Warum tut mir Yoga nicht gut?
Ich hatte mich oft gewundert, dass ich morgens nach dem Yoga vegetativ gestresst bei der Arbeit ankam. „Du machst zu viel davon“, sagte mir die Stationsschwester, mit der ich zusammenarbeitete. Und konnte es kaum glauben, denn ich machte gar nicht so viel. Außerdem beendete ich meine Yogarunden mit der Ruheübung Savasana (Leichenstellung). Yoga ist sehr wirksam und insbesondere Menschen mit Angststörungen und komplexen Traumata müssen es oft sehr langsam angehen lassen. Die meisten Youtube-Videos stammen von jungen dynamischen Yogalehrern und -lehrerinnen. Auch schon beim „Anfängerkurs“ nebenan möchte man vielleicht gleich wieder abschalten.
Der in vielen Yogastudios bereits zu Beginn geübte „Sonnengruß“ (Surya Namaskar) ist eigentlich eine Übung für weit Fortgeschrittene und nichts für den Anfang. Vielleicht bist Du bereits von der als „einfach“ bezeichneten Übung der Kindhaltung (= Balasana: sich im Fersensitz ganz nach vorne beugen: Yogaeasy) überfordert, weil dir deine Hüften und Knie so weh tun. Gehe auch bei diesen „einfachen“ Übungen nur bis zur leichten Schmerzgrenze.
Yoga in Yogastudios haben zwar den Vorteil der Gemeinschaft, doch es bleibt oft zu wenig Zeit und Raum, um auf die individuellen Probleme des Einzelnen einzugehen. Vielleicht machst du ja Yoga, um deine Zwangsgrübeleien, deine Übelkeit, Ängste, Schmerzen oder Depressionen abzumildern. Der Traumaexperte Bessel van der Kolk sagt im Video „How to detoxify the Body from trauma“ (Youtube), dass Yoga laut Studien (z.B. Gallegos 2017) zur Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oft besser eignet ist als andere Therapien. Wenn Du Yoga als hilfreich erleben möchtest, kannst du dir vielleicht einen Yogalehrer suchen, der Einzelunterricht gibt. Manchmal zahlen die Krankenkassen etwas dazu. Bereits eine Stunde alle paar Wochen kann gut wirksam sein. Auch lassen sich inzwischen viele Yogalehrer in traumasensitivem Yoga (TSY) ausbilden (z.B. trauma-institut.eu).
Wenn Du schon älter bist, in den Wechseljahren steckst oder an Fibromyalgie und anderen Autoimmunerkrankungen leidest, dann wird es dir vielleicht schon weh tun, einen Arm zu heben. Deine Schulter macht nicht mehr mit. Da hilft es oft, extrem langsam zu werden. Hebe deine Arme nur bis zu der Grenze, an der es unangenehm wird. Wie fühlt sich das an dieser Stelle an? Was passiert, wenn du deine Hände ein bisschen bewegst oder drehst?
Eine Grundübung im Yoga ist es, die Arme mit der Einatmung seitlich oder vorne hochzuheben und mit der Ausatmung wieder zu senken. Schaue, wie weit du kommst und mache das ganz langsam. Du kannst während dieser Bewegungen eine meditative Haltung einnehmen und beobachten, was Deine einzelnen Muskeln – vom Kopf über den Rücken bis in die Füße – da machen.
Es kann sehr wohltuend sein, mit wirklich kurzen Einheiten zu beginnen, vielleicht sogar nur mit ein bis fünf Minuten am Morgen vor oder nach dem Frühstück. Obwohl es häufig heißt, dass Yoga am besten vor dem Frühstück ausgeführt werden soll, konnte ich feststellen, dass es mir seltener schlecht wird, wenn ich Yoga nach dem Frühstück mache. Ein vielleicht noch fernes Ziel könnte es sein, täglich oder alle zwei Tage 20 Minuten Yoga zu üben – das reicht oft vollkommen, um den eigenen Körper besser kennenzulernen. Der Orthopäde Ray Long von BandhaYoga.com betont, wie wichtig es sein kann, nur jeden zweiten Tag Yoga zu machen, damit sich die Muskeln erholen und weiterentwickeln können. Wenn du einige Monate dran bleibst, kannst du die Effekte immer feiner wahrnehmen.
Oftmals ist es der Leidensdruck, der es dir leichter machen kann, eine Weile durchzuhalten, bis du angenehme Regungen spürst. Dein Leidensdruck kann jedoch auch zur Resignation führen, wenn du das Gefühl hast, dass sich gar nichts tut, egal was du machst. Doch „Healing takes place on the mat“, heisst es – „die Heilung findet auf der Matte statt“. Du kannst Schrittchen für Schrittchen vorwärts gehen – mit vielen kleinen oder auch grösseren Pausen. Manche finden erst nach Jahren wieder zu ihrer Lieblingsbewegung zurück.
Das Körperkennenlernen ist ein wichtiger Schlüssel, um plötzliche, höchst unangenehme vegetative Zustände über die Zeit besser verstehen und ertragen zu können. Auf der Website „Somatic-Experiencing.de“ (nach Peter Levine) wird von der „natürlichen Wachsamkeit des Körpers“ gesprochen. Wenn sie wächst, können die wachsamen, oft quälenden Gedanken und die Körperanspannung nachlassen.
Warum werde ich nicht gelenkiger?
Wenn Du Dich immer über die Schmerzgrenze hinaus dehnst, dann verbindet Dein Körper mit Yoga den Schmerz. Du vermisst das Wohlgefühl und verlierst die Lust. Es gibt verschiedene Ansichten, wie die Flexibilität gesteigert werden kann. Im Yin-Yoga bleibt man oft lange in einer dehnenden Stellung, bis das unangenehme Gefühl nachlässt. Auch auf psychischer Ebene kannst Du vielleicht erleben, wie schwer aushaltbare psychische Zustände manchmal nachlassen können, wenn Du nicht wegläufst, sondern still wirst und wartest.
Beim Körper geht es mir anders. Ich habe es lange probiert, in unangenehmen Stellungen zu bleiben, doch ich konnte körperlich nicht diese Erfahrung machen, dass ich dabei Fortschritte mache. Auch sind manch ehrgeizige Ziele nicht zu erreichen und es kann eine Befreiung sein, von bestimmten Übungen abzulassen. Sobald du merkst, dass dein Wille anspringt, kann es sein, dass du dich gerade überforderst. Beispielsweise habe ich Jahre lang versucht, die Position der tiefen Hocke (Deep Squat, Malasana) zu erreichen, bis ich irgendwann lernte, dass diese Position allein aus anatomischen Gründen für viele Menschen mit langen Beinen gar nicht möglich ist (Malasana nicht für jeden möglich). Meiner Erfahrung nach ist es am besten, die Position einzunehmen, die ein deutliches Wohlgefühl mit sich bringt und dann darin zu verweilen.
Die dänische Körperpsychotherapeutin Merete Holm Brantbjerg beschreibt in ihrem Video, wie schon minimale Körperbewegungen ein Gefühl von Erleichterung, ja sogar von Lebensfreude mit sich bringen können (A gentle, resource-oriented approach to stress and trauma, Youtube). Ähnlich wie man in der Psychoanalyse frei assoziiert, so lassen sich auch Yogabewegungen „frei assoziieren“. Wenn du einige Grundübungen kennst, kannst du beim Üben auch den Körper entscheiden lassen, welche Bewegung als nächstes dran ist. Interessant sind auch die Bewegungen des Animal Flow, die der Begründer Mike Fitch in seiner Beginner Class (Youtube) zeigt. Auch das ist nicht etwas zum Sofort-Nachmachen, doch die Idee der Wirkung wird schon beim blossen Zuschauen geweckt. Du kannst vielleicht schon beim Betrachten des Videos sehen, wie die Dehn- und Kraftübungen ein ähnlich wohliges Gefühl auslösen können wie das morgendliche Gähnen und Strecken.
Wenn Du schon länger Yoga machst und Du das Gefühl hast, dass es Dir dadurch manchmal sogar schlechter geht, schalte einen Gang zurück. Versuche, den Körper meditativ in den Blick zu nehmen und sehr langsame Bewegungen zu machen. Auch so manche TaiChi-Übung kann hilfreich sein wie z.B. TaiChi Walking for Beginners von Ann Swanson (Youtube).
Yoga bezieht sich auf das gesamte Leben. Zum Beispiel ist Ausschlafen oft wichtiger, als früh aufzustehen, um Yoga zu machen. Denn auch das Ausschlafen ist Teil des Yogas: Es besteht nicht nur aus den Stellungen (Asanas), sondern besonders auch aus Meditation (in Bewegung und im Sitzen), aus Atemübungen (Pranayama) und „rechtem Leben“.
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Links:
Dunja Voos:
Schatten der Vergangenheit.
Trauma liebevoll heilen und innere Balance finden
amazon, 2020
Gallegos, Autumn M. et al. (2017)
Meditation and yoga for posttraumatic stress disorder:
A meta-analytic review of randomized controlled trials
Clinical Psychology Review, Volume 58, December 2017, Pages 115-124
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0272735816304585
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 30.5.2023
Aktualisiert am 3.7.2025
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