Wie werde ich Psychoanalytiker*in? Sexuelle Erregung in der Psychoanalyse
Schon bei dem Gedanken an die psychoanalytische Couch kann sich subtil sexuelle Erregung bemerkbar machen. Doch über die Erregung in der Analyse ist nicht viel zu lesen. Das stellte schon der Psychoanalytiker André Green (1927-2012) fest. Er fragt: „Has sexuality anything to do with psychoanalysis?“ und sagt: „The reading of psychoanalytic journals or reviews during the last ten years shows a lack of interest in sexuality“ (André Green: Sigmund Freud’s Birthday Lecture, Presented at the Anna Freud Centre, 27 April 1995).
So wie jede andere Empfindung kann auch sexuelle Erregung mitten in der Psychoanalyse auftauchen – sowohl beim Analytiker als auch beim Analysenden. Gemischt mit Scham kann dies zu Gefühlen der Lähmung führen, über die schwer gesprochen werden kann.
Hinter vielen unverständlichen Situationen in der Psychoanalyse kann sexuelle Erregung stecken. Beispielsweise können Patienten wie versteinert oder aggressiv auf zärtlich klingende Äußerungen des Analytikers reagieren, weil sie spüren, dass der zärtliche Tonfall Erregung in ihnen auslöst. Dann fällt es ihnen möglicherweise leichter, einen Streit vom Zaun zu brechen, als zu sagen, dass sie sexuelle Erregung empfinden. Es kann auch plötzlich und auf den ersten Blick unverständlicherweise Übelkeit entstehen.
Zorn und psychischer Schmerz können mit sexueller Erregung gemischt sein. Das Wort „Orgasmus“ leitet sich vom griechischen „Orge“ ab, was so viel heißt wie „Stimmung“, insbesondere „Zorn“.
Die Erregung ist dem Patienten (und bei zu wenig Selbsterfahrung auch dem Therapeuten) oft nicht bewusst oder er kann sie nicht zur Sprache bringen. Sobald die Erregung bewusst wird, kann sie als (Gegen-)Übertragungsgefühl genauso zur Diagnostik und Selbstreflexion genutzt werden wie andere Gefühle es auch können.
Wo und bei wem sitzt die Erregung?
„Wissen Sie, was das Schlimmste ist? Ich spüre meinen Körper nicht mehr“, erzählt ein Patient, während die Analytikerin heftige Erregung verspürt. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass die Analytikerin genau das spürt, was der Patient nicht spüren kann. Manchmal sind die verschiedensten körperlichen Symptome wie Schwindel, Übelkeit oder Harndrang auch so zu verstehen, dass sexuelle Erregung verdrängt wird. Eine Patientin drückte es einmal so aus: „Es fühlt sich an, als verdrängte ich meine sexuelle Erregung körperlich nach vorne und bekomme dann Harndrang oder nach hinten und bekomme dann Durchfall.“
Der Psychotherapeut Irvin D. Yalom beschreibt, wie selbstverständlich auch Therapeuten erregt sein können: „Breuer wand sich, als er daran dachte, wie sein Glied sich jedesmal aufgerichtet hatte, sobald Bertha in Trance fiel.“ Irvin D. Yalom: Und Nietzsche weinte, btb-Verlag, 7. Auflage, S. 110
Ein schwieriges Thema
Das Nachdenken und Sprechen über die eigene sexuelle Erregung ist ein schwieriges Thema. In einem Internetforum las ich, wie ein jugendliches Mädchen ihren Physiotherapeuten anzeigen wollte, weil er „energetisch übergriffig“ gewesen sei. Zwar habe er sie nicht unsittlich berührt, aber sie habe sich plötzlich so erregt gefühlt, dass sie sich sicher gewesen sei, er hätte sein Wissen und seine Technik dazu benutzt, um einen energetischen sexuellen Übergriff zu vollführen.
Wie auch immer die Geschichte wirklich war und was auch immer unter einem „energetischen sexuellen Übergriff“ zu verstehen ist – es zeigt, dass es auch jungen Frauen schwerfällt, sexuelle Erregung einzuordnen und sie ohne allzu große Schuldgefühle bei sich selbst zu lokalisieren.
Buchtipp: Sexueller Missbrauch in der Psychotherapie
„Ist es normal, dass mein Psychotherapeut mit mir ins Kino gehen möchte? Dass er mir Geschenke macht?“, werde ich manchmal gefragt. Nein, das ist nicht normal. Die Düsseldorfer Psychologin Dr. phil. Marga Löwer-Hirsch zeigt in ihrem Buch „Sexueller Missbrauch in der Psychotherapie“, dass so manche Fallgeschichte so oder ähnlich beginnt. Der Missbrauch in der Psychotherapie entspreche in vielerlei Hinsicht dem Inzest in der Familie, da die Patientinnen sich vom Therapeuten zeitweise so emotional abhängig fühlen wie ein Kind von den Eltern, so die Autorin.
Der Psychotherapeut kommt der Patientin näher und die Patientin hat das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt. Aber bald schon entsteht etwas, das Marga Löwer-Hirsch als „Doppeldenk“ bezeichnet: Auf einer Ebene spüren die Patienten, dass da etwas „nicht normal“ ist, auf der anderen Ebene reden sie sich mit scheinbar vernünftigen Argumenten gut zu. Insbesondere, wenn die Patientin von sexuellen Problemen oder Beziehungsschwierigkeiten berichtet, kann sie innerlich argumentieren, dass die (übergriffige) Beziehung zum Therapeuten sie heilen könnte nach dem Motto: „Wenn mir die Sexualität mit ihm gelingt, dann gelingt sie mir auch generell.“
Beim sexuellen Missbrauch in der Psychotherapie kommt es zur Rollenumkehr: Der Therapeut braucht die Patientin. Viele Patientinnen können erst Jahre danach darüber sprechen.
Fallgeschichten
Marga Löwer-Hirsch erzählt die Fallgeschichten von 11 Patientinnen, die sexuelle Übergriffe in der Psychotherapie erlebt haben. Auch ein Psychotherapeut, der Patientinnen sexuell missbraucht hat, kommt zu Wort. Die Betroffenen sind extrem verwirrt und werden teilweise suizidal. Viele Patientinnen haben zunächst das Gefühl: „Ich bin etwas ganz Besonderes.“ Selbst, wenn es Hinweise darauf gibt, dass der Psychotherapeut auch mit anderen Frauen bzw. Patientinnen sexuelle Beziehungen hat, versuchen viele Patientinnen, dies auszublenden.
„Sie war allerdings nach wie vor ’süchtig nach Körperkontakt‘ mit ihm und hoffte auf eine spätere reale Beziehung. Heute nimmt sie es ihm übel, dass er nicht klar gesagt hat: ‚Du bist meine Patientin, Du bist die Sigrid, ich mag Dich gern, Du bist eine attraktive Frau, all das hat er mir gesagt. Aber ich liebe Dich nicht.‘ Damals hat er gesagt, er liebe Sigrid und obwohl sie wusste, dass sie nicht die Einzige war, hatte sie geglaubt, dass die Beziehung zu ihr etwas Besonderes sei.“ (S. 66)
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Links:
Andé Green (2000):
The Chains of Eros: The Sexual in Psychoanalysis
Routledge.com
Die dänische Körperpsychotherapeutin Merete Holm Brantbjerg geht beim Thema „Sexuelle Erregung in der Therapie“ ganz praktisch mit verschiedenen Körperübungen vor:
When the therapist is aroused – Sexual feelings in the therapy room
International Body Psychotherapy Journal, April 2012 (PDF)
Ursula Wirtz:
Der Verrat am Eros
Sexueller Missbrauch in der Psychotherapie
docplayer.org
Marga Löwer-Hirsch:
Sexueller Missbrauch in der Psychotherapie
Fallgeschichten und Psychodynamik
Psychosozial-Verlag, Gießen 2017
Wer Näheres zum Thema „Sexueller Missbrauch“ speziell in der Psychoanalyse wissen möchte, dem sei die Psychoanalytikerin, Psychologin, Juristin und Autorin Dr. Giuletta Tibone empfohlen, z.B. in dem Buch „Grenzen“ (Psychosozial-Verlag und:
Giulietta Tibone:
Worüber klagen Patienten? Ein Erfahrungsbericht
Vortrag beim Symposion „Ethik und Psychotherapie“ am 16. Mai 2006 in München
www.bvvp.de/bvvpbay/tibone
Dr. jur. Dipl.-Psych. Giulietta Tibone, München
Behandlungstechnische Aspekte, die das hilfreiche Potenzial einer Psychoanalyse
beeinträchtigen – aus der Erfahrung der Vertrauensleute mit Patientenbeschwerden
PDF
David Mann (Autor), Elisabeth Vorspohl (Übersetzerin):
Psychoterapy – An Erotic Relationship
Transference and Countertransference Passions
Routledge, New York, 1997
Link zu amazon
Psychotherapie – eine erotische Beziehung
Link zu amazon (deutschsprachig)
Bundesfamilienministerium:
Sexuelle Übergriffe in Psychotherapie, Psychiatrie und psychologischer Beratung.
PDF von psychotraumatologie.de
Eichenberg, Christiane et al. (2016):
Sexualität als Thema in der Psychotherapie: Offen die Bedürfnisse reflektieren
Deutsches Ärzteblatt, PP 15, Ausgabe September 2016, Seite 418
www.aerzteblatt.de/archiv/181942/Sexualitaet-als-Thema-in-der-Psychotherapie-Offen-die-Beduerfnisse-reflektieren
Angelika Eck:
Sexuelle Fantasien in der Therapie
Vandenhoeck & Ruprecht, 2020
Dieser Beitrag erschien erstmals am 21.5.2014
Aktualisiert am 24.7.2022
4 thoughts on “Wie werde ich Psychoanalytiker*in? Sexuelle Erregung in der Psychoanalyse”
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.
Gerne :-)
Danke!
Hallo Fips,
ja, die Schweigepflicht muss gewahrt werden. „Triangulierung“ kann z.B. bedeuten, dass ein angehender Psychoanalytiker seinen „Fall“ mit seinem Supervisor bespricht. Da geht es dann z.B. um eine „27-jährige Patientin, die in Frankreich aufgewachsen ist und nun unter Angststörungen leidet.“ Der Name wird dabei nicht genannt. Ähnlich ist es, wenn eine Patientengeschichte zum Gutachter geschickt wird – auch der Gutachter erfährt den Namen nicht.
Damit Kliniken und Kollegen sich konkret über einen Patienten austauschen können, muss der Patient unterschreiben, dass er mit der Nennung seines Namens einverstanden ist.
Wie wird diese „Triangel“ in Einklang gebracht mit der Schweigepflicht? Ist es anonym, wie gesagt wird?