Die psychoanalytische Deutung erlernen – eine Kunst in Psychotherapie und Psychoanalyse

Ein Psychoanalytiker hört lange zu und deutet dann. Er findet im Dickicht eine Lichtung, beschreibt das Gefühl oder Bild, das in ihm entstanden ist, er hat eine Idee, errät den Zustand des Patienten oder stellt einen bisher nicht gesehenen Zusammenhang her.
„Deutung“ in der Psychoanalyse heißt vereinfacht: etwas Unbewusstes bewusst werden lassen. Eine Deutung weist auf die „Bedeutung“ von etwas hin. Doch wann ist das, was der Analytiker sagt, nur eine Äußerung, und wann eine Deutung? Wenn eine Deutung (englisch: Interpretation) zutrifft, dann sind Patient und Analytiker oft berührt und erleichtert. Beide haben dann das Gefühl, etwas verstanden zu haben.
Eine korrekte Deutung ist sowohl für den Patienten als auch für den Analytiker häufig eine Überraschung (Bion in Grotstein: A Beam of Intense Darkness, Karnac 2007, S. 83). Kommt eine Deutung zu früh, „wird sie von niemandem gehört“ (Anne Marie Sandler: Encounters through generations, Youtube). Der Analytiker sollte die Deutung erst aussprechen, wenn er das Gefühl hat, dass der Patient sie verdauen kann, also dass der Patient „deutungsbereit“ ist. Deutungen kommen dem Analytiker am besten im Zustand der frei schwebenden Aufmerksamkeit – sie haben oft etwas Träumerisches.
Die erleichternde Deutung wird vom Patienten oft ersehnt. Der Analytiker sieht sich manchmal unter dem Druck stehen, etwas Hilfreiches zu sagen. Doch wenn der Analytiker sich anstrengt und sich zu einer Deutung quält, hat sie nur wenig Wert. Es kann wichtig sein, dem Erwartungsdruck des Patienten zu widerstehen. Auch könnte dieser Druck selbst gedeutet werden.
Passt: Psalm 119, 162: „Ich freue mich über dein Wort wie einer, der große Beute findet.“
Die Deutung hängt auch von der psychoanalytischen Schule ab
Mann könnte vereinfacht sagen: Freudianer deuten („erklären“) Trieb- und Wunsch-Abwehr-Konflikte: „Sie würden gerne Ihren Partner verlassen, aber haben Sorge, es könnte Ihnen schaden.“ Dies ist eine Konfliktdeutung, auch Inhaltsdeutung genannt. Auch kann man das Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen deuten: „Sie haben vielleicht das Gefühl, ich bin genauso streng wie Ihr Vater.“ Dies nennt sich „Übertragungsdeutung“ (im Hier und Jetzt). Da es sich auf die Beziehung zwischen Analytiker und Patient bezieht, spricht man hier auch von „Binnenübertragungsdeutung„. Es ist auch möglich, den Widerstand des Patienten zu deuten: „Sie sagen jetzt vielleicht nichts, weil sie befürchten, dass es unsere Beziehung zerstören könnte, wenn Sie Ihre aggressiven Gedanken aussprechen“ (Widerstandsdeutung).
Als genetische Deutungen werden solche Deutungen bezeichnen, die den Zusammenhang zwischen Jetzt und Kindheit erklären. Beispiel: „Sie müssen vielleicht immer kämpfen, weil Sie schon bei Ihrer Mutter immer kämpfen mussten, um zu bekommen, was Sie brauchen.“
Genau wie Ich-Psychologen weisen „Freudianer“ z.B. auf die starken Gebote des Über-Ichs hin: „Sie befürchten, bestraft zu werden, wenn Sie Ihre Meinung sagen.“ Selbstpsychologen deuten vielleicht die Funktion, die ein anderer Mensch für den Patienten haben könnte: „Sie sehen in mir die Person, die Sie beruhigen kann, aber Sie sehen mich nicht als Ganzes.“
Deuten heißt, etwas emotional erfahrbar zu machen.
Kleinianer wollen die unbewussten Phantasien verdeutlichen und gehen auf die „inneren Objekte“ ein: „Vielleicht haben Sie die Phantasie, Sie würden Ihre Mutter töten, wenn Sie Schlechtes über sie denken.“ Analytiker, die besonders auf die Mentalisierungsfunktion des Patienten achten, erklären vielleicht verschiedene Motivationen und Absichten des Patienten und seiner Mitmenschen: „Vielleicht hatte Ihre Mutter Ihnen nichts Böses gewollt – vielleicht hatte sie Angst, Sie würden Schaden nehmen, wenn sie nicht aktiv werden würde.“
Arten von Deutungen in der Psychoanallyse:
Objektale Deutungen: Objekte wie Tiere, Menschen oder Dinge werden als vom Patienten getrennt gedeutet. Beispiel: Ein Patient träumt von einem roten Laster. Dann kann man deuten: Der rote Laster soll die Schulden des Patienten darstellen.
Subjektale Deutungen: Bei einer subjektalen Deutung geht der Analytiker davon aus, dass das, wovon der Patient erzählt, ein Teil des Patienten ist. Der rote Laster könnte vielleicht der Patient selbst sein, der bereits zu viele Sorgen auf sich nehmen musste. Erzählt der Patient zum Beispiel von einer Kollegin, die nie genug bekommen kann, dann könnte der Analytiker zum Beispiel sagen: „Vielleicht können Sie selbst ja auch nie genug bekommen.“ Besonders Personen und Tiere in Träumen kann man subjektal deuten: „Da war dieser Hund mit diesem weit aufgerissenen Maul.“ Hier könnte der Analytiker sagen: „Vielleicht sind Sie ja der Hund, der ungeheuren Hunger hat.“
„Die Gruppe um Weiss und Sampson (Weiss 1992) geht von der Hypothese aus, dass das entscheidende Ziel des Psychotherapiepatienten darin besteht, seine ihm unbewussten pathogenen Überzeugungen durch den Analytiker falsifiziert zu bekommen“ (Mertens/Waldvogel: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, Kohlhammer 2008: S. 138)
Phänomenologische Deutung: Sie bezieht sich auf den Patienten, „wie er ist“ und auf die Situation, in der sich der Patient im Leben gerade befindet. Beispiel: „Sie kaufen sich immer so große Autos, weil Sie vielleicht damit verstecken wollen, wie klein Sie sich fühlen.“
Gesättigte und ungesättigte Deutung: Gesättigte Deutungen erklären dem Patienten etwas vollständig: „Sie sind heute vielleicht so bockig, weil Sie sich fühlen, als würde ich Sie genauso in die Ecke drängen, wie die Mutter es immer tat.“ Ungesättigte Deutungen deuten nur etwas an und lassen Raum für weitere Entwicklungen in der Stunde: „Es ist, als seien Sie in eine Ecke gedrängt worden.“ Ungesättigte Deutungen können auch nur aus einem Wort oder kurzen Nachdenk-Fetzen bestehen: „… wieder in der Ecke …“
Binnenübertragungsdeutung und Außenübertragungsdeutung:
„Sie haben Sorge, ich könnte Sie genauso fallen lassen, wie Ihr Vater es tat.“ Die Beziehung zwischen Patient und Analytiker wird direkt besprochen.
„Sie sehen in Ihrem Chef immer wieder Ihren dominanten Vater und werden dann unterwürfig.“ Die Beziehung zwischen Patient und Analytiker kann sich in der Außenwelt im Zusammenspiel mit anderen widerspiegeln. Die Außenbeziehung muss natürlich nichts mit der Analytiker-Patient-Beziehung zu tun haben, sondern kann allein etwas über den Analysanden bzw. den Außenstehenden sagen.
Prozessdeutungen beziehen sich auf Prozesse, z.B. auf den analytischen Prozess im Laufe der Zeit: „Früher hatten Sie an dieser Stelle immer einen Fluchtreflex. Heute können Sie sich das in Ruhe anschauen.“
Aktuale Deutung (Hinz 2009): Lauscht er Analytiker seinem Patienten und beobachtet er ihn, fallen ihm bestimmte Möglichkeiten der Deutung ein. Die Deutung, die der Analytiker aus einer Reihe von möglichen Deutungen auswählt, ist die aktuale Deutung.
Tiefe Deutung: Bei einer „tiefen Deutung“ sagt der Analytiker dem Patienten etwas, das sich auf ein ganz ursprüngliches Problem in der Vergangenheit bezieht oder/und auf etwas tief Unbewusstes.
Der Psychoanalytiker James Strachey (1887-1967) schreibt:
„Er (der Ausdruck „tiefe Deutung“) beschreibt zweifellos die Deutung von Material, das entweder genetisch früh und historisch entfernt von der gegenwärtigen Erfahrung des Patienten liegt oder das sich unter einer schweren Last von Verdrängung befindet – Material jedenfalls, das beim normalen Stand der Dinge für das Ich des Patienten überaus unzugänglich und weit von ihm entfernt ist.“ (S. 508)
James Strachey (1935): Die Grundlagen der therapeutischen Wirkung der Psychoanalyse. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 1935, 21 (4): 486-516
Mutative Deutung (mutare = lat. wechseln, sich verwandeln, sich verändern): Eine Deutung, die zu einer spürbaren Veränderung beim Patienten – und manchmal auch beim Analytiker – führt. Beispiel: „Bei der ‚mutativen Deutung‘ vollzieht sich nach Strachey ein Austausch von Über-Ich-Inhalten, wobei Einstellungen des Analytikers, die dieser anlässlich bestimmter Deutungen vermittelt, als neue, milde Über-Ich-Anteile verinnerlicht werden. Dieser Austausch läuft darauf hinaus, dass sich der Patient partiell mit dem Psychoanalytiker identifiziert.“ Übertragungsdeutung und Realität, S. 295, Helmut Thomä, Horst Kächele: Psychoanalytische Therapie: Grundlagen, Band 1, Verlag Springer 2006
Die bekannteste aller Deutungen ist wahrscheinlich die Traumdeutung.
Bion: Erst fühlen, dann deuten
Der britische Psychoanalytiker Wilfred Bion (1897-1979) hat Einleuchtendes zur Deutung gesagt (James Grotstein: A Beam of Intense Darkness, Karnac 2007). Durch seine Therapie mit Borderline-Patienten und Psychotikern hat er gelernt:
„I do not think such a patient will ever accept an interpretation, however correct, unless he feels that the analyst has passed through this emotional crisis as a part of the act of giving the interpretation.“ (In: Grotstein: A Beam of Intense Darkness, S. 91) Übersetzt von Voos: „Ich glaube nicht, dass so ein Patient jemals eine noch so korrekte Deutung akzeptieren wird, wenn er nicht spürt, dass der Analytiker zuvor selbst durch diese emotionale Krise gegangen ist. Dieses Mit-Erleben der Krise ist Teil des Deutungsvorgangs.
„… the interpretation is merely setting a formal seal on work that has already been done.“
„… die Deutung besiegelt nur die Arbeit, die vorher schon getan wurde.“
Wilfred Ruprecht Bion (Chris Mawson, Redakteur) 2021:
The Complete Works of W.R. Bion:
Taylor & Francis, Volume 11 – Seite 1959
Google Books
Der Psychoanalytiker Wilfred R. Bion (1897-1979) beschreibt die „Deutung“ als ein „Element“ der Psychoanalyse: „Da der Analytiker ständig dazu aufgerufen ist zu entscheiden, ob er mit einer Deutung intervenieren soll, sollte die Entscheidung mit ihren Komponenten von Einsamkeit und Introspektion als ein Element der Psychoanalyse angesehen werden …“ Bion: Elemente der Psychoanalyse, suhrkamp taschenbuch 1992: S. 46
Wenn man falsch liegt
Ähnlich wie eine Mutter nicht immer richtig errät, was mit ihrem Kind ist, so kann auch der Psychoanalytiker mit seiner Deutung falsch liegen. Der Patient fühlt sich dann missverstanden. Die Deutung hat dann vielleicht viel mit dem Psychoanalytiker selbst, aber wenig mit dem Patienten zu tun.
Manchmal ist der Psychoanalytiker plötzlich so in seiner eigenen Welt gefangen, dass er etwas „deutet“, was sich auf seinen eigenen Innenraum bezieht. Oft durchmischen sich jedoch auch das Unbewusste des Patienten und des Analytikers, sodass erst im Laufe der Verwicklung eine neue „Entwicklung“ zustande kommt und dann neues Deuten möglich wird.
Sobald ein Missverständnis deutlich wurde, ist die Versuchung groß, immer noch mehr zu sagen, sich wieder herauszureden, sich zu rechtfertigen. Doch meistens ist das der Situation nicht zuträglich. Besser, man lässt vielleicht nach einer kurzen Erklärung die „falsche“ Deutung sacken und schaut, was sich aus dem Missverständnis entwickelt.
Mit der Deutung innerlich spielen
In der Psychoanalyse geht es viel um’s Spielen. Sobald die Dinge konkret werden, hört das Spiel auf. Spielen bedeutet, geistig beweglich zu bleiben und die Dinge mal von rechts, mal von links zu betrachten. Manchmal fällt einem als Analytiker hinter der Couch früh eine Deutung ein, zum Beispiel: „Vielleicht zeigt sich in dem, was Sie hier erleben, wie es Ihnen mit Ihrer Mutter ging. Auch die Mutter hatte kein offenes Ohr für Sie.“
So eine Deutung kann etwas in Gang bringen und weitere Ideen entstehen lassen. Sie kann aber auch etwas „töten“. Sie kann den Patienten zunächst zufriedenstellen und den Assozisationsprozess beenden. In jeder Situation zeigt sich neu, wann man eine Deutung am besten ausspricht.
„Vielleicht habe ich da gerade etwas verstanden“
Wenn man jedoch die Deutung in sich behält und sie nicht gleich ausplaudert, entsteht ein innerer Raum. Man kann auf einmal mit dem entsprechenden Ohr hören. Passt das, was die Patientin erzählt, zu meiner inneren Deutung? Könnte ich da richtig liegen oder irre ich mich? Welche weitere Aspekte tun sich auf? Manchmal kann der Eindruck entstehen, der Analytiker ließe den Patienten zappeln. Es kann sehr unangenehm werden, eine Deutung zurückzuhalten und die Spannung entstehen zu lassen. Kann ich als Analytiker*in diese Spannung aushalten?
„Wir versäumen dabei aber nie, unser Wissen und sein [des Patienten] Wissen strenge auseinander zu halten. Wir vermeiden es, ihm, was wir oft sehr frühzeitig erraten haben, sofort mitzuteilen oder ihm alles mitzuteilen, was wir glauben erraten zu haben. Wir überlegen uns sorgfältig, wann wir ihn zum Mitwisser einer unserer Konstruktionen machen sollen, warten einen Moment ab, der uns der Geeignete zu sein scheint, was nicht immer leicht zu entscheiden ist.“ … „In der Regel verzögern wir die Mitteilung einer Konstruktion, die Aufklärung, bis er [der Patient] sich selbst derselben so weit genähert hat, dass ihm nur ein Schritt, allerdings die entscheidende Synthese, zu tun übrig bleibt. Würden wir anders verfahren, ihn mit unseren Deutungen überfallen, ehe er für sie vorbereitet ist, so bliebe die Mitteilung entweder erfolglos oder sie würde einen heftigen Ausbruch von Widerstand hervorrufen …“
Sigmund Freud: Die Psychoanalytische Technik. Aus: Abriss der Psychoanalyse (1940), GW (Gesammelte Werke), Band 17, S. 103, Projekt Gutenberg
Der Aufbau der Spannung bis zum Aussprechen der Deutung kann sehr sinnvoll sein, denn es kann zu den aversiven Affekten führen, die der Patient und vielleicht auch der Analytiker oft vermeiden wollen. Doch hier eröffnen sich dann vielleicht Welten der Vergangenheit, die sich dann endlich erkunden lassen. Es findet also eine spürbar fruchtbare Reise in die „aversive Welt“ statt. Wenn uns hinter der Couch eine gute Deutung einfällt, sind wir manchmal ganz begeistert. Wir möchten sie dem Patienten gleich mitteilen. Er könnte uns dann dankbar sein oder uns sogar bewundern. Doch oft ist es viel belebender, die gefundene Deutung eine ganze Weile in sich zu tragen.
Oft ergibt sich aus der Zurückhaltung der Deutung für beide ein belebendes, befreiendes und interessantes Spiel. Der Patient assoziiert und der Analytiker kann die Assoziationen des Patienten um seine innere Deutung (die ja eine Hypothese ist) herumtanzen lassen. Wenn man es schafft zu warten, merkt man oft, wie der Patient über Assoziationen selbst zu der Deutung findet, die man als Analytiker schon länger im Kopf hat.
Für den Patienten ist es dann häufig ein „geburtsartiges“ Gefühl, wenn er sozusagen am „Ziel“ seiner Assoziationen angekommen ist, weil er spürt, dass er selbst den Weg auf die Welt gefunden hat. Er selbst hat zum Verstehen gefunden. Auch für den Analytiker ist das ein schönes Gefühl. Ein bestätigendes „Ja“ oder „Aha!“ gibt dem Patienten die Rückmeldung, dass man gemeinsam eine Vermutung hatte, die sich nun als plausibel bestätigt.
Schon während der Analytiker seine Deutung still in sich trägt, kann es dazu kommen, dass der Patient sich tief verstanden fühlt. Er spürt die Resonanz des Analytikers auf seine Innenwelt. Es ist, als reagierte er auf die Deutung, die sich der Analytiker schon zurechtgelegt hat. Das Spiel mit der inneren Deutung, die nicht ausgesprochen wird, kann beiden viel Freude bereiten und einen verstehenden „Spielraum“ eröfffnen.
Deuten am Dringlichkeitspunkt
In der Hundeschule lernt man: Die Reaktion des Menschen muss in direktem zeitlichem Zusammenhang mit dem Verhalten des Hundes stehen, weil der Hund sonst keinen Zusammenhang mehr zwischen den Geschehnissen herstellen kann. Es ist schon merkwürdig, die Psychoanalyse mit einer Hundeschule zu vergleichen, aber kürzlich kam es mir in den Sinn, als ich meinte, den richtigen Zeitpunkt für eine Deutung verpasst zu haben. Manchmal geschieht es ganz schnell – der Psychoanalytiker überlegt, ob er die Deutung nun geben soll oder nicht und wenige Augenblicke später merkt er: Jetzt ist es zu spät. In der Psychoanalyse gibt es für den passenden, sich aufdrängenden Augenblick zur Deutung einen schönen Begriff: den Dringlichkeitspunkt.
Der Psychoanalytiker James Strachey (1935) schreibt:
„Eine mutative (Anmerkung: eine zur Veränderung führende) Deutung kann nur bei einer Es-Regung mit aktueller Besetzung Anwendung finden. (Heißt: Der Patient muss von einem Gedanken oder Gefühl stark ergriffen [= „besetzt“] sein.) … Jede mutative Deutung muss gefühlsmäßig ‚unmittelbar‘ sein, der Patient muss sie als etwas Gegenwärtiges empfinden. … Deutungen müssen immer auf den ‚dringlichsten Punkt‘ hinzielen. In jedem bestimmten Moment wird eine besondere Es-Regung in Bewegung sein; diese Regung und keine andere ist dann für eine mutative Deutung gerade empfänglich. Zweifellos ist es weder möglich noch wünschenswert, die ganze Zeit mutative Deutungen zu geben; aber wie Melanie Klein (Anmerkung: Die Psychoanalyse des Kindes, 1932) hervorgehoben hat, ist es eine sehr wertvolle Eigenschaft eines Analytikers, jeden Augenblick den ‚Dringlichkeitspunkt herausfinden zu können‘.“ James Strachey: Die Grundlagen der therapeutischen Wirkung der Psychoanalyse. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 1935, 21 (4): 486-516, archive.org/…
„(Der Dringlichkeitspunkt) … kennzeichnet den Augenblick, an dem etwas aus dem Unbewussten des Analysanden auftaucht und der Analytiker glaubt, es deuten zu müssen. Es ist etwas, was innerhalb des intersubjektiven Feldes geschieht, das beide Beteiligte zusammen umfasst und eine eigene, teils unbewußte Dynamik besitzt.“ Madeleine Baranger (1993): Die geistige Arbeit des Analytikers: vom Zuhören zum Deuten. Jahrbuch der Psychoanalyse: Band 30, www.frommann-holzboog.de/…
Dringlichkeitspunkt = französisch: Point d’urgence
„C’est ‚le fantasme inconscient‘ créé par les deux membres du ‚couple‘ qui vient à constituer un point d’urgence à interpréter en priorité.“ Übersetzt von Voos: „Es ist eine unbewusste Phantasie, die von beiden (dem ‚analytischen Paar‘) kreiert wird und die dann zum Dringlichkeitspunkt wird, der vorrangig gedeutet werden will.“ Madeleine et Willy Baranger (2009): La situation analytique comme champ dynamique. Revue Francaise De Psychanalyse, 2009/2 (Vol. 73), DOI : 10.3917/rfp.732.0605,
www.cairn.info/…
Wenn der Patient schweigt, kann es dennoch einen Dringlichkeitspunkt geben:
„… the point of urgency is already present in the silence. … Consequently, we need to differentiate various points of urgeny in an analytic session or sometimes in a sequence of sessions.“
„Der Dringlichkeitspunkt ist bereits in der Stille da … Folglich müssen wir zwischen verschiedenene Dringlichkeitspunkten in einer analytischen Sitzung oder einer Folge von Sitzungen unterscheiden.“ Madeleine Baranger, Willy Baranger (2008): The analytic situation as a dynamic field. The International Journal of Psychoanalysis. Volume 89, Issue 4, August 2008, Pages 795-826. https://doi.org/10.1111/j.1745-8315.2008.00074.x, onlinelibrary.wiley.com/…
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Links:
Sigmund Freud (1916):
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Kapitel 6: Voraussetzungen und Technik der Deutung
Projekt Gutenberg
Hinz H (2009):
Optionale Deutung – Aktuale Deutung:
Bemerkungen zum ungeschriebenen Konzept der Deutungsoptionen von Wolfgang Loch.
Jahrbuch der Psychoanalyse 59, 69-93, fromman-holzboog
Timo Storck:
Deutung
Kohlhammer, 1. Auflage 2022, S. 72
Firmansyah, D., Mergel, K., Benecke, C. et al. (2021):
Deutungen: eine qualitative Studie unmittelbarer Patientenreaktionen.
Forum der Psychoanalyse 37, 323-336 (2021)
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 19.8.2016
Aktualisiert am 25.1.2024
VG-Wort Zählpixel im ersten Absatz (4761832fc3534c059f826d1becfccf8d).