Duldungsstress ist stark belastend: Wenn man wo drinsteckt, wo man so schnell nicht rauskommt, hilft Millimeter-Arbeit
„Haben Sie Stress?“, fragt der Arzt. „Nein“, sagt der Patient. Und meint es auch so. Unter Stress verstehen wir meistens Zeitdruck, Hektik, zu viele Termine, zu viel Arbeit und Streit. Was aber gehörigen Stress verursachen kann, ist das Dulden. Der Ehemann, der unter seiner aggressiven Frau leidet, duldet, um die Familie nicht zu zerbrechen. Das Kind alkoholkranker Eltern erduldet geduldig die Kindheit, bis es endlich von zu Hause ausziehen kann. „Duldungsstress“ ist eine große Belastung, die niederdrückt. Viele Menschen kennen diesen Begriff nicht. Doch viele Beschwerden werden verständlich, wenn man den Duldungsstress in den Blick nimmt.
Es gibt Lebensphasen, da können wir nur wenige Veränderungen vornehmen – da sind wir abhängig von anderen und stecken in einer bestimmten Situation fest. Die erste dieser Lebensphasen ist natürlich die Kindheit, in der wir unseren Eltern ausgeliefert sind. Ist die Situation schlecht, so ist es sehr schwer, zu entrinnen. Wer helfen will, kann oftmals nur Beziehungsangebote machen und warten, bis das Kind groß genug ist, um Wege herauszufinden. Doch wir können unser Leben lang in Situationen kommen, in denen wir gefangen sind, ohne die geringste Idee, wie wir die Situation auf Dauer verändern könnten.
„In guten wie in schlechten Zeiten“
„In guten wie in schlechten Zeiten“ möchte man sich beistehen, so erklären es die jungen Brautpaare. Doch schweben einem da vielleicht Krebserkrankungen oder ähnliche „unverschuldete schlechte Zeiten“ vor. Wie aber ist es mit Demütigungen und Hass, mit Arbeitslosigkeit, Süchten, finanzieller Abhängigkeit, pflegebedürftigen Eltern oder mit dem Gebundensein, weil man den Kindern nicht wehtun will?
Warten, Beten und Teetrinken sind wichtige Tätigkeiten.
„Haben Sie Stress?“, fragt der Arzt lapidar eine Frau, die wegen Herzinfarkt-ähnlichen Symptomen in die Notaufnahme kommt. Die Mutter von zwei Kindern ist geschieden und hat einen Friseurladen. „Sie müssen Ihren Lebensstil ändern“, rät der Arzt allwissend. „Hören Sie mal!“, antwortet die Patientin, „Ich habe einen Laden und zwei Kinder – soll ich die unter die Decke hängen oder wie meinen Sie?“ Diese Frau bringt ihre Lage auf den Punkt.
Es gibt Verbindungen, Verstrickungen, Zwänge und Situationen im Leben, die lassen sich über Jahre oder Jahrzehnte hinweg nur bedingt oder gar auch gar nicht ändern. Manchmal muss man mühevoll aushalten und jeden Tag mit sich selbst neu verhandeln.
Bei Flucht kommen die Probleme mit
Klar, man kann den ungeliebten Job kündigen und sich scheiden lassen (theoretisch jedenfalls). Doch die inneren Probleme und Verbindungen gehen oft mit – ungewollte Kinderlosigkeit, chronische Erkrankungen, Einsamkeit, Rechtsstreitereien, Sorgen um die Kinder, finanzielle Not, Demütigung und Kränkung lassen sich nicht so leicht abstreifen.
Innerlich fühlt man sich weiterhin verfolgt und die Nächte sind sorgenvoll und schlaflos. Dann liest man Sätze wie: „Krebserkrankungen treten oft bei Personen auf, die in unlösbaren Konflikten stecken oder belastenden Situationen ausgesetzt sind.“ Sowas macht zusätzlich Angst. Doch manchmal bleibt uns nichts anderes übrig, als lange auf bessere Zeiten zu warten. Vielleicht kommen Rückenschmerzen und Kopfschmerzen dazu. Aber wenn man sein Leiden nicht verdrängt, muss man nicht unbedingt hoffnungslos krank werden dabei.
Mini-Abstand-Schritte, die mit der Zeit größer werden
Auch, wenn man nicht so schnell aus einer vertrackten Situation herauskommen kann, so sind dennoch Schritte möglich, die weg vom Schlechten hin zum Besseren führen. Das Kind, das in einer gewalttätigen Familie aufwächst, hat doch mit zunehmendem Alter die Chance, auf gute Andere zu treffen. Mit zunehmendem Alter wächst die Zahl der Beziehungen nach außen.
Wer in einer krankmachenden Ehe steckt, kann trotz aller Gebundenheit dennoch Mini-Schritte in die Außenwelt wagen – man kann anderen vom suchtkranken Partner erzählen, Beratungsstellen aufsuchen, dem Arzt die eigene Not beschreiben, einen psychiatrischen Dienst aufsuchen, die Telefonseelsorge anrufen, inneren Abstand finden, spazieren gehen, einem Verein beitreten.
Scham überwinden und Hilfe suchen
Es kann sehr schwierig sein, die eigene Scham zu überwinden und sich selbst zu erlauben, sich Hilfe zu suchen. Sich selbst Hilfe zu gönnen ist bei Schuldgefühlen oft nicht leicht. Dazu ist die Suche nach Hilfe in Zeiten, in denen es einem nicht gut geht, meistens sehr anstrengend. Und auch die Helfer sind nur Menschen, sodass Enttäuschungen nicht ausbleiben.
Doch wer (lange) suchet, der findet.
Das alles braucht Zeit – der innere Abstand zur unguten Situation muss erst gefunden werden und neue Beziehungen brauchen Zeit, um zu wachsen. Sich selbst immer wieder Gutes tun, gute Bücher und Zeitschriften lesen, gute Radiosendungen hören und mutmachende Fernsehbeiträge anschauen, sich inspirieren lassen, sich einen guten Friseur suchen und sich andere, kleine Inseln schaffen – das hilft.
Der innere Raum wird weiter – und damit oft auch der äußere.
Viele kleine innere und äußere Schrittchen tragen dazu bei, dass man langsam den Weg zum Besseren findet. Wenn man auch nicht sofort die Arbeitsstelle verlassen kann, so kann man doch einen inneren Raum der Möglichkeiten schaffen; man kann sich umhören, man kann träumen, sich neu engagieren oder sich Alternativen ausmalen. Das ist oft eine Möglichkeit, Situationen auszuhalten, die nur schwer erträglich sind.
Träumen ist oft der erste Schritt zur Veränderung. Manchmal fühlt man sich gefangen in bestimmten Lebenssituationen – und ist es vielleicht auch. Aber es gibt immer Veränderung – innere wie äußere, und sei sie auch noch so klein.
Jede Veränderung anerkennen
Wer auch die kleinsten Schritte würdigt, der fühlt sich weniger gefangen. Rückschläge gibt es immer. Nach einem Schritt vor scheint man unbemerkt zwei Schritte zurückgegangen zu sein. Was man für Hilfe hielt, machte in Wirklichkeit alles nur schlimmer. Zuerst mag man es sich nicht eingestehen, doch dann hat man eines Tages die Kraft, auch die unschönen Wahrheiten anzuerkennen. Damit müssen wir manchmal eine ganze Weile leben, vielleicht sogar viele Jahre. Doch dann tun sich auch wieder – oft plötzlich – neue Chancen und Gefühlswelten auf und man kann aufatmen. Zum Glück ist es mit dem Unglück wie mit dem Glück: Auch die schweren Zeiten haben einmal ein Ende.
Bei Dauer-Stress leidet der Körper unter einer allostatischen Last
Kurzfristig kann sich der Körper an stressige Situationen anpassen. Wenn wir in einer Prüfungsphase sind, ist unser Blutdruck vielleicht eine Weile erhöht. Der Körper setzt den äußeren Anforderungen etwas entgegen. Er befindet sich nicht in einer Homöostase, also einem Gleichgewicht, sondern in einer Allostase. Er ist in einer veränderten Verfassung, um mit den äußeren Anforderungen zurecht zu kommen. Ist die Belastung vorbei, findet der Körper zurück zu seinem Gleichgewicht. Bleibt die Anforderung bzw. die Reaktion darauf jedoch bestehen, dann leidet der Körper unter der eigenen „allostatischen Last“.
homoios = griechisch: ähnlich; allos = griechisch: anders, stasis = das Stehen, der Zustand
Allostatic Load Index
Wie hoch diese allostatische Last, also diese Belastung ist, lässt sich mit dem „Allostatic Load Index“ (ALI) abschätzen. Der Index gibt einen Hinweis darauf, wie stark die ungesunden körperlichen Veränderungen bereits ausgeprägt sind.
Der Neurophysiologe Bruce McEwen, Wikipedia (1938-2020) und der Psychologe Eliot Stellar, Wikipedia (1919-1993) haben 1993 den Begriff des „Allostatische-Last-Index“ eingeführt (siehe: Reducing Allostatic Load in Depression and Anxiety Disorders: Physical Activity and Yoga Practice as Add-On Therapies, Luciana D’Allessio et al., 2020). Insbesondere Armut ist mit einem erhöhten Index verbunden.
Der Allostatische-Last-Index (Allostatic Load Index) lässt sich an verschiedenen Markern ablesen. Sowohl Laborwerte als auch körperliche Befunde lassen Rückschlüsse darauf zu, wie hoch die Stressbelastung eines Menschen ist. Dazu gehören zum Einen die Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol in Verbindung mit Entzündungswerten (Zytokine wie Interleukin 6 oder Tumor-Nekrose-Faktor). Zum anderen ist die Erfassung der Werte wichtig, die bei körperlichen Erkrankungen verändert sind wie z.B. Insulin und Glukose bei Insulinresistenz. Ebenso gemessen werden können Bauchfett, Blutdruckwerte, Fibrinogen und C-reaktives Protein (Luciana D’Alessio et al. (2020): Reducing Allostatic Load in Depression and Anxiety Disorders: Physical Activity and Yoga Practice as Add-On Therapies. frontiers in Psychiatry, doi 10.3389/fpsyt.202000501)
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 27.3.2015
Aktualisiert am 14.9.2022