Psychoanalytische Elemente nach Bion: alpha, beta, Love, Hate und Knowing

Als damals die Flugzeuge ins World Trade Center rasten, sah man geschockte Menschen, die sich vor Entsetzen übergaben. Die Eindrücke waren überwältigend. Die Menschen befanden sich in einem Zustand puren Entsetzens und der Verwirrung. Viele Betroffene waren zunächst weit davon entfernt, sich mit Worten äußern zu können. Sie konnten nur mit Mühe sagen: „Da ist ein Flugzeug ins Gebäude geflogen.“ Was in der Psyche dieser Menschen ankam, war ein Eindruck, der noch nicht in Gänze gedacht oder in Worte gefasst werden konnte. Rohe, überwältigende Eindrücke erlebten wir wahrscheinlich besonders als Baby sehr stark, doch auch als Erwachsene haben wir damit zu tun.
Bevor wir bewusst in Worten und Bildern denken können, nehmen wir Eindrücke, die aus unserem Körper oder von außen kommen, manchal als überwältigend wahr. Manchmal sind wir wie in einem Traum, der noch nicht „gedacht“ werden kann. Solche „rohen psychischen Eindrücke“ – oder wie immer man es nennen möchte – nannte der britische Psychoanalytiker Wilfred Ruprecht Bion (1897-1979) „Beta-Elemente“.
Beta-Elemente werden von der Mutter in Alpha-Elemente umgewandelt
Sind wir gesund, können wir rohe psychische Eindrücke meistens selbst in reifere Formen umwandeln. Nach traumatischen Ereignissen ist das schwieriger. Auch als Erwachsene tut es uns gut, wenn andere uns helfen, unsere Eindrücke psychisch zu verdauen. Als wir noch Baby waren, waren wir darauf angewiesen, dass Mutter und Vater unsere psychisch „unreifen Beta-Elemente“ in reifere „Alpha-Elemente“ umwandelten. Das Baby zeigt der Mutter seine Qual – es trägt diese Qual an die Mutter heran. Die Mutter nimmt diese Qual träumerisch in ihre Psyche auf und denkt darüber nach.
Sie füttert oder wickelt das Baby und sie sagt so etwas wie: „Oooh, so allein warst du? Ich bin jetzt da.“ Das Baby beruhigt sich und macht die Erfahrung: Wenn ich allein bin, Hunger und Angst habe, kann ich durch mein Schreien bewirken, dass meine Mutter kommt. Wenn ich Hunger habe, kommt die Brust. Das Kind erwartet bei Hunger förmlich so etwas wie eine Brust. Bion nannte diese Erwartung oder Ahnung das Präkonzept. Wenn die Brust nicht kommt, dann wird sie zur „Nicht-Brust“. Schon beim Lesen merken wir: Das Abwesende wird zu etwas Schlimmem. Dieses als schlimm empfundene Abwesende ist ein Beispiel für ein Beta-Element im Sinne Bions.
Kommt die Mutter und gibt dem Baby, was es braucht, findet eine „Realisierung“ statt, wie Bion es nannte. Aus „Präkonzeption plus Realisierung“ wird ein Konzept, so Bion. Das Konzept von „Hungerhaben und Abhilfe erfahren“, ist nun denkbar. Im Laufe der Entwicklung wiederholen sich Vorgänge wie diese tausende Male. Das Kind lernt so seine Gefühle und die Abläufe kennen und findet mit der Zeit Worte dafür. Die Gefühle werden im Laufe der Zeit weniger überwältigend – das Baby kann zunehmend auch warten. Aus den unerträglichen „Beta-Elementen“ in der Psyche des Kindes hat die Mutter sogenannte „Alpha-Elemente“ gemacht. Aus dem Unvorstellbaren wird Vorstellbares – aus dem „überwältigenden Großen“ werden handhabbare Häppchen. Die „Alpha-Elemente“ in unserer Psyche sind nun einordenbare Gedanken, Gefühle, Eindrücke, Phantasien und Wahrnehmungen. Die Verdauungs-Arbeit der Mutter, die unerträgliche Beta-Elemente in erträgliche Alpha-Elemente umzuwandelt, nannte Wilfred Bion die „Alpha-Funktion“ der Mutter.
Ein „Alpha-Element“ ist ein reiferes „Stück“ oder „Element“ in der Psyche. Wir können zum Beispiel als Erwachsene sagen: „Ich habe Prüfungsangst, aber ich habe gelernt, damit umzugehen.“ Oder wir können einen Traum erzählen. Bei Liebeskummer übernimmt die beste Freundin die „Alpha-Funktion“. Bei einer Angststörung hilft der Psychotherapeut, die „gefährlichen Beta-Elemente“ in erträglichere Alpha-Elemente umzuwandeln.
Zusammengefasst: Der Psychoanalytiker Wilfred Ruprecht Bion (1897-1979) nannte noch unverarbeitete Teile in der Psyche „Beta-Elemente“ und reifere Stücke „Alpha-Elemente“. Wenn wir mit unseren Sinnen etwas wahrnehmen – seien es Eindrücke aus unserem Körperinneren oder Reize von außen – entsteht erst einmal so etwas wie ein unreifes Gefühl. Da ist was, aber wir können es noch nicht klar denken. Dieses Gefühl von „Irgendwie-Etwas“ könnte man als Beta-Element bezeichnen. Besonders Säuglinge sind wahrscheinlich häufig überwältigt von „Beta-Elementen“, also nicht handhabbaren Eindrücken und Gefühlen. Die Mutter verwandelt die unerträglichen Beta-Elemente in erträgliche psychische Häppchen (Alpha-Elemente). Indem sie das Baby stillt, macht sie aus dem „Hungermonster“ einen kleineren Hunger, bis das Baby schließlich satt ist. Wenn die Mutter ihr Kind tröstet, dann macht sie den Riesen-Kummer kleiner und erträglicher. Sie findet die Worte, die ihr Kind noch nicht finden kann. Nachdem das Kind den Kummer zusammen mit der Mutter verarbeitet hat, kann es das Erlebte malen, darüber nachdenken und darüber sprechen. Es sind Alpha-Elemente entstanden.
Das sagen Bion und Kollegen über die Beta-Elemente:
- „Beta-Elemente. Dieser Ausdruck repräsentiert die früheste Matrix, aus der vermutlich Gedanken entstehen.“ Bion: Elemente der Psychoanalyse, Suhrkamp 1992, S. 52
- Beta-Elemente sind „unverdaute Fakten“. Bion 1962: Learning from Experience. Karnac Books, 1984
- „Beta-Elemente bilden das Material für konkretes Denken.“
Helen Schoenhals: Bions Raster leicht gemacht. In: PsA-INfo Nr. 48, 1997: S. 30 - „Beta-elements are somatic and inchoate emotional sense impressions.“ = „Beta-Elemente sind somatische und rudimentär emotionale Sinneseindrücke.“ James S. Grotstein: A Beam of Initense Darkness, Karnac, 2007: S. 68
- „Beta-Elemente sind nach Bion ’sensorische Reize‘ (‚Sense Data‘). Alpha-Elemente sind psychisch verfügbare Elemente, die ‚Sinn machen‘.“ A Theory of Thinking, Second Thoughts, 1967, pp. 100-120 und: The Dictionary of the Work of W.R. Bion von Rafael E. Lopez Corvo, Karnac Books 2005: S. 262
- Der Psychoanalytiker James Grotstein (einst Analysand von Bion) sagt, dass die Beta-Elemente, die nicht in einen Denkapparat gelangen können, als untransformierte Beta-Elemente „irgendwohin“ projiziert werden (Anmerkung: z.B. ins Innere/Unbewusste oder nach außen). Grotstein nennt diese Beta-Elemente dann „geschwächte/verminderte („degraded“) Alpha-Elemente“. Grotstein: A Beam of Intense Darkness, Karnac 2007: S. 67
Der britische Psychoanalytiker Wilfred Ruprecht Bion (1897-1979) ist bekannt dafür, dass er einzelne seelische Vorgänge und Vorgänge in der Psychoanalyse auf kurze Formeln gebracht hat. Neben den Alpha- und Beta-Elementen gab es für Bion noch weitere Elemente, die er so beschrieb:
- Das Element „Container-Contained“, beschrieb Bion mit den Symbolen für „männlich“ und „weiblich“. Es gibt psychische Anteile, die zu halten sind (z.B. unaussprechliche Angst) und einen Raum in der Psyche, der diese Anteile hält, also einen „Container“. So ist z.B. die Mutter der „Container“ für die Angst des Kindes. Die Angst des Kindes ist das, was von der Mutter gehalten = „contained“ wird. Während die Mutter die Angst des Kindes hält, „verdaut“ sie sie mithilfe ihrer „Alpha-Funktion“. Sie versteht die Angst des Kindes und beruhigt es. Später kann das Kind selbst seine Gefühle halten: Es kann sich selbst gut zureden, es kann warten und sich selbst beruhigen.
Das Kind hat das Container-Contained-System, das vorher zwischen ihm und seiner Mutter stattfand, introjiziert, also in sich selbst eingebaut. Es hat dann einen eigenen, inneren Container. Selbstgespräche und Selbstberuhigung zeigen sozusagen, dass wir selbst so ein Container-Contained-System in uns haben.
- Das System „P-S-D“ ist ein weiteres Element nach Bion. Die Buchstaben stehen für „paranoid-schizoide Position“ und „depressive Position“. Mit P-S und D werden zwei psychische Zustände bezeichnet: Einmal erleben wir uns als fast ungetrennt vom anderen. Wenn wir z.B. sehr wütend sind, dann könnten wir auf den anderen einschlagen. Wir halten ihn schuldig für unser Befinden. Selbst wenn der andere nicht da ist, müssen wir in unserer Wut ständig an ihn denken. Dadurch fühlen wir uns von ihm quasi verfolgt. Aber wir sind uns auch nicht sicher, wer von uns beiden eigentlich „angefangen“ hat. Solche Gefühle von Ungetrenntheit können auch auftreten, wenn wir uns zum Beispiel in Liebe vollkommen mit dem anderen verschmolzen fühlen.
Daneben gibt es die „depressive Position“, in der wir mehr Abstand vom anderen haben. Das (Selbst-)Gespräch könnte so aussehen: „Es tut mir wirklich leid, ich wollte ihm/ihr/dir nicht weh tun.“ In der depressiven Position erleben wir uns als getrennter voneinander, als erleichtert vom anderen abgefallen.
Schuldgefühle, Reue oder zärtliche Gefühle können Zeichen der „depressiven Position“ sein. Wir fühlen uns getrennt vom anderen, werden dadurch traurig, demütig, etwas realistischer, aber auch beweglicher. Wir können dann wieder unbeschwerter mit dem anderen zusammen leben. Wir sehen ihn und uns selbst klarer. Die beiden Positionen können aufeinander folgen oder aber auch nebeneinander bestehen. So kann ich nach „verschmolzener Wut“ ein paar Tage später wieder klarer sehen und mich mit dem anderen versöhnen (aus der paranoid-schizoiden Depression wurde die depressive Position). Ich kann aber auch beides fühlen: Verschmolzenheit und Getrenntheit: dann bestehen die Positionen P-S und D nebeneinander.
- Weitere Elemente der Psychoanalyse nach Bion sind: „L“ = „Liebe“, „H“ = „Hass“ und „K“ = „Knowledge“, womit so etwas wie eine „Wiss-Gier“, eine Neugier gemeint ist. Bei vielen psychischen Problemen geht die Neugier manchmal bis auf fast Null zurück. Daneben gibt es „R“ = „Reason“ (Verstand) und „I“ = „Idea“ (repräsentiert die Gedanken). Mit R und I können die Leidenschaften von L, H und K gezähmt werden.
In einer psychoanalytischen Sitzung lassen sich auch weitere Elemente genau beobachten:
- Sense = die Sinneswahrnehmung, Aufmerksamkeit und Wahrnehmung
- Myth = der „Mythos“, der in der Geschichte des Patienten enthalten ist, also die unbewusste Phantasie, die dahinter steckt, oder die Sage/die Bibelgeschichte, die wie eine Schablone über die Lebensgeschichte gelegt werden kann. Aus psychoanalytischer Sicht spiegeln die Sagen, die Bibel, die Märchen und andere alte Texte die unbewussten Phantasien wider.
- Passion = Leidenschaft. Hier durchleidet der Analytiker in gewisser Weise das, was der Patient durchleidet. Die „Wahrheit“, das „Unfassbare“ wird von dem Patienten und dem Analytiker gespürt und muss noch in etwas Begreifliches umgewandelt werden.
- Das „Unfassbare“ bezeichnete Bion mit „O“. Zuerst ist „O“ unpersönlich, es ist vage spürbar, dann wird es in der Psychoanalyse in eine persönliche Wahrheit, in ein „personal O“ verwandelt (transformiert). Sehr einfaches Beispiel: Das kleine Kind spürt, wie sein Darm reagiert – es bekommt Bauchweh. Irgendwas Unbestimmtes liegt in der Luft. Wenn die Mutter den Erzählungen des Kindes folgt, wenn sie sich einfühlen kann, wird sie erkennen: Das Bauchweh kommt von dem Druck, der dadurch ausgelöst wird, dass das Kind am Wochenende zur Oma gehen soll. Das Kind hat Trennungsangst. Aus dem unbestimmten Bauchweh wird etwas Konkretes, das sich verstehen lässt. Auch „O“ ist ein Element der Psychoanalyse.
Später formulierte Bion noch spezielle Techniken der Psychoanalyse, die ebenfalls als „Elemente der Psychoanalyse“ bezeichnet werden. Dazu gehören: Das bewusste Weglassen von „Memory, Desire and Underständig“: Damit ist gemeint, dass der Analytiker jede Stunde wie ganz neu erleben will. Erinnerungen an bereits Gesagtes oder Erwartungen an den Patienten sollen weitgehend ausgeschaltet sein. Das ermöglicht es dem Analytiker, einen träumerischen Zustand (Reverie) einzunehmen, dem Patienten so entspannt zu lauschen und mit ihm in Resonanz zu gehen.
Quelle: James Grotstein: A Beam of Intense Darkness – Wilfred Bion’s Legacy to Psychoanalysis. Karnac-Books 2007: „Psychoanalytic elements“, S. 237
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Links:
Bion, Wilfred Ruprecht (1967):
A theory of thinking.
In: Second thoughts: Selected Papers on Psycho-Analysis.
International Journal of Psychoanalysis 1970, 51: 563.
„… thinking is a development forced on the psyche by the pressure of thoughts and not the other way round.“ „… thinking is called into existence to cope with thoughts.“
https://www.routledge.com/Second-Thoughts-…
Dieser Beitrag erschien erstmals am 12.12.2012
Aktuallisiert am 5.6.2025
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2 thoughts on “Psychoanalytische Elemente nach Bion: alpha, beta, Love, Hate und Knowing”
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Das freut mich, liebe Ulrike Bittner – vielen Dank für die Rückmeldung.
Vielen Dank für diese wertvolle Zusammenfassung.