Keine Angst vorm Schmerzgedächtnis

„Ich soll spätestens nach einer Stunde Schmerzen etwas einnehmen, damit sich der Schmerz nicht ins Schmerzgedächtnis einprägt und dann immer leichter kommt und länger bleibt“, erklärt mir ein Patient, der an chronischen Schmerzen leidet. Dies habe ihm ein Arzt empfohlen. Ich höre das oft. Es ist, als ob viele Menschen sich gar keine Chance mehr gäben, bei Schmerzen nach Lösungen ohne Schmerzmittel zu suchen. Zu groß ist die Angst, die Schmerzen könnten sich wie auf einer Nerven-Autobahn in die Nervenbahnen einbrennen.

Schon 1979 findet sich ein interessanter Artikel zum Schmerzgedächtnis: „Memory for Pain“ von Myra Hunter und Kollegen (Pain, Volume 6, Issue 1, February 1979, Pages 35-46).

Meine Erfahrung mit Schmerzpatienten ist eine andere: Auch chronische Schmerzen, die lange erfolglos behandelt wurden, können vergehen – manchmal sogar recht plötzlich. In einer Psychoanalyse können Menschen manchmal die Erfahrung machen, wie hartnäckige Beschwerden innerhalb weniger Momente nachlassen können, wenn sie sich vom Analytiker verstanden fühlen. Natürlich erinnern wir uns an Schmerzen und vielleicht sind sie manchmal auch sehr leicht weckbar. Dennoch können sie ebenso rasch wieder einschlafen – auch, wenn sie schon lange da waren.

In diesem Beitrag geht es um chronische Beschwerden, die sich durch die körperliche Beeinträchtigung allein nicht erklären lassen. Der körperliche Schaden entspricht bei diesen Patienten nicht dem Ausmaß des Schmerzes. Bei Krebspatienten und Tumorschmerzen ist es etwas anderes – hier ist eine gezielte Schmerztherapie enorm wichtig.

Immer wieder können auch jahrelang anhaltende Schmerzen relativ plötzlich oder über längere Zeit zurückgehen, wenn sich eine psychische und körperliche Veränderung einstellt. Wenn wir unseren Körper gut kennenlernen, z.B. durch Yoga oder Tai Chi, können wir Anspannungen verhindern, die zu Schmerzen führen können. Bei vielen Beschwerden müssen wir gar nicht hektisch werden, sondern können ganz in Ruhe überlegen, wie wir damit umgehen wollen. Auch eine langsame Ernährungsumstellung kann bei so manch chronischem Schmerz sehr helfen. Es dauert eben länger.

„Psychische Störungen früh behandeln, sonst werden sie chronisch!“

Auch bei psychischen Störungen lassen sich die Menschen von den Informationen in Gesundheitssendungen hetzen. „Je früher die Therapie beginnt, desto besser“, heißt es. „Bleiben meine Beschwerden ein Leben lang, wenn ich jetzt nichts unternehme?“, fragt man sich. „Wie schlimm wird es werden, wenn ich jetzt nichts tue?“

Niemand möchte den richtigen Zeitpunkt der Heilung verpassen. Und das kann auch gelingen: Wir haben meistens ein gutes Gespür dafür, wann wir uns aufmachen sollten, um nach Hilfe zu suchen. Dazwischen kommen uns höchstens Zweifel, Ängste und Scham. Wenn unser innerer Druck jedoch groß genug wird, können wir viele Hindernisse überwinden und uns auf die Suche nach Hilfe begeben. Und erst dann ist aus meiner Sicht, der richtige Zeitpunkt für Psychotherapie gegeben.

Wir können viel öfter abwarten, als wir denken. „Natürlich kann jeder Husten prinzipiell ein Zeichen von Lungenkrebs sein – doch wir können nicht jeden sofort in die Röhre schieben“, hörte ich einen klugen Allgemeinmediziner einmal sagen. Manchmal müssen wir schnell handeln – zum Beispiel bei Herzinfarkten, Schlaganfällen, schweren Infektionen, Unfällen oder schweren Allergien. Aber das merken wir dann auch. Doch wenn wir chronisch krank sind und schon vieles versucht haben, sollten wir die Hoffnung nicht verlieren – auch, wenn uns wiederholt das Bild von den „Nervenstraßen“ gezeigt wird, die sich weiten, wenn wir nichts unternehmen, so zeigt die Erfahrung doch oft, dass dieses Bild nicht unbedingt alles ist.

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Dieser Beitrag erschien erstmals am 2.5.2014
Aktualisiert am 8.1.2023

One thought on “Keine Angst vorm Schmerzgedächtnis

  1. Melande meint sagt:

    Danke für diesen Beitrag!

    Ich bin froh, das ich mich in den vergangenen Jahren von dem Druck, bei Schmerzen nach Hilfen im klassisch medizinisch-ärztlichen Bereich zu suchen, befreit habe (notgedrungen, weil ich immer wieder frustriert wurde oder leer ausging).
    So habe ich gelernt, auf …die Weisheit meines Körpers zu hören.

    Liebe Grüße

    Melande

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