
„Hilfe, ich ersticke!“, glaubt so mancher, der gerade hyperventiliert. Die plötzliche Atemnot ist ziemlich erschreckend. Manche Menschen leiden den ganzen Tag unter dem Gefühl, nicht richtig durchatmen zu können und denken immerzu gequält ans Atmen. Andere sind besonders beim Einschlafen oder auch nach dem Sport davon betroffen. Wenn Sie darunter leiden, haben Sie vielleicht schon häufiger den Arzt aufgesucht – doch die Untersuchungen ergeben keinen Hinweis auf eine ernsthafte Erkrankung. Asthma und Herzprobleme wurden ausgeschlossen.
Die Atmung besteht zum einen aus dem „Luftholen“, also der Atembewegung, zum anderen aus dem Gasaustausch an den kleinen Lungenbläschen, den Alveolen (= „primäre, innere Atmung“).
Bei der Hyperventilation holen die Betroffenen so viel Luft (sekundäre Atmung), dass dem Körper manchmal kaum Zeit für den Gasaustausch tief in der Lunge drinnen bleibt. Daher kann es bei dem Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, helfen, für eine Weile bewusst die Luft anzuhalten. Das gilt jedoch nicht bei Asthma. Wer an Asthma leidet, der kann von einer Asthma-Schulung sehr profitieren.
Mit „Zellatmung“ wird der Gasaustausch in den Zellen des Körperinneren bezeichnet: Hier werden an den Mitochondrien sozusagen die Nahrungsstoffe mit Sauerstoff beladen (= oxidiert). Diese „Zellatmung“ wird ebenfalls als „innere Atmung“ bezeichnet.
(Inspiriert durch Ansgar Schoeberl, Yoga aktuell, 12/2018-01/2019, S. 44).
Leiden ohne Diagnose
Bei Atemnot ohne körperliche Erkrankung handelt es sich häufig um Hyperventilation. „Hyper“ ist die griechische Bezeichnung für „über, zuviel“. Es findet also ein „Zuviel“ an Atmung statt. Der Körper erhält mehr Sauerstoff als gewöhnlich, sodass das Gehirn meldet: „Stopp, es reicht, mal kurz die Luft anhalten.“ Das empfinden wir als Atemnot.
Es ist auch möglich, dass wir so flach geatmet haben, dass der Körper denkt, die Atmung hätte nicht mehr stattgefunden. Damit wir nicht das Gefühl von Luftnot haben, ist es notwendig, dass wir die Bewegung der Atemluft spüren – durch die Nase, den Hals und die Luftröhre. Auch möchte der Körper „spüren“, dass sich die Lungen entfalten und dass sich das Zwerchfell bewegt. Ist die Atmung zu flach, kann der Körper Warnsignale in Form des Gefühls von Atemnot abgeben (Prakash Malshe: A Medical Understanding of Yoga, amazon).
Manchmal hat man das Gefühl, man könne den Brustkorb nicht ausreichend weiten oder es fühlt sich so an, dass sich der Brustkorb weitet, ohne dass es zu einem Gasaustausch kommt. Es kann helfen, die Arme nach hinten zu nehmen, sodass sich der Brustkorb weitet. Auch die Yoga-Übung „Kapalabhati“ (Youtube-Videos, aber vorsichtig anwenden) kann helfen.
Hyperventilation und die dramatische Rettung
Sie kennen vielleicht diese dramatischen Filmszenen: Eine junge Frau hyperventiliert. Dann kommt ein attraktiver Arzt und hält ihr eine Plastiktüte vor’s Gesicht. Bald beruhigt sich die Frau und ist von ihrer Atemnot befreit. Auch in der Realität kommt es vor, dass unsensible Ärzte den Patientinnen (oft sind es Frauen) eine Tüte vor Mund und Nase halten, was die Situation nicht wirklich entspannt und viele Patienten in Angst und Schrecken versetzt. Meistens reichen beruhigende Gespräche oder das Ein- und Ausatmen in den eigenen Ärmel.
Warum die Plastiktüte bei Hyperventilation?
Der Trick mit der Tüte ist der: Wenn sich „zu viel“ Sauerstoff im Blut befindet, dann ist „zu wenig“ Kohlendioxid (CO2) vorhanden. Atmet man in eine Plastiktüte aus und danach wieder ein, so atmet man das Kohlendioxid aus der eigenen Ausatemluft wieder ein. So gleicht man das Verhältnis der Atemgase im Körper langsam wieder aus.
Tipps bei Hyperventilation
- Wenn Ihnen die Atemnot zeigt, dass Sie gerade hyperventilieren, dann halten Sie Ihren Arm vor Ihre Nase und atmen Sie durch Ihren Ärmel ein und aus. Sie können sich auch ein Nasenloch zuhalten, sodass nur noch die Hälfte der Luft hineinkommt. Oder Sie drücken beim Ausatmen leicht gegen die Nasenlöcher, damit sich der Atemwiderstand beim Ausatmen erhöht.
- Manchmal hilft es auch, die Luft für einen Augenblick anzuhalten oder den Raum zu verlassen.
- Vielleicht können Sie vor der Tür sagen: „Ich bin so sauer!“, denn oft ist Hyperventilation ein Anzeichen unbemerkten Ärgers oder unausgesprochener Worte.
- Wenn es Ihnen hilft, können Sie einen sogenannten „Peak-Flow-Messer“ in der Apotheke kaufen. Das ist ein kleines Gerät, in das Sie atmen können. Zeigt es Ihnen normale Werte an, obwohl Sie das Gefühl haben, keine Luft zu bekommen, dann hyperventilieren Sie wahrscheinlich.
- Auch ein Finger-Puls-Oxymeter kann beruhigen. Dieses kleine Gerät ermittelt am Zeigefinger über Lichtsignale den Sauerstoffgehalt im Blut. Auch hier können Sie dann sehen, dass die Werte normal sind – so können Sie sich durch das Feedback beruhigen.
- Manche Menschen beruhigen sich durch solche Kontrollmöglichkeiten, andere macht es nur noch verrückter, weil sie jede noch so kleine Abweichung vom Normalen direkt hochschrecken lässt. Sie können es ausprobieren – tun Sie nur, was Sie persönlich als hilfreich empfinden.
Unter Freunden und Kollegen
Vielleicht hyperventilieren Sie, wenn Sie gerade mit Menschen zusammen sind, die Ihnen viel bedeuten. Möglicherweise sind da zwiespältige Gefühle, die Sie kaum bemerken. Sie können dann Ihrer Eifersucht, Ihrer Zuneigung oder Ihrem Ärger keinen Ausdruck verleihen. Sie sind sich über Ihre Gefühle nicht im Klaren oder können sie nicht ausdrücken oder aussprechen. Vielleicht sind Sie gerade auch traurig und meinen, die Trauer nicht zeigen zu dürfen. Wer sein Weinen unterdrückt, der hyperventiliert unter Umständen. Oder Sie ängstigen sich vor einem Vortrag. Dann wird es Ihnen eng ums Herz und Sie wollen sich Luft verschaffen. Wortwörtlich.
Auch, wenn es sich furchtbar anfühlt: Die Hyperventilation ist harmlos. Selbst wenn es zu Kribbeln oder zu einer so genannten „Tetanie“ kommt, bei der sich die Hände infolge des unausgeglichenen Sauerstoff-Kohlendioxid-Verhältnisses verkrampfen, gehen die Symptome folgenlos zurück.
Psychotherapie kann helfen
Hyperventilation kann in aufregenden Lebensphasen gehäuft vorkommen. Sollte sie jedoch so ausgeprägt sein, dass sie zu einem Leidensdruck führt, dann kann es hilfreich sein, sich an einen Psychotherapeuten zu wenden. Mithilfe der Psychotherapie findet man heraus, welche Situationen zur Hyperventilation führen und welche Gefühle nicht gefühlt werden wollen oder dürfen.
Eine längere Therapie kann dann sinnvoll sein, wenn sich sehr ernste Hintergründe für die Hyperventilation herausstellen wie z.B. sexueller Missbrauch. Bei Angststörungen treten Hyperventilationssymptome sehr häufig auf – und zwar so häufig, dass manche Wissenschaftler die Hyperventilation mit der Panikstörung quasi gleichsetzen (siehe Links: Speich und Büchi, 2001).
Verwandte Artikel in diesem Blog:
- Das Steißbein und die Atemnot: Unterer Rücken und Atmung hängen zusammen
- Selbsthilfe bei Hyperventilation
- Plötzliche Atemnot nach dem Einschlafen: Kehlkopfasthma
- Kloßgefühl im Hals (Globusgefühl)
- Atemnot beim Essen
- Respiratorische Psychophysiologie
- Polyvagaltheorie
- Asthma und die Psyche
Panikattacken verstehen – die kleine Serie:
- 1. Panikattacken in der Nacht
- 2. Selbsthilfe bei Hyperventilation
- 3. Tipps bei Panikattacken
- 4. Können Körperhaltungen im Schlaf nächtliche Panikattacken auslösen?
- 5. Falscher Erstickungsalarm bei Panikstörungen – verursacht durch frühe Trennungen?
- 6. Erstickungs-Paniker und Nicht-Erstickungs-Paniker: beiden hilft CBT
- 7. Verschiedene „Angst-Sorten“ hängen von der psychischen Reife ab
- 8. Panikfokussierte psychodynamische Psychotherapie (PFPP)
- 9. Emotional Freedom Technique (EFT): Klopftechnik bei Panikattacken
- 10. Das Gefühl, mittendrin zu sein, kann Panikattacken auslösen
- 11. Panikattacke: Das ist wie weg sein, obwohl man noch da ist
- 12. Panikstörung: Psychodynamische Therapie wirkt
Buchtipp:
Dunja Voos:
Die eigene Angst verstehen.
Psychosozial-Verlag 2015,
amazon
Links:
Voos, Dunja:
Atemnot und flache Atmung bei Angst und Aufregung:
Neurotizismus und Hyperventilationssymptome hängen eng zusammen.
Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG)
20. Januar 2012
Nijmegen Questionnaire zum Hyperventilationssyndrom
(englischsprachig): http://www.buteykokent.co.uk/images/The%20Nijmegen%20Questionnaire.pdf
Herrmann, Jörg M.; Radvila, Andreas:
Serie: Funktionelle Störungen – Funktionelle Atemstörungen – Das Hyperventilationssyndrom
Dtsch Arztebl 1999; 96(11): A-694 / B-532 / C-490
Kommentare zu diesem Beitrag: http://www.aerzteblatt.de/archiv/19060
„In der medizinischen Literatur findet sich kein Hinweis dafür, dass das akute Hyperventilationssyndrom zum Tod führen kann. Eine entsprechende Medline-Literaturrecherche (1966 bis 1999) hat keinen einzigen Artikel ergeben, in dem Hyperventilation als Todesursache beschrieben wurde.“
Deutsches Ärzteblatt, Schlusswort von Prof. Dr. med. Jörg Michael Herrmann, Reha-Klinik Glotterbad, Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 38, 24. September 1999 (57) – A 2369
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 22.4.2010
Aktualisiert am 13.2.20
Dunja Voos meint
Liebe Frau Freimuth,
ich kann mir vorstellen, was Sie mit „Schnappatmung“ meinen. Dieser Begriff bezieht sich genaugenommen aber auf eine bestimmte Atemform kurz vor dem Tod, wenn das Atemzentrum im Hirnstamm gestört ist und nicht mehr zum Atmen anregt. Dann gibt es lange Atempausen und dazwischen immer eine schnappartige Atmung.
Vielen Menschen fällt es leichter, zu weinen, wenn sie ein Gegenüber haben, also wenn sie zum Beispiel einer Freundin Bedrückendes erzählen können. Oft hängen Trauer und Wut eng zusammen und es kann viele weitere gemischte Gefühle geben.
Da kann dann die Atmung durcheinanderkommen. Hyperventilation und Weinen können sich dann mischen. Es entsteht dann unter Umständen diese aufgeregte Atmung, die Sie als „Schnappatmung“ bezeichnen. Auch, wenn das alles sehr dramatisch wirkt und man unter Atemnot leidet, rührt das in der Regel wirklich nur von den Ängsten und dem Ärger her. (Als Ärztin muss ich hier aus rein rechtlichen Gründen natürlich schreiben: Im Zweifel wenden Sie sich an Ihren Arzt ;-)).
Dunja Freimuth meint
Guten Morgen =)
Habe den Beitrag gelesen und finde ihn sehr aufschlussreich.
Trotzdem hab ich eine Frage: Immer, wenn ich anfange zu weinen und es unterdrücke, bekomme ich ganz flott Schnappatmung. Bis jetzt hatte ich das Glück, dass immer wer dabei war und mich beruhigt hat – dann wurde es langsam besser. Kommt sowas wirklich durch Ängste und Ärger?