Nicht jeder ist seines Glückes Schmied und nicht jeder kann Verantwortung übernehmen
„Jeder ist seines Glückes Schmied“, heißt es. „Jeder kann selbst Verantwortung für sein Leben übernehmen. Jeder hat sein Schicksal in der Hand.“ Die, die das sagen, sind oft Menschen, die nie wirklich erlebt haben, wie hoffnungs- und aussichtslos die Lage mancher Menschen ist. Kinder, die in „Bildungsferne“ aufwachsen, die Gewalt und Vernachlässigung erleben, haben oft nur geringe Fähigkeiten, sich zu spüren, auszudrücken oder zu mentalisieren.
Sie wuchsen bei psychisch kranken Eltern auf und haben in ihrem Umfeld kaum etwas anderes erlebt als Desaster. Manchen Menschen geht es so schlecht, dass sie eben nicht „Verantwortung“ für sich übernehmen können, denn allein den Begriff müsste man kennen. Man müsste das Gefühl haben, dass man selbst der Autor, der Urheber eines Geschehens sein kann. Wenn Babys an einer Leine ziehen und sehen, dass sich dann ein Püppchen bewegt, jauchzen sie vor Freude, weil sie ihre Selbstwirksamkeit spüren.
Manche Kinder wachsen in so unberechenbarem Umfeld auf, dass sie ihre Selbstwirksamkeit fast nie spüren – meistens eben nur in Form von Gewalt. Diese Menschen befinden sich in einem Alptraum. Und daraus kann man sich zunächst gar nicht wecken. Erst im Verlauf des Traumes, wenn man wacher wird, wird es möglich, sich selbst durch Schreien aufzuwecken.
Die Idee, dass es einen „Retter“ geben muss, ist wohl in jedem Menschen angelegt und in den meisten Religionen zu finden.
Das lebensrettende Fünkchen Ressource
Manche Menschen aber können sich trotzdem befreien. Es sind die Menschen, die wissen, dass ein anderer, guter Mensch von außen kommen muss. Die Ressource dieser Menschen heißt: „Ich weiß, dass ich suchen muss, dass ich Ausschau halten muss. Dass ich mich zeigen muss. Und dass ich fragen kann.“ Nebenbei brauchen sie dabei ein großes Durchhaltevermögen. Aber wenn es ihnen gelingt, auch nur einen Menschen zu finden, zu dem sie Vertrauen haben können, dann haben sie es geschafft. Es ist dann, als wäre im Eis eine kleine Stelle aufgetaut. Dann wird es immer leichter, mehr Eis aufzutauen, sich Wissen anzueignen und sich ein „gutes inneres Objekt“ zu schaffen. Die Chance steigt, wenn die Leute da draußen wissen: Nicht jeder ist seines Glückes Schmied. Doch man kann zum Glücks-Schmied werden, wenn ein Schmied von außen kommt und einen ausbildet.
Verantwortung kann nur tragen, der fühlt, dass er der Autor des Geschehens ist
„Verantwortung“ ist ein vielgeliebtes und großes Wort. Es steht für Freiheit des eigenen Handels und dafür, zu seinen Fehlern zu stehen. Es ist nah verwandt mit dem Begriff „Schuld“ und doch irgendwie schuldfreier. „Sie wollen keine Verantwortung übernehmen“, sagt der Therapeut vorwurfsvoll. Der erwachsene Patient schaut ihn mit großen Augen an. Er hat nur ein oberflächliches Bild von „Verantwortung“ im Sinn. Aber er versteht und begreift nicht, was das sein soll. Der Therapeut ist aufgebracht.
Die Seele kann alles. Oft gehen wir davon aus, dass unsere Psyche das kann: Symbolisieren, Spielen, Nachdenken, sich in jemand anderen hineinversetzen und Verantwortung übernehmen. Doch das ist nicht so. Die Dinge entwickeln sich in der Psyche nur teilweise von selbst. Sie entstehen beim Kind nur über die weitgehend gesunde Beziehung zu Mutter und Vater und auch nur dann, wenn das Kind selbst gesund ist. Es gibt Kinder, die können nicht spielen oder träumen, zum Beispiel manche autistischen Kinder.
Autor sein
Verantwortung zu übernehmen heißt, das Gefühl zu haben, dass man der Autor des Geschehens ist. Um Verantwortung zu übernehmen, brauchen wir ein starkes „Ich“. Wir brauchen das Gefühl, selbstwirksam zu sein. Kleine Babys freuen sich, wenn sie etwas mit ihrer Hand in Bewegung setzen können und merken, dass sie der Verursacher sind. Dieses Gefühl, der Herr im eigenen Hause zu sein, ist bei Weitem nicht selbstverständlich. Schon allein bei Angststörungen geht es vielen Menschen verloren. Sie sagen: „Die Angst überfällt mich einfach, ich kann nichts dafür.“ Und so fühlen sie auch. Es ist die Hölle für sie, weil sie sich machtlos fühlen. Oft erst in einer langen Therapie gelingt es, den Betroffenen das Ruder in ihre Hand zu geben.
Ein starkes Ich
„Wenn Eltern ihre Kinder schlagen, dann sind sie doch schuld, oder?“ Diese Frage stellte mir kürzlich eine Moderatorin in einer Radiosendung. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass es so ist. Doch wer selbst Gewalt in der Kindheit erlebt hat, bei dem drückt sich die Gewalt in die Psyche wie ein Stempel. Taucht eine ähnliche Situation auf, handelt der Betroffene wie automatisch. Er ist teilweise Opfer seiner selbst. Manchmal hasst er sich dafür, den eigenen Gewalttaten so ausgeliefert zu sein. Die Gefühle überschwemmen ihn und die Affektkontrolle ist zu schwach.
Wir haben die Wahl
Jeder könne sich dazu entscheiden, etwas zu verändern, sich Hilfe zu holen und Verantwortung zu übernehmen. Aus Sicht eines Menschen mit einem gut funktionierenden Ich ist das so. Er kann innerlich Abstand nehmen, er hat Entscheidungsfreiheit und die Fähigkeit, Kontrolle für sich zu übernehmen. Doch wir sollten immer berücksichtigen, dass es längst nicht allen erwachsenen Menschen so geht.
Die Psyche im erwachsenen Menschen kann immer noch ganz Kind, ganz hilflos sein.
Das Wort „Verantwortung“ hört so mancher Patient das erste Mal in seinem Leben ganz bewusst von seinem Therapeuten. Um zu begreifen, was das ist, dauert es manchmal viele Jahre.