Böse ist, was abwesend ist: Auch das Abwesende bestimmt unsere Identität

Kaum etwas beschäftigt uns mehr als die Abwesenheit von etwas oder jemandem. Die Abwesenheit der Mutter ist für das kleine Kind das Dasein von furchtbarem Schmerz. Die abwesende Mutter wird zur bösen Mutter. Der Partner, der uns verlässt, wird wichtiger denn je. Das Kind, das wir nie bekommen konnten, betrauern wir jahrelang, vielleicht ein Leben lang.
Das, was wir nicht haben oder sind, bestimmt unser Leben genauso wie das, was da ist. „Der Frank – das war doch der, der nie rechnen konnte.“ „Wir sind der Laden, der nie Butter hat. Der Laden, der nie Öl hat, ist da vorne.“ „Ich bin die einzige Autorin, die noch nicht bloggt.“
So schwer die Abwesenheit ist: Manchmal fällt es uns schwer, etwas dazu zu gewinnen. Wir wehren uns gegen die Veränderung unserer Persönlichkeit und so wehren wir uns sogar manchmal dagegen, etwas dazu zu lernen, eine neue Meinung zu bekommen, mehr Geld zu verdienen oder einen neuen Partner zu finden.
„Seit 20 Jahren habe ich meinen Sohn nicht mehr gesehen. Seine Abwesenheit bestimmt mein Leben mehr als alles andere.“
Werden wir verlassen, entsteht in der Psyche eine Lücke: Da, wo das Objekt (= der andere) sein soll, ist nichts mehr. Diese Lücke wollen wir füllen – manchmal füllen wir sie mit guten Erinnerungen, aber manchmal erleben wir die Abwesenheit des geliebten Menschen plötzlich auch als die Anwesenheit von etwas „Bösem“.
Es ist mit dem Hunger vergleichbar: Der Hunger entsteht durch einen Mangel. Aber dieser Mangel wächst und das Gefühl wird größer und größer. Irgendwann sprechen wir von einem „beißenden Hunger“. Der Hunger selbst wird zu etwas „Beißendem“, wenn die Lücke zu groß wird.
Die Sehnsucht wird „beißend“, wenn der andere weg ist.
Wir verurteilen den anderen dafür, dass er uns diesen Schmerz angetan hat. Häufig erleben wir diese Vorgänge, wenn ein nahestehender Mensch verstorben ist: Wir trauern, aber wir sind ihm auch irgendwie böse. Wichtig ist es, sich dieser Vorgänge bewusst zu sein und sich nicht dafür zu verurteilen. Wenn wir genau hinspüren, können wir diese Vorgänge fühlen und sie einordnen. Das Verstehen kann ein Gefühl von Kontrolle vermitteln, auch wenn man dem inneren Geschehen teilweise oder ganz ausgeliefert ist. Dass die Abwesenheit des geliebten Menschen (= des geliebten „Objekts“) als die Anwesenheit von etwas Bösem erlebt werden kann, wurde besonders von den Psychoanalytikern Melanie Klein, Wilfred Bion und anderen Objektbeziehungstheoretikern hervorgehoben.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Dieser Beitrag erschien erstmals am 24.11.2016
Veröffentlicht am 15.11.2025