Der Gutgeh-Stress

Es muss uns gut gehen. Davon sind wir überzeugt. Und davon werden wir an jeder Ecke überzeugt – Ratgeber mit befreit-lachenden Gesichtern zeigen uns, wie es wirklich geht: Endlich entspannt zu sein und es geschafft zu haben. Doch wer kennt nicht die ausgedehnten Phasen des Lebens, in denen man wochenlang geknickt ist und sich zu nichts aufraffen kann? Wer ist nicht nach einer (nicht) bestandenen Prüfung, nach einer Fehlgeburt, nach einer Scheidung, nach einer Kündigung für sehr lange Zeit in einer schweren Krise?

Je mehr wir versuchen, entspannt und effektiv zu leben, umso mehr sind wir enttäuscht, wenn das Leben nicht bilderbuchmäßig verläuft – was es ja meistens nicht tut. Begriffe wie „Ein Recht auf Gesundheit“ oder „Ein Recht auf gewaltfreie Erziehung“ stehen oft in krassem Gegensatz zur Wirklichkeit.

Wir meinen, wir müssten genügend Freude haben, Ziele setzen, Sport treiben, wir müssten beim Essen eine Kerze anzünden, die Kinder um acht ins Bett schicken und dürften nicht länger als zwei Wochen antriebslos sein. Wenn wir dann einmal eine gute Schaffensperiode haben, lesen wir den nächsten Artikel über bipolare Depressionen – und schon sorgen wir uns darüber, ob wir vielleicht gerade „manisch“ sind. Wir fühlen und zu dick, zu faul, zu unorganisiert. Aber selten „zu-frieden“.

Paradoxerweise entspannen wir uns dann, wenn wir uns sagen: Wir dürfen ruhig auch mal ein paar Monate lang antriebslos sein und können es uns erlauben, deswegen nicht den Arzt aufzusuchen. Es ist ok, wenn ich diese Woche keinen Salat esse. Es ist auch in Ordnung, mal einen Tag lang alle Rolläden zu schließen und sich ins Bett zu verkriechen oder sich sozial eine Zeit lang zurückzuziehen, ohne dass man direkt davon ausgehen muss, dass nun eine schwere Depression vorliegt.

Das Leben besteht aus Streit, Konflikten, Überschuldung, Zahnarztterminen, Einsamkeit, aus Schäden am Auto, hohen Rechnungen, schlechtem Wetter und vielem mehr. Da können wir noch so viele Ratgeber lesen. Wenn wir mit mehr Selbstverständlichkeit die schlechten Zeiten akzeptieren, dann lässt die innere Anspannung oft nach. Dann merkst du: Wenn du einmal ausgeschlafen bist, kommt die Lebenskraft zurück. Wenn du dich grosszügig deinem Schmerz hingegeben hast, dann wächst auf einmal wieder die Lust, es dir besser gehen zu lassen.

Wir haben den Drang, Unangenehmes schnell zu betäuben. „Schmerzen müssen heute nicht mehr sein“, heißt es. Als „verklärt“ wird es bezeichnet, wenn Frauen zufrieden von ihrer natürlichen Geburt sprechen. Doch die Endorphine, die während der langen Schmerzphase ausgeschüttet werden, führen die Frau in eine eigene innere Welt, in der sie sich auf die Geburt konzentrieren kann.

Das eigene Gefühl ist sicher

Auch, wenn wir unsere Gefühle im Alltag noch so zu verdrehen versuchen: Im Grunde ist unser Gefühl ein sicherer Ratgeber. Wenn die Ampel rot ist, halten wir an – nicht nur, weil es das Gesetz sagt, sondern weil wir wissen, dass dieser Stopp uns vor Unfällen schützt. Zwar können wir lernen, geschickt und heimlich über rote Ampeln zu fahren, doch unser Gefühl, dabei etwas Ungutes zu tun, wird bleiben. Und so können wir uns auch auf unser Gefühl verlassen, das uns sagt, ob wir durch diese Phase dieses Lebens lieber alleine durchgehen oder ob wir uns Hilfe suchen wollen – bei Freunden, Therapeuten oder Ärzten. Es gibt Phasen, da möchte man keine Hilfe annehmen.

„Ich will’s mir ungestört schlecht gehen lassen“

Es gibt Trauerphasen, die du vielleicht ungestört durchleben möchtest, weil du weißt, dass es eine wichtige Phase ist. „Geh zügig zum Arzt, damit sich Ihre Störung nicht chronifiziert!“, heisst es dann. „Denk an das Schmerzgedächtnis! Wenn Du jetzt nichts tust, wird es immer schlimmer!“, hörst du. Doch viele Schmerzen vergehen auch wieder, obwohl sie manchmal jahrelang bestanden. Auch wer schon sehr lange an Depressionen oder Angststörungen leidet, hat dennoch Aussicht auf Besserung. Es muss nicht alles früh, alles sofort sein. Das Gefühl und die Lebensumstände führen dich genau dann zum für dich Hilfreichen, wenn’s passt. Und auch ein Arzt oder Psychotherapeut ist kein Allheilmittel: Oft können sie helfen, oft aber auch nicht. Viele Menschen mit chronischen Leiden stellen sich darauf ein und suchen eigene Wege.

Machen wir uns keinen „Gut-geh-Stress“. Unsere Kraft können wir sinnvoller einsetzen: Ein einsamer Spaziergang in „akzeptierter“ Traurigkeit kann sehr viel erholsamer sein als ein Gedankenkreisen darum, ob die Traurigkeit nicht eine Depression sein könnte, gegen die du etwas tun müsstest.

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Dieser Beitrag erschien erstmals am 31.8.2012
Aktualisiert am 13.8.2025

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