Schichtwechsel: Warum es so schwierig ist, sozial aufzusteigen

Oft ist es nichts weiter als eine Kette von Zufällen und Fügungen: Die Grundschullehrerin ermuntert das Kind, Klavier zu lernen, sie empfiehlt das Gymnasium. Der Mathelehrer kommt rein, glaubt an das Kind und wird zum Vorbild. Das Kind lernt eine neue Welt kennen: die Welt der Bildung. Es geht ruhiger zu, es gibt mehr Worte und weniger Geschrei, es gibt die Möglichkeit zu sprechen, zu kommunizieren, die Kreativität zu entdecken. Und plötzlich hat man das Abitur geschafft und denkt über ein Studium nach.

Wenn man „von unten“ kommt, besteht oft eine große Scham, den inneren Wunsch nach Bildung offenzulegen und sich zu bilden. In dem Film „Am Pass“ erzählt der Zwei-Sterne-Koch Silio del Fabro etwas schüchtern, fast schuldbewusst: „… da hab ich zu Hause so oft gelernt, dass ich einfach allein schon theoretisch so viel stärker und ich sag mal, gebildeter, belesener war, als er [der andere], dass er es halt mit seinem Kochen sehr, sehr schwer hatte, an mir vorbeizukommen.“ Silio del Fabro im Film „Am Pass“, Saarländischer Rundfunk 2022, ARDmediathek, verfügbar bis 21.12.22

Früh spürt das Kind aus der sogenannten bildungsfernen Schicht: Das ist kein leichter Weg. Es braucht irgendwie mehr Kraft als die anderen und mehr Zeit. Es sieht, dass andere gesünder aussehen. Die Eltern fangen an, das Kind als „arrogant“ zu bezeichnen. Es ist das erste Kind in der Familie mit Abitur. Es beginnt ein Studium – und dafür muss es einen Tribut zahlen. Psychische und körperliche Beschwerden melden sich: Ängste, Herzrasen oder Essstörungen. Es hat viele Zweifel: „Kann ich es schaffen?“

„Manche lesen Heidegger, um damit anzugeben. Ich lese es, um zu überleben“, sagt eine Frau, die als Erste aus der Familie studiert hat und schon als Kleinkind massive körperliche Gewalt erfuhr.

Die Eltern vor Augen

Das Kind hat die Eltern vor Augen, die alte Familie. Dort durfte und konnte vielleicht kaum etwas erblühen. Dort ging es anders zu. Es wurde konkret gesprochen, selten abstrakt und wenig differenziert. „Dem Kinderschänder gehören die Eier ab!“ Einfache Sätze wie diese fielen oft. Die Eltern hatten wenig Geld. Das Kind hatte das Bild: „Mir wird es genauso ergehen.“ Die Eltern griffen vielleicht schnell zum Alkohol und fühlten sich hilflos.

Das erste Kind, das studiert, ist aus der Familie herausgetreten. Aber es ist noch nicht in der Neuen Welt angekommen. Es ist in einem merkwürdigen Zwischenraum. Es hält sich an Menschen fest, die sehen, was es kann und will. Was, wenn die Neue Welt es schließlich nicht aufnehmen mag?

Herausgekommen

Das Kind schafft tatsächlich das Studium, findet tatsächlich eine Stelle. Es traut sich, zu promovieren – und schafft es im dritten Anlauf. Der Bruch zur alten Familie ist vielleicht unmerklich, vielleicht heftig gekommen. Das Kind schaut nach vorne. „Bloß nicht nach hinten schauen“, denkt es sich, um es zu schaffen. Wie in einem Märchen schaut es nach vorne. Es hat sich tatsächlich mithilfe von guten Menschen nach oben gearbeitet. Es freut sich, aber es kann seine Freude so schlecht teilen. Es fühlt sich verlassen.

„Wer Beziehungen hat, ist im Vorteil, aber wir haben keine Beziehungen“, sagt eine Frau aus der „unteren Schicht“. Sie ist resigniert. Doch man kann immer suchen und selbst beginnen, Beziehungen aufzubauen. Es dauert nur wahnsinnig lange.

„Wissen Sie, wenn man so aufgewachsen ist wie ich, dann hat man einfach sehr schlechte Zähne.“
Ein junger Mann auf dem Weg nach draußen.

Wie eine neue Kultur

Die soziale Schicht zu wechseln kann sich anfühlen wie in ein fremdes Land zu gehen, wie eine neue Sprache zu erlernen, ähnlich wie bei „Pretty Woman“ oder „My Fair Lady“. Man muss sich anpassen, muss die Regeln der Neuen Welt mühselig kennenlernen. Es wird mehr Abstand gehalten. Es werden andere Worte benutzt. Es geht verbindlicher zu – bei gleichzeitig reservierterer Willkommenskultur. Es wird seltener geschrien, es ist ruhiger.

Man fühlt sich vielleicht wie jemand, der zu spät begonnen hat, ein Musikinstrument zu erlernen, um es studieren zu können. Das Kleinhirn hat die Automatismen nicht aufgenommen. Es ist angelernt, das Sich-Bewegen in der neuen Schicht. Die anderen merken das. Und der Kampf währt fort.

„Nur Leute mit sogenannter Aufstiegsscham können also den Raum vermessen, der in den Kampfbegriffen wie Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit liegt …“ Ulrike Guérot in der FAZ, 17.3.2015

Sich Zeit nehmen

Der Schichtwechsel nach oben kostet Kraft. Irgendwann kann man etwas entspannen und merkt, dass man sicherer wird in der Neuen Welt. Es kommt die Phase, in der man die neue und die alte Welt miteinander verbinden kann. Aber man braucht Geduld, kämpft häufig mit Neid und Beneidet-Werden, mit Ausgeschlossensein und Resignation. Irgendwann ist man vielleicht angekommen und kann die Talente nutzen, die auf dem Weg gefördert wurden. Man hat gelernt, durchzuhalten, den Willen zu nähren, die Hoffnung zu bewahren, der Intuition zu vertrauen, gute von schlechten Menschen zu unterscheiden, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Man ist sozusagen „zweisprachig“ aufgewachsen und kann verschiedene Kulturen verstehen. Manche Menschen merken das. Und würdigen es.

Verwandte Beiträge in diesem Blog:

Links:

Professor Aladein El-Mafaalani:
Womit Bildungsaufsteiger zu kämpfen haben.
https://youtu.be/XRBK1IK6P44
Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, 6.1.2014
Mit Dank an Dr. Wolfgang Gründinger, auf dessen Blog ich dieses Video gefunden habe.

www.arbeiterkind.de

Susan T. Fiske, Hazel Rose Markus (Editors) (2012):
Facing Social Class: How Societal Rank Influences Interaction.
Russell Sage Foundation, New York
https://www.jstor.org/stable/10.7758/9781610447812

Bjornsdottir, R. Thora and Rule, Nicholas O. (2017):
The visibility of social class from facial cues.
Journal of Personality and Social Psychology, 113(4), 530–546.
https://doi.org/10.1037/pspa0000091
https://psycnet.apa.org/record/2017-23581-001

Wolfgang Gründinger:
Die Marshmallow-Lüge: Warum harte Arbeit nicht reich macht – und was wirklich zählt.
2. September 2020
www.wolfgang-gruendinger.de/post/marshmallow-prinzip

Julia Reuter et al. (Hrsg.) (2020):
Vom Arbeiterkind zur Professur
transcript Verlag
„Erstmals äußern sich in diesem Buch Professor*innen unterschiedlicher Fächer zu ihrem ‚Klassenübergang‘ und zur Verknüpfung von sozialer Herkunft und Wissenschaft. Gerahmt werden die persönlichen Schilderungen durch ausgewählte Beiträge aus der Ungleichheitsforschung, u.a. von Christoph Butterwegge, Michael Hartmann und Andrea Lange-Vester.“

Mirijam Günter:
„Und ich sehe ihre Wut“
9.7.2016, DIE ZEIT Nr. 27/2016, 23. Juni 2016
www.zeit.de/2016/27/ausgrenzung-bildung-klassengesellschaft-anerkennung

Marco Maurer:
Ich Arbeiterkind
24. Januar 2013, DIE ZEIT Nr. 5/2013
www.zeit.de/2013/05/Arbeiterkind-Schulsystem-Aufstieg

Die richtige Herkunft zählt
Bourdieus Erben
https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/449669912?context=projekt&task=showDetail&id=449669912&

Pierre Bourdieu (befreundet mit Didier Eribon):
Die feinen Unterschiede
Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft
Suhrkamp, 1987

Eribon, Didier (befreundet mit Pierre Bourdieu):
Rückkehr nach Reims
Suhrkamp-Verlag, 2016

Annie Ernaux:
Der Platz
Suhrkamp, 2019/2022

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am: 17.7.2016
Aktualisiert am 7.1.2024

5 thoughts on “Schichtwechsel: Warum es so schwierig ist, sozial aufzusteigen

  1. Dunja Voos sagt:

    Ganz herzlichen Dank für diesen berührenden Kommentar, liebe Jana Blum.

  2. NinaHuba sagt:

    Man kann sich immer Probleme machen, wo keine sind. Im eigenen Saft zu schmoren ist nie eine gute Idee. Es gilt, die wahren Ursachen zu erforschen. Möglicherweise spiegeln andere nur die eigene Aggression, die man anderen gegenüber zum Ausdruck bringt, vor allem der eigenen Herkunftsfamilie gegenüber. Von ihnen hängt es letztlich ab, ob und wie man durchs Leben geht. Arsch hoch, Nase wieder etwas runter, dann wird es schon.

  3. Jana Blum sagt:

    Danke für diese gute Zusammenfassung, die genau beschreibt wie ich mich (als „Aufsteiger“) in meiner Familie fühle. Ich habe lange nach Worten gesucht die die Struktur und das Miteinander (oder mittlerweile eher ein „gegen mich“) beschreiben. Ich dachte immer ich sei mit meinem Wunsch „mehr vom Leben“ zu wollen eine Art „Sonderling“. Jemand, der seine Wurzeln nicht schätzt und als „eingebildete Tussi“ denkt sie sei etwas besseres. Vom kleinen Kuh-Dorf in die Großstadt. Abitur, Studium, Karriere im Großkonzern. Tatsächlich steckte immer ein großer Wunsch in mir ein (finanziell) sorgenfreies Leben zu führen und mir nun im Erwachsenenalter die Dinge zu geben, (materiell und immateriell) die ich als Kind so schmerzlich vermisst habe. Ich liebe meine Familie natürlich, aber muß seit einigen Jahren mit ansehen, dass wir immer mehr auseinander driften, je mehr ich bei mir selbst ankomme und das Leben lebe, von dem ich als Kind schon geträumt habe. Es ist ein sehr einsamer und schmerzhafter Prozess. Aber ich bin auch stolz auf meinen Weg, den ich mir aus eigener Kraft geschaffen habe. Ohne familiäre Hilfe. Der Artikel stimmt mich nachdenklich, aber er befreit auch, weil ich nun endlich etwas „greifbares“ habe. Danke!

  4. Dunja Voos sagt:

    Liebe leighanne,
    das freut mich sehr! Vielen Dank für Ihre hilfreiche Rückmeldung.
    Ihnen alles Gute auf Ihrem Weg.

  5. leighanne sagt:

    Dieser Artikel ist wie für mich geschrieben – genau das habe ich erlebt! Nur hat es noch keiner so deutlich auf den Punkt gebracht.

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