Psychosen verstehen, Psychopharmaka absetzen – wer kennt sich aus? (Psychose-Serie 7)

Wer in der Psychiatrie die Medikamenteneinnahme verweigert, hat oft einen schweren Stand. Ärzte und Therapeuten werfen den Patienten mitunter vor, sie könnten nicht vertrauen, sie hätten keine Krankheitseinsicht, sie würden sich trotzig wie ein Kind benehmen und vieles mehr. Zum Glück gibt es Psychotherapeuten wie den New Yorker Psychiater Peter Breggin (geboren 1936) – er setzte sich sein Leben lang dafür ein, Psychosen zu verstehen und keine Psychopharmaka zu verordnen. Je stärker die Antipsychotika die Psychiatrie eroberten, desto weniger Raum blieb für psychologische Erklärungsmodelle und Psychotherapie.

Dies wird besonders deutlich, wenn man die Beiträge des Psychoanalytikers Harold Frederic Searles (1918-2015) (IPA) liest. Searles arbeitete in der Privatklinik Chestnut Lodge in Maryland, USA, und verstand Menschen mit Psychosen zutiefst. Er konnte ihre Psychosen in sinnvolle Zusammenhänge übersetzen. Er verstand es, durch die genaue Analyse seiner Gegenübertragungsreaktionen den Patienten zu verstehen.

Harold Searles zeigt praktisch, was Bion in seinen Theorien meint. Der Psychoanalytiker Thomas Ogden (IPA) schreibt in seinem Beitrag „Reading Harold Searles“:
„Searles’s work provides clinical shape and vitality for Bion’s often abstract theoretical constructions, such as the concept of the container-contained, the human need for truth, and the relationship of conscious and unconscious experience.“
(The International journal of psycho-analysis (2007), Volume: 88, Issue: Pt 2, Pages: 353-369)

Harold Searles (1918-2015) macht neugierig

Harold Searles weckte in mir das Interesse an Psychosen. („Der psychoanalytische Beitrag zur Schizophrenieforschung“). Meine Erfahrungen als Ärztin in psychiatrischen Kliniken waren mehr als enttäuschend, denn nahezu alle psychotischen Patienten wurden direkt mit Medikamenten behandelt. So erhielt ich erst in meiner eigenen Praxis die Chance, mit Menschen mit der Diagnose „Psychose“ in Ruhe zu sprechen. Ich bin oft erstaunt, wie genau psychotische Menschen beobachten und wieviel Wahres sie erzählen, häufig in verschlüsselter Form. Das Psychotische ist dem Traum sehr nahe. Ich war anfangs sogar darüber erstaunt, dass die Betroffenen meine Deutungen verstehen und dass sie auf viele Deutungen ebenso erleichtert reagieren wie Patienten, die nicht die Diagnose „Psychose“ erhalten haben. Dass ich überhaupt erstaunt war, zeigt mir, was für ein enges Bild mir die ärztliche Ausbildung über Psychosen vermittelt hat.

Daniel Dorman versteht sogenannte Psychosen

Der Psychoanalytiker Daniel Dorman (Los Angeles Psychoanalytic Institute, Mad in Armerica) beschreibt psychotische Symptome in seinem Youtube-Video „Psychosis as a Fact of the Human Condition“. Er therapierte die ehemals schizophrene Patientin Catherine Penney ohne Medikamente.

Diese psychoanalytische Therapie dauerte acht Jahre lang. Daniel Dorman sah seine Patientin 5- bis 6-mal pro Woche für je 50 Minuten, wobei die meisten Sitzungen zunächst schweigend verliefen. Die Medikamente wurden gleich zu Beginn der psychoanalytischen Behandlung abgesetzt. Dieses Beispiel zeigt, wie intensiv eine psychoanalytische Behandlung eines psychotischen Menschen zuweilen sein muss, bis sie nachhaltig Früchte trägt. Es ist die Zeit, die ein Kind normalerweise bei gesunden Eltern mindestens braucht, um sich gesund zu entwickeln.

Daniel Dorman war in der psychiatrischen Klinik ein Einzelkämpfer. Er hatte kaum Unterstützer. Sein Buch „Dante’s Cure“ wurde von 53 Verlagen abgelehnt, ehe es endlich gedruckt wurde. Es erschien 2003 im Verlag Barnes&Noble. Der Youtube-Film „Take these broken wings“ (von Daniel Mackler) erzählt unter anderem die Geschichte dieser psychoanalytischen Behandlung.

Manchmal kann es ganz leicht sein

Peter Breggin beschreibt, wie leicht es sein kann, mit einem psychotischen Menschen zu sprechen. Er sagt den Patienten, dass er sie nicht einsperren wird und dass er ihnen keine Medikamente gegen ihren Willen geben wird. Sie dürfen alles sagen, was ihnen durch den Kopf geht. Und dann erzählen sie mitunter ganz frei. Die Psychoanalytikerin Danielle Knafo (From Breakdown to Breakthrough, Routledge 2024) gibt jedoch auch zu bedenken, dass Menschen mit Psychosen im Therapeuten oft ein Gefühl von „Allmacht“ auslösen können, sodass man das Gefühl hat, die Behandlung sei einfach – früher oder später kommen oft jedoch sehr schmerzliche Erfahrungen hinzu – in psychoanalytischen Therapien oft um den Zeitpunkt des Urlaubs des Analytikers (wie im Film „Take these broken wings“ gezeigt).

Dabei wird klar: Psychosen beziehen sich auf Beziehungen.

Die Betroffenen fühlen sich verfolgt, abgeschnitten oder/und isoliert. Sie haben das Gefühl, dass niemand auf dieser Welt sie verstehen könnte. Sie können niemandem mehr vertrauen und leiden manchmal unter dem Gefühl, kein „Ich“ oder „Selbst“ zu haben. Auch hier kann es mitunter günstiger sein, ohne Medikamente zu behandeln, denn auch die Antipsychotika können das Subjektivitätsgefühl, das Gefühl des „Selbst-Kerns“ beeinflussen.

Auf Youtube hat Peter Breggin seine Reihe „Simple Truths about Psychiatry“ veröffentlicht. In der 4. Folge mit dem Titel „How to Help Deeply Disturbed Persons“ beschreibt er, wie sehr Schizophrenien mit dem Familiensystem zusammenhängen. Beziehungen können schwer krank machen – aber Beziehungen können auch heilen. Wer eine hochfrequente Psychotherapie oder Psychoanalyse begonnen hat, möchte vielleicht seine Neuroleptika (Antipsychogika) absetzen. Doch wie geht das?

Absetzen von Psychopharmaka in Deutschland

In Deutschland setzt sich z.B. der Privatdozent Dr. med. Dr. phil. Jann Schlimme für das Absetzen von Psychopharmaka ein. Er ist Psychiater und Psychotherapeut in freier Praxis und leitete einst die „Sprechstunde für begleitetes Absetzen“ an der Psychiatrischen Institutsambulanz der Charité, Berlin. Heute gibt es dort auch eine Arbeitsgemeinschaft namens „Reconsidering Psychiatric Treatments„, also eine Arbeitsgruppe, die sich mit neuen Behandlungsmöglichkeiten in der Psychiatrie beschäftigt (z.B. Dr. med. Constantin Volkmannn)

Auch der Psychiater Professor Uwe Gonther, Chefarzt am AMEOS-Klinikum Bremen, widmet sich dem Thema „Absetzen von Medikamenten“: In einem Interview spricht er über das „Unglück auf Rezept“, das Teil der „psychiatrischen Realität“ sei (depression-heute.de). Außerdem ist Uwe Gonther im Podcast „Geht’s auch ohne?“ zu hören (AMEOS-Gruppe, 6.2.2023). Die Oberärztin Katrin Rautenberg hat am AMEOS-Klinikum zudem eine „Psychiatrisch begleitete Absetzgruppe“ ins Leben gerufen.

Um Medikamente gezielt abzusetzen, werden heute oft „Tapering-Strips“ verwendet (siehe: Psychiatrietogo.de). Tapering-Strips sind Ketten mit Tütchen, in denen jeweils die genaue Medikamentendosis pro Tag abgepackt ist. Über mehrere Wochen wird die Dosierung verringert, bis die Medikamentendosis bei Null liegt.

Zu den üblichen Absetzsymptomen gehören übrigens die Symptome „FINISH“ = Flu-like-Symptoms (grippeähnliche Symptome), Insomnia (Schlaflosigkeit), Nausea (Übelkeit), Imbalance (Gleichgewichtsstörungen), Sensory Disturbances (Nervenschmerzen, Kribbeln etc.), Hyperarousal (verstärkte Erregbarkeit, Ängstlichkeit). Diese Symptome bilden sich in der Regel nach einigen Wochen und Monaten zurück.

Der Sozialpädagoge Dr. phil. h.c. Peter Lehmann gründete 1986 den Antipsychiatrieverlag. 1998 veröffentlichte er sein Buch zum Thema „Erfolgreiches Absetzen von Psychopharmaka“. Außerdem engagiert er sich für die Stärkung des Selbstbestimmungsrechts und entwickelte eine Psychosoziale Patientenverfügung.

Schweiz: „Psychex“ hilft. In der Schweiz möchte die Vereinigung Psychex (www.psychex.ch) Patienten helfen, die gegen ihren Willen in der Psychiatrie eingeschlossen sind. Auf ihrer Website heißt es: „Wohl nirgendwo auf der ganzen Erde werden so viele Menschen eingesperrt wie in der Schweiz“. Die Vereinigung schreibt: „Ein Telefonanruf genügt und der Verein wird aktiv.“

Das Verstehen von „Stimmenhören“ liegt dem niederländischen Professor Marius Romme am Herzen. In seinem Beitrag „Recovering from voices by changing your relationship with them“ (PDF) schreibt er über die Ursachen und den Verlauf des Stimmenhörens. Er sagte einmal, dass man vielleicht ausgerechnet nicht in der Psychiatrie vom Stimmenhören geheilt werden könne, denn da gebe es nur Medikamente und Desinteresse – aber man könne sehr wohl in der Welt da draußen vom Stimmenhören geheilt werden (Quelle suche ich …).

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

AMEOS
Förderverein zur Unterstützung seelischer Gesundheit
www.ameos.eu

Martin Harrow et al. (2005):
Do Patients with Schizophrenia Ever Show Periods of Recovery?
A 15-Year Multi-Follow-up Study
Schizophr Bull (July 2005) 31 (3): 723-734
doi: 10.1093/schbul/sbi026

Harrow M, Jobe TH, Faull RN (2012):
Do all schizophrenia patients need antipsychotic treatment continuously throughout their lifetime?
A 20-year longitudinal study.
Psychol Med. 2012 Oct;42(10):2145-55
doi: 10.1017/S0033291712000220. Epub 2012 Feb 17

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 26.12.2016
Aktualisiert am 12.4.2024

4 thoughts on “Psychosen verstehen, Psychopharmaka absetzen – wer kennt sich aus? (Psychose-Serie 7)

  1. Melande sagt:

    Liebe Rita Orth-franke,

    VIELEN DANK für Ihre Reaktion
    und den Hinweis und link zu den Soteria-Einrichtungen!

    Ich bin freudig überrascht, dass es mittlerweile schon so viele Kliniken mit diesem Konzept IN DEUTSCHLAND gibt! Ich hatte davon schon in der Zeit nach meiner zweiten Psychose in den 1980-ger-Jahren gehört und auch damals schon gewußt, dass so eine Einrichtung für mich gut gewesen wäre.
    Heute habe ich eine Reihe Freund*innen, für die 40 Jahre lang und länger zur Rückfallprophylaxe Neuroleptika quasi das wichtigste sind (wie für ihre behandelnden Psychiater*innen auch).
    Vielleicht kann ich das Wissen um die Soterias mal weitergeben. Danke!

    Mit einem vor-adventlichen Gruß!

    Melande

  2. Rita Orth-franke sagt:

    Liebe Melande, danke für Ihre Offenheit.
    Ihr Kommentar hat mich sehr berührt!
    Liebe Grüße
    Rita

    Auch hier möchte ich auf den Link „Internationale Arbeitsgemeinschaft Soteria“ verweisen.
    In aller Kürze: Es werden dort sowenig wie möglich und soviel wie nötig an Psychopharmaka gegeben. Es wird auf die persönliche Beziehung zum Verständnis und Stabilisieren von Menschen mit psychotischen Erfahrungen gesetzt. Das Haus ist offen! D.h.: keine geschlossene Abteilung! Ich wünsche mir als Therapeutin, dass es mehr Soterias gibt!

  3. Melande sagt:

    Auf die Frage in der Überschrift dieses Beitrags: „Psychosen verstehen, Psychopharmaka absetzen. Wer kennt sich aus?“ würde ich gerne antworten: „Ich.“, zumindest, was meine beiden psychotischen Episoden im Alter von 19 und 25 Jahren (bin jetzt 67 J.) und meine Absetzerfahrungen anbelangt. Aber vielleicht habe ich auch einfach nur Glück gehabt; verallgemeinern würde ich meine Erfahrungen nie. Es gibt m. E. so viele Psychose-Erfahrungen, wie es Menschen gibt, die Psychose(n) erleben.

    Ich würde mich gerne mit Menschen austauschen, die wie ich eine oder mehrere Psychosen durchlitten haben, einige Zeit, vielleicht Jahre, mit Neuroleptika gelebt haben, sich dann von dieser „Krücke“ befreit haben und nie wieder darauf zurückgegriffen haben.

    Für mich war immer klar: Je mehr GESUNDES ich in mir aufbaue (durch Therapien, Erfolgserlebnisse, Änderungen/Wagnisse im leben, Lernen, sich um sich selbst zu kümmern, wie eine gute Mutter um ihr Kind, und, und….), umso weniger gerate ich in die Gefahr, wieder in eine Psychose zu „flüchten“. Mit 29 Jahren, 4 Jahre nach meiner 2. Psychose (1981) hatte ich die Gewissheit, dass ich nie wieder so eine „Krise“ durchmachen werde. Was sich auch bewahrheitet hat.

    Wer schreibt was hierzu?

    Liebe Grüße
    Melande

  4. tzranner sagt:

    Liebe Frau Voos, ich freue mich immer wieder über ihre Artikel und versuche bei meiner Tätigkeit als Psychiater in einer psychiatrischen Akutklinik mit möglichst wenigen Psychopharmaka auszukommmen, was durchaus möglich ist unter Intensivierung psychotherapeutischer Handlungsoptionen. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir auch den Hinweis auf die nachfolgende Veröffentlichung vom DGPPN in der Ärzte Zeitung vom 15.12.2016, der uns doch bestätigt!

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