86 Wie werde ich Psychoanalytiker*in? Mit Neid auf die Patienten umgehen
Der Patient hat Familie und Kinder, während man selbst unter seiner Familienlosigkeit leidet. Sie spricht mehrere Sprachen, sie hat schönere Beine, eine bessere Gesundheit, mehr Geld, weniger Frühtraumatisierungen und ist jünger als man selbst. Vor dem Psychoanalytiker macht der Neid nicht Halt. Und es ist oft sehr schwierig, in den neidischen Momenten bei sich zu bleiben und die Situation genau zu analysieren: Was ist eigener, verständlicher Neid? Wo spüre ich als Analytiker den Schmerz des eigenen Mangels? Wo verstärkt der Patient meinen Neid? Reagiere ich sadistisch aufgrund meines Neides?
Manchmal ist man als Analytiker in der neidischen Situation wie gefangen und findet erst später wieder heraus. Dann ist das Nachdenken über die Stunde im Nachhinein kann besonders fruchtbar sein. Neid schmerzt und es ist schwierig, darüber nachzudenken. Doch wer schon öfter bewusst erfahren hat, wie zerstörerisch Neid sein kann, der findet eher Wege, ihn nicht überhand nehmen zu lassen. Neid ist eine Reaktion auf den eigenen Schmerz – und eigener Schmerz will gehalten werden. Ein verständnisvoller Blick auf sich selbst kann da sehr hilfreich sein.
Chronischer Neid
In der Analyse kann man vor Problemen nicht weglaufen. Der Patient, auf den man neidisch ist, kommt jeden Tag wieder. Er macht das, worauf wir neidisch sind, vielleicht in fast jeder Stunde zum Thema. Das kann sich wie eine Strapaze anfühlen, wie eine wiederkehrende Qual. Nicht selten werden Patientinnen währen der Analyse schwanger, während die Analytikerin mit dem Schmerz der eigenen Kinderlosigkeit kämpft. Doch man ist vielleicht schon geübt: In der eigenen Lehranalyse gibt es viele Gründe, um auf den Lehranalytiker neidisch zu sein. Auch ihn sieht man fast täglich und auch hier beginnt bei jedem Wiedersehen der Schmerz aufs Neue. Und dazu sind Lehranalysen ja da: um sich selbst mit seinem Neid und seinem Mangel kennenzulernen.
Neid kann man manchmal überwinden, indem man seine Zerstörungskraft spürt. „Das will ich nicht, ich will’s mir nicht kaputtmachen“, kann man sich sagen. Manchmal jedenfalls.
In der Lehranalyse und in der Analyse mit Patienten erfährt man aber auch: Diese neidische Situation kann zwar lange anhalten oder chronisch mitschwingen, aber der Neid kann auch wieder anderen Gefühlen weichen. So lässt sich die Erfahrung machen, dass sich Gefühle und das Innenleben entwickeln. Es ist viel wert, wenn man sich als Analytiker intensiv mit dem eigenen Neid auseinandersetzt. Wer seinen Neid verdrängt oder nicht wahrhaben will, gerät mitunter in Kämpfe, die große Unzufriedenheit hervorrufen. Gut wahrgenommener und vielleicht überstandener Neid hingegen kann zu einem besseren Umgang mit sich selbst und dem Patienten führen.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
- 87 Das Ausfallhonorar
- 85 „Ich mache mir Sorgen um Sie“
- Psychotherapieausbildung: Neid zwischen Ärzten und Psychologen
- 75 Neid unter Ausbildungskandidaten verstehen
Dieser Beitrag wurde erstmals verfasst am 9.12.2018
Aktualisiert am 11.8.2025