Dream-Work-Alpha nach Bion: Wir träumen auch, um Erlebnisse ins Unbewusste zu schicken
Im Traum verarbeitet man seine Erfahrungen und lässt sie zu einem Teil von sich selbst werden. Psychoanalytiker sagen, man „introjiziert“ seine Erfahrungen. Die rohen Erfahrungen und Gefühle werden zu bedeutungsvollen Bildern und Worten. Manchmal ist es auch umgekehrt: Wir verarbeiten innere Erfahrungen außerhalb von uns selbst. Wir „projizieren“ sie nach aussen – in andere Menschen, aber auch in Gegenstände, beispielsweise, wenn wir die Unordnung in einem Schrank besonders dann unerträglich finden, wenn auch in unserem Inneren gerade Chaos herrscht. Im Traum lernen wir etwas aus unseren emotionalen Erfahrungen.
Der Psychoanalytiker Wilfred Bion (1897-1979) sagte, dass die Alpha-Funktion – sozusagen eine seelische Verdauungsfunktion – sowohl im Traum als auch im Wachzustand aktiv ist. Der Begriff „Dream-Work-Alpha“ („Traumarbeit-Alpha“) tauchte bei dem britischen Psychoanalytiker Wilfred Ruprecht Bion (1897-1979) das erste Mal 1959 in seinem Buch „Cogitations“ auf (cogitation = Nachdenken, Denkfähigkeit).
„Thus, Bion tends to treat „dreaming“ and „alpha-function“ as being either identical, overlapping and/or the latter’s being a component of the former. In what follows, I shall continue Bion’s lead in using „dreaming“ and „Alpha-function“ as virtually interchangeable as well as complementary processes.“
„Bion tendiert dazu, das ‚Träumen‘ und die ‚Alpha-Funktion‘ als entweder identisch oder überlappend zu behandeln. Die Alpha-Funktion kann ein Bestandteil des Träumens sein. Im Folgenden werde ich nun Bions Ansatz fortführen, indem ich „Träumen“ und „Alpha-Funktion“ sowohl als virtuell austauschbare als auch als komplementäre (= sich ergänzende) Prozesse betrachte.“
James S. Grotstein (1925-2015) in Howard B. Levine & Lawrence J. Brown (Youtube) (2013): Growth and Turbulence in the Container/Contained, Bion’s Continuing Legacy. Routledge, London, 2013, S. 108.
Mit dem Begriff „Dreamwork Alpha“ ist unter anderem auch die Reverie, also die träumerische Haltung gemeint, mit der wir etwas erfassen. Besonders gut beobachten lässt sich die Reverie bei der Mutter, die ihren Säugling betrachtet (Grotstein: Bion’s Transformation in „O“, Seite 2). Die „Reverie“ ist der traumartige Zustand, mit dem die Mutter das Befinden des Säuglings erfasst. Zum Beispiel spiegelt sich die mögliche Angst des Säuglings, zu sterben, in der Sorge der Mutter wider, ihr Kind könnte sterben.
Was von außen kommt, wird geträumt, um unbewusst zu werden
Bion geht davon aus, dass wir sensorisch von der Außen- und Innenwelt stimuliert werden und dann emotional darauf antworten. Wir reagieren sowohl auf interne als auch auf externe Reize und Objekte („Objekte“ = „andere Menschen“ in der Sprache der Psychoanalyse). Bion glaubt, dass externe Stimuli (= Anregungen, Reize von außen) erst einmal geträumt werden müssen, um unbewusst zu werden. Die Stimuli werden durch die Alpha-Funktion umgewandelt.
„O“ klopft an
Bion nennt das, was uns umgibt und was in uns ist, die „unfassbare Wahrheit“ und verwendet dafür den Buchstaben „O“. „O“ ist aus seiner Sicht etwas Göttliches, das uns sowohl umgibt als auch in uns ist. Er verwendet viele Begriffe, um „O“ zu beschreiben, aber da es unfassbar ist, bleibt es vage. Jedenfalls werden wir von der Realität, von der Wahrheit, von „O“ ständig angeregt. Wir kommen mit O immer wieder emotional in Berührung und transformieren dieses unpersönliche „O“ zu unserer eigenen, persönlichen Wahrheit, so Bion. (Das erinnert an die Vorstellung der Christen: Der unvorstellbar große, unfassbare Gott wird zum persönlichen Jesus.)
Aus unfassbaren seelischen Elementen werden begreifbare Häppchen – die Seele erreicht dies durch die „Alpha-Funktion“, die man sich wie die Arbeit eines seelischen Verdauungsapparat vorstellen kann. Nach Bion werden die externen Stimuli erst geträumt, um unbewusst zu werden. Dann werden die unbewussten Elemente vorsichtig wieder an das Bewusstsein freigegeben und zwar durch die selektiv permeable (= für ausgewählte Teile durchlässige) Membran der Kontakt-Grenze (Freud nennt diese Kontaktgrenze den „Zensor“).
Der Psychoanalytiker James Grotstein (1925-2015) schreibt in „A Beam of Intense Darkness“ (Karnac Books 2007, S. 214): „The other aspects of O, consequently, are the sensory stimuli of our emotional responses to our interactions with external (as well as internal) objects. Bion believes that external stimuli must be dreamed (transformed by alpha-function) so as to become unconscious prior to our becoming conscious of them as they are carefully delivered back to our consciousness through the selectively permeable membrane of the contact-barrier.“
Wir träumen auch tagsüber
Wir meinen oft, wir träumten nur nachts. Sicher kennen wir bewusste Tagträume. Aber wir „träumen“ auch tagsüber so, wie wir nachts träumen, meinte Bion. Er setzte das Träumen teilweise mit der Alphafunktion gleich: Wir verarbeiten Stimuli, die von innen und von außen an uns herankommen, sodass sie für uns sinnvoll und einordenbar werden. Aus diffusen „Proto-Emotionen“ werden reife Emotionen, die wir benennen und verarbeiten können. Aus „verrückten“, rohen Gedanken werden „vernünftige“ Gedanken, aus Unbewusstem wird Bewusstes und umgekehrt. Wenn wir einmal genau darauf achten, können wir manchmal den Traum am Tage wahrnehmen.
„Freud (1900a) considered the function of dreaming to be to preserve sleep from disturbing latent content from day residues (pp. 233-234). Bion, in extending the range of dreaming to occur throughout the day and night, postulated that dreaming, which is at times indistinguishable in his writings from alpha-function, serves to process and meaningfully transform incoming stimuli from within and without. These stimuli are the sensory stimuli of emotional experience … (Bion) suggests yet another function for dreaming: creative revelation or scanning of clinical as well as non-clinical phenomena.“ (S. 279: Grotstein: A Beam of Intense Darkness, Karnac Books, 2007).
(Frei von Voos übersetzt:) „Freud (1900a) verstand die Funktion des Traumes (unter anderem) so, dass er unseren Schlaf vor störenden Tagesresten schützen sollte. Bion verstand den Traum als einen Vorgang, der sowohl nachts als auch tagsüber abläuft. Er setzte den Traum teilweise mit der Alphafunktion gleich. Diese macht, dass wir Stimuli von außen und innen in sinnvolle Zusammenhänge transformieren. Diese Stimuli sind Sinnesreize, die von emotionalen Erfahrungen kommen … Bion stellt – gerade während der Psychoanalyse-Sitzung – eine weitere Funktion des Traums fest: Das Träumen ist die kreative Aufdeckung oder das Scannen von klinischen und nicht-klinischen Phänomenen.“
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Links:
James S. Grotstein (1925-2015):
Bion’s Transformation in „O“ and the concept of the transcendent position.
www.sicap.it/merciai/bion/papers/grots.htm
Jonathan Harrison (2006):
Bion’s O – An Open Gate between Eastern and Western Psychotherapy
Tel Aviv University, Psychotherapy Program, Bion Forum
www.simplymeditate.org/?p=57
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 16.5.2016
Aktualisiert am 29.4.2025