Ich-Ideal: Ich wäre so gerne so anders

„Ich wäre gerne viel gelassener, disziplinierter, schlanker.“ Wir alle haben ein Ich-Ideal, also eine Vorstellung davon, wie wir gerne sein würden. Kleine Kinder möchten so sein wie die Grossen. Sie identifizieren sich mit ihnen und idealisieren sie. Erst später kommt es zur Desillusionierung: „Meine Eltern sind furchtbar, ich will niemals so werden wie sie!“, sagen wir jetzt vielleicht. Wir haben neue Vorstellungen davon entwickelt, wie wir gerne sein möchten. „Sehnsüchtig grüßt der, der ich bin, den, der ich sein möchte“, soll der dänische Philosoph Sören Kierkegaard (1813-1855) gesagt haben.

In unserer Vorstellung blenden wir unseren Körper oft aus. Er fühlt sich leicht an. Gelähmte träumen manchmal, dass sie mit Leichtigkeit gehen können. Das Vorhaben „Morgen gehe ich joggen“, ist in der Vorstellung gut machbar – wir haben diesen Gedanken vielleicht, während wir einschlafen und ruhig liegen. Wenn sich dann in der Realität auch unser Körper fühlen lässt, bemerken wir, wie schwierig es ist, die körperlichen Grenzen zu überwinden. Dabei hängen Neid und Ich-Ideal eng zusammen. Wir wären so gerne wie die oder der da!

Sigmund Freud sagte zuerst, das Ich-Ideal sei eine Substruktur des Über-Ichs (Zur Einführung des Narzißmus“, 1914, Projekt Gutenberg): „Was der Erwachsene als sein Ideal vor sich hin projiziert, ist der Ersatz für den verlorenen Narzissmus seiner Kindheit, in der er sein eigenes Ideal war.“ Später benutzte Freud die beiden Begriffe synonym („Das Ich und das Es“, 1923, Projekt Gutenberg). Die Psychoanalytikerin Melanie Klein (1882-1960) hingegen benutzte den Begriff „Ich-Ideal“ nicht. Sie sprach meistens vom „Über-Ich“.

Worin besteht der Unterschied zwischen Ich-Ideal und Überich? Das Über-Ich ist unsere Moral-Instanz. Wir strafen uns, wenn wir einem anderen gegenüber ein schlechtes Gewissen haben: „Das hätte ich so niemals sagen dürfen“, ist eine typische Aussage des Über-Ichs. Das „Über-Ich“ begrenzt uns und hält uns zum Beispiel davon ab, eine Straftat zu begehen. Wenn wir jedoch so sein wollen, wie ein idealisierter Bankräuber, dann überfallen wir eine Bank, weil es unserem „Ich-Ideal“ entspricht.

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Literatur:

Wolfgang Mertens und Bruno Waldvogel:
Handbuch psychoanalytischer Begriffe
Kohlhammer-Verlag, 3. Auflage 2008: S. 319
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 12.4.2014
Aktualisiert am 9.6.2025

2 thoughts on “Ich-Ideal: Ich wäre so gerne so anders

  1. Ich möchte auch die Menschen ermutigen mal aus dem Gedankenkäfig herauszuschauen. Denn ohne Gedanken kann kein ICH existieren. Das ICH, dass zwar auch angenehme Gefühle wie Stolz und Freude erzeugen kann, in der Praxis überwiegen aber – wie hier im Artikel beschrieben – die negativen Gedankenmuster mit dem man sich selbst „fertig macht“!
    Ich lade jeden Leser herzlich dazu ein sich mal zu fragen, wer oder was das ICH eigentlich ist und was das ICH mit einem selbst zu tun hat?

  2. Jay sagt:

    Je mehr ich mit dem Thema beschäftige, umso mehr bekomme ich Zweifel, ob es das „Ich“ überhaupt gibt.
    Dass es nicht der Herr im eigenen Hause ist, erkannte ja bereits Freud vor über hundert Jahren.
    Bahnbrechend ist auch das Libet-Experiment aus den 70er Jahren, wonach sich Handlungen, wie z.B. die Bewegung der Hand, neuronal bereits zeitlich vor ihrer Bewusstwerdung abzeichnen.

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