. Beim Lesen bekam ich die Vorstellung, dass in den USA der sexuelle Missbrauch in der Psychotherapie-Praxis an der Tagesordnung sei. Besonders bedrückend fand ich, dass Irvin Yaloms fiktive Figuren der International Psychoanalytical Association (IPA) bzw. der American Psychoanalytical Association (www.apsa.org) angehören sollten. Ich googelte, ob sich die genannten Namen („ehemaliger Präsident der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung“) wirklich bei der IPA/APsA wiederfanden. Das taten sie nicht. Dieses Buch wirkt sehr verstrickt und manchmal lassen sich Erdachtes und Reales nur schwer auseinanderhalten.
Einerseits stellt das Buch gut dar, was Psychoanalyse ist und was sie bewirken kann. Andererseits zeichnet Yalom Bilder, die den Leser sehr an der Professionalität der Psychoanalytiker, die eine IPA-Ausbildung genossen haben, zweifeln lassen. Dabei zählt die IPA-Ausbildung zu den Psychoanalyse-Ausbildungen mit den höchsten Standards.
Ein gesunder Abstand zum eigenen „Zuhause“, zur eigenen Ausbildung ist sicher ebenso wichtig wie der Blick auf die Psychoanalyse(ausbildung) in anderen Ländern. Doch Irvin Yalom verwässert zu sehr. Es bleibt ein mulmiges Gefühl, was die Methode und die IPA angeht. Viele Leser halten Yalom für einen ausgebildeten Psychoanalytiker, aber das ist er nicht. Er selbst hatte als Student eine Freudsche Analyse gemacht und war enttäuscht davon. Er suchte nach einer besseren Therapie als der Analyse. Irvin Yalom ist Psychiater und Psychotherapeut ohne abgeschlossene psychoanalytische Ausbildung (jedenfalls geht das aus seiner Website und seinem Interview in der Sternstunde Philosophie vom 5.10.2014 hervor).
Fazit: Ich würde das Buch Psychoanalyse-Interessierten empfehlen, aber ich würde auch empfehlen, im Hinterkopf zu behalten, dass Irvin Yalom selbst keine (IPA-)Psychoanalyse-Ausbildung durchlaufen hat. Die Verwirrungen reichen sogar bis zur Homepage des btb-Verlags: Hier wird behauptet, Yalom sei „einer der einflussreichsten Psychoanalytiker in den USA“(www.randomhouse.de/Autor/Irvin_D._Yalom/p27882.rhd, Stand: 5.11.2013).
Und Nietzsche weinte
Wer sich für Psychotherapie, Psychoanalyse und Einsamkeit interessiert, der wird an dem Buch „Und Nietzsche weinte“ (btb-Verlag, 7. Auflage, München 2009) seine wahre Freude haben. Der Autor, emeritierte Psychiatrieprofessor und Psychotherapeut Irvin D. Yalom wird zwar oft selbst für einen Psychoanalytiker gehalten, aber er hat keinen Ausbildungsabschluss in Psychoanalyse (siehe Lebenslauf, und persönlich nachgefragt). Doch er versteht es wunderbar, die Gedanken der Psychoanalyse und Psychotherapie aufzugreifen und plastisch darzustellen. Die Vermischung zwischen Fiktivem und wahren historischen Begebenheiten in seinen Romanen ist nicht immer leicht zu verdauen.
Die Geschichte dreht sich um die (fiktive) Freundschaft des Arztes Josef Breuer (1842-1925) und Friedrich Nietzsche. „Friedrich Nietzsche und Josef Breuer sind sich im Leben nie begegnet“, schreibt Yalom im Nachwort (www.yalom.com/wnwnotecontent.html). Verbunden sind die beiden im Roman durch Lou Salomé (1861-1937), die Nietzsche „im Frühjahr 1882 durch Paul Rée kennenlernte“ (Nachwort). Der Leser taucht ein in die Welt des 19. Jahrhunderts und wird schnell gefangen genommen: Nietzsche, der an tiefer Verzweiflung leidet, kommt über Lou Salomé in Verbindung mit Josef Breuer, der seine Verzweiflung heilen soll. Lou Salomé, in die Nietzsche unsterblich verliebt ist, hat Breuer überredet, Nietzsche zu helfen. Allerdings weiß Nietzsche davon nichts.
Der kalte Nietzsche
Breuer baut geschickt Kontakt zum menschenscheuen Nietzsche auf, der an einer furchtbaren Migräne leidet. Breuer versucht erfolglos, Nietzsche in Gespräche zu verwickeln, um ihn zum Thema „Verzweiflung“ und „Lou Salomé“ zu lenken. Mit seinem Freund Sigmund Freud tauscht sich Breuer regelmäßig darüber aus. Eines Nachts wird Nietzsche in seinem Hotel von einem schrecklichen Migräne-Anfall heimgesucht. Er schluckt so viel Chloral, dass er bewusstlos wird und schließlich eine lebensbedrohliche Tachykardie erleidet.
Breuer kommt gerade zur rechten Zeit und rettet ihn durch die Massage des Sinus Caroticus, einer Druckstelle am Hals. In seiner Bewusstseinseinstrübung fleht Nietzsche: „Hilf mir!“ So erkennt Breuer, dass in Nietzsche noch ein anderes „Ich“ schlummert als das kalte Ich, das er nach außen hin immer zeigt. Breuer kann Nietzsche überreden, ein Zimmer in seiner Wiener Lauzon-Klinik (fiktiv) zu beziehen. Breuer gibt vor, dass er auf Nietzsches Hilfe für seine eigene Verzweiflung angewiesen ist.
Psychoanalytische Theorien werden mit eingewebt. Hier findet sich z.B. die Theorie von Bion’s „Second Thoughts“ wieder: „Möglich, dass die bewussten gedanklichen Manifestationen Nachgedanken sind – Vorstellungen, welche sich im nachhinein bilden, damit der Anschein der Oberherrschaft gewahrt bleibe“, sagt Nietzsche auf S. 145/146.
Anna O.
Breuer ist verzweifelt, weil er immer an seine Patientin Bertha Pappenheim (Deckname „Anna O.“) denken muss. Er versuchte dieser hysterischen Patientin zu helfen, indem er sie in Trance versetzte und sie an den Ursprung der Symptome herankommen lassen wollte. Eines Tages zeigte sich bei Bertha eine Scheinschwangerschaft. Seine Frau Mathilde wurde so eifersüchtig, dass Breuer sich gezwungen sah, Bertha in eine Klinik zu schicken. Doch Breuer konnte an nichts anderes mehr denken, als an sie. Breuer und Nietzsche treffen sich jeden Tag, um über Breuers Problem zu sprechen. Die Männer kommen in einen spannenden Austausch über Einsamkeit, Wahrheit und Lebenssinn.
„So weit ich zurückdenken kann, habe ich mich vor der Leere in mir selbst gefürchtet. Wenn auch das Alleinsein nichts mit der An- oder Abwesenheit anderer Menschen zu tun hat. Wissen Sie, was ich meine?“, fragt Breuer (S. 331).
„Macht kommt der Nähe ins Gehege“ (S. 129): „… wir empfinden Haß gegen die, welche … uns bei zärtlichen Gefühlen ertappen. Was wir in diesen Momenten benötigen, sei nicht Mitempfinden, sondern die Gelegenheit, die Beherrschung über unsere Gefühle wiederzuerlangen“, sagt Breuer auf S. 129.
Freiheit
Nietzsche macht Breuer klar, dass Breuer nichts mehr fürchtet als die Freiheit. Breuer fühlt sich in seinem Familienleben gefangen. Er ist sich nicht sicher, ob er sein Leben so wollte oder ob er nur seinen Verpflichtungen folgte. Er weiß nicht, wie er die quälenden Gedanken an Bertha loswerden kann. Dann entdecken Breuer und Nietzsche, dass die Bedeutung des Symptoms eine große Rolle spielt. Sie müsse man entdecken, damit sich das Symptom abschwächen kann. Bei einem gemeinsamen Spaziergang über den Friedhof kommen Breuer und Nietzsche zu einem Wendepunkt, als Nietzsche auf dem Grabstein entdeckt, dass Breuers Mutter ebenfalls „Bertha“ hieß. Breuer kehrt von diesem Spaziergang zutiefst verunsichert zurück. Nietzsche sagte ihm, dass er seine Ehe nur retten könnte, wenn er sie aufgebe. Breuer lässt sich von Freud hypnotisieren und begibt sich in Hypnose auf eine große Reise. Er „verlässt“ seine Familie und besucht die Klinik, in der Bertha behandelt wird. Er sieht sie mit einem anderen Arzt spazieren gehen. Sie verhält sich bei dem neuen Arzt genau so, wie sie sich bei ihm verhalten hatte. Gleichzeitig spürt er eine riesige Sehnsucht zurück zu seiner Familie.
Aufgewacht
Aus der Hypnose aufgewacht, fühlt sich Breuer wie befreit. Er kann wieder etwas für seine Frau Mathilde empfinden und spürt, dass er das Leben, das er führt, selbst so will. Er spürt seine Angst vor der Freiheit, aber er hat auch ein neues Freiheitsgefühl erlangt. Während er dies Nietzsche erzählt, kommt auch Nietzsche zu einer Wendung. Endlich erzählt er von seiner Verzweiflung und seiner Liebe zu Lou. Die beiden Männer gestehen sich die letzten Geheimnisse. Breuer beichtet Nietzsche den Kontakt zu Lou Salomé und auch hier zeigt sich: Lou hat sich bei Breuer genau so verhalten wie bei Nietzsche. Nietzsche und Breuer werden zu Freunden. Nietzsche ist über diese Freundschaft und die emotionale Berührung so gerührt, dass er weint. Breuer lädt ihn ein, Weihnachten mit seiner Familie zu feiern. Doch so sehr Breuer die Freiheit fürchtet, so fürchtet Nietzsche die Verbundenheit und die Familie. Beide Männer umarmen sich und gehen, den inneren Frieden gefunden, auseinander.
„Nietzsche, das Gesicht in den Händen vergraben, nickte. „Seltsam, aber im nämlichen Augenblick, da ich … meine Einsamkeit in ihrer ganzen Bodenlosigkeit … zu erkennen gebe, in diesem selben Augenblick schmilzt die Einsamkeit weg! Im nämlichen Augenblick, da ich Ihnen sagte, mich habe noch nie jemand berührt, in eben diesem Augenblick ließ ich mich erstmals berühren“ … „Ein Paradox!“, sagte Breuer. „Einsamkeit existiert nur in der Einsamkeit; sobald sie geteilt wird, löst sie sich auf.“ S. 435
Fazit Eine unglaublich spannend geschriebene Geschichte mit viel Seelenbalsam. An unzähligen Stellen hört man förmlich den eigenen Psychotherapeuten zu sich sprechen.
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Links:
Irvin D. Yalom
Die rote Couch
Aus dem Amerikanischen von Michaela Link
Verlagsgruppe Random House
22. Auflage, Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 1998
www.btb-verlag.de
Film: Irvin Yalom:
La thérapie du Bonheur
(Yalom’s Cure, Yaloms Anleitung zum Glücklichsein)
amazon
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 5.11.2013
Aktualisiert am 29.12.2024
4 thoughts on “Buchtipps: Die rote Couch von Irvin D. Yalom und: Und Nietsche weinte”
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Liebe Sarah,
vielen Dank für Ihren Kommentar!
Natürlich darf man zweifeln und kritisieren. Was ich bei Irvin Yalom aber kritisch finde, ist, dass er den Eindruck erweckt, er sei Psychoanalytiker mit einer Ausbildung bei der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA). Der Leser glaubt, er sei ein Insider. Doch er stellt die Psychoanalytiker in dem Buch meines Erachtens oft so unprofessionell dar, dass man vor ihnen Angst bekommen könnte.
An manchen Stellen des Buches glaubte ich, dass der Übersetzer sich einfach vertan hat, denn IPA heißt auch „International Psychiatric Association“.
Auch in meiner Ausbildung kommen immer wieder Zweifel hoch, das ist ganz klar, aber Irvin Yaloms gezeichnetes Bild stimmte so gar nicht überein mit dem Bild, das ich mir mittlerweile von der IPA (Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung) machen konnte. Ich finde, Yalom sollte klarer darstellen, dass er selbst keine psychoanalytische Ausbildung hat. Die meisten Leser, ja sogar der Verlag, glauben nämlich, er sei selbst Analytiker.
Das Besondere an der IPA-Ausbildung ist, dass man in der Ausbildung 4-mal pro Woche zur Lehranalyse geht und zwar die gesamte Ausbildung lang.
Viele Grüße
Dunja Voos
Meines Wissens ist Yalom Psychiater und Psychotherapeut für Existenzanalyse. Das können Laien sicherlich schnell mal durcheinanderbringen, wenn es auch dennoch ärgerlich ist (auch ich dachte bis jetzt er seit Psychoanalytiker). Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, wie die Bezeichnungen in den USA überhaupt zu differenzieren sind. Dort wird z.B. zwischen „psychiatrist“ und „shrink“ unterschieden und bislang habe ich nicht herausfinden können, welche Ausbildungen genau hinter diesen Bezeichnungen stecken.
Das Buch habe ich bereits mehrmals gelesen und es gehört zu meinen Lieblingsbüchern. Als ich es gelesen habe, hatte ich nicht den Eindruck, dass es missverständliche Eindrücke von der Psychoanalyse vermittelt, im Gegenteil! Es stimmt natürlich, dass der Protagonist keine klassische Psychoanalyse durchführt, dafür fehlt ja schon das Setting (die Patienten sitzen, anstatt zu liegen und kommen nur 1x pro Woche). Allerdings ist es ja auch in der Realität so, dass die klassische Psychoanalyse nicht mehr bei allen Patienten angewandt wird und teilweise auch nicht angewandt werden kann und dadurch nur zu häufig auf eine modifizierte Variante zurückgegriffen wird. Beispiele: bei Traumatisierung rät z.B. Luise Reddeman ganz klar von der klassischen Psychoanalyse im Liegen ab. Und es wollen auch nicht alle Patienten die „Intensivbehandlung“ und mehrfach die Woche kommen, zumal das auch gar nicht alle Probleme indizieren.
Komisch finde ich Ihre Formulierung mit den „Zweifeln“. Als dürfte es nicht sein, dass solche Zweifel überhaupt erst entstehen. Warum darf man nicht zweifeln, hinterfragen, kritisieren? Ist die Psychoanalyse so schwach, dass sie keine Zweifel verträgt? Ich denke, ganz klar: nein! Wer eigenständiges Denken gelernt hat und sich wirklich dafür interessiert, wird sich eh weiter damit auseinander setzen.
Bei mir sind zudem solche Zweifel nicht entstanden. Mit Ernest Lash wurde ein sehr empathischer und menschlicher (fiktiver) Psychoanalytiker gezeichnet, der in mir sehr viel Sympathie angeregt hat. Das Buch hat mich dadurch eher sehr neugierig und gespannt gemacht auf die Psychoanalyse.
Ich möchte hinzufügen, dass ich mich (noch) nicht in der Ausbildung zur Psychoanalytikerin befinde und derzeit (nur) in therapeutischer Analyse bin.
PS: Im Hinblick auf meine zukünftige Ausbildung würde mich interessieren, was an der IPA-Ausbildung so besonders ist?
Entschuldigung. Ich hatte Ihren letzten Absatz nicht vollständig gelesen. Ich weiß jetzt, warum Sie ihn nicht für einen Psychoanalytiker halten.
Ich habe auch das Buch gelesen. Mir wurde dabei nicht vermittelt, dass sexueller Missbrauch bei der Psychoanalyse in der USA der Normalzustand wäre. Ich habe es einfach als interessanten Roman gelesen, so wie ich auch seine anderen Romane gelesen habe.
Wie kommen Sie darauf, dass er kein Psychoanalytiker wäre, schließlich schreibt er von sich, dass er Psychoanalytiker ist.
PS: Ich finde Ihre Internetseite sehr interessant und lese gerne Ihre Artikel.