Regeln – das Allheilmittel in der Erziehung?

Wenn ich einen Vortrag zu ADHS halte, muss das Wort „Regeln“ direkt am Anfang fallen. Sonst werden Eltern und Lehrer gleichsam unruhig. Mir scheint manchmal, dass die Erwachsenen sich an den Regeln, die sie den Kindern aufstellen, festhalten wie Ertrinkende an einem Strohhalm. Warum sind Regeln so furchtbar wichtig (für die Erwachsenen)?

„Aber ein Kind ist ohne Regeln doch wie ein Verlorener in der Wüste! Woran soll es sich denn halten? Kinder brauchen doch Strukturen!“, heißt es. Ja, auch. Das Problem ist nur, dass Regeln so „verkopft“ sind und oft dann zu Hilfe genommen werden, wenn die Emotionen anscheinend große Angst bereiten. Das Kind jedoch, von Grenzen getrieben, weiß bald überhaupt nicht mehr, wohin. Doch was sonst außer Regeln könnte den Alltag mit Kindern regeln?

Wenn es gut geht, haben Kinder in der Regel genug Regeln: Um halb sieben klingelt der Wecker, dann gibt’s Frühstück, dann geht’s in die Kita oder in die Schule. Um Eins gibt’s Essen, Ausruhzeit, Hausaufgaben, Spielen. Wenn ein Kind bei einem Erwachsenen zu weit geht, dann verärgert es den Erwachsenen. Der Erwachsene schaut traurig, wütend und enttäuscht. Das ist die natürliche Konsequenz. Dem Kind tut es leid, es geht einen Schritt zurück. Das ist ein natürlicher Kreislauf, für den man keine Regel aufstellen muss.

Aber dieser gute Kreislauf funktioniert nur, wenn es eine gute Beziehung zwischen dem Kind und dem Erwachsenen gibt. Nur, wenn der Erwachsene dem Kind etwas bedeutet, dann schmerzt es das Kind, wenn der Erwachsene zeigt, dass das Kind ihm wehgetan hat. Und hier ist der Knackpunkt: Wo es an Intensität und Zeit mangelt, um mit dem Kind eine tragfähige Beziehung aufzubauen, bauen die Erwachsenen sich Krücken aus Regeln.

Die Geschichte erforschen

Ein Kind schlägt immer wieder ein anderes Kind, obwohl die Regel heißt: „Hier wird nicht geschlagen.“ Wir zerren an diesem Kind herum und versuchen, es zur Vernunft zu bringen. Wenn man jedoch versucht, das Kind zu verstehen, dann kann es von sich aus aufhören, das andere Kind zu schlagen. Manchmal inszenieren Kinder vor den Augen der Lieblingskindergärtnerin das, was sie selbst zu Hause bewegt. Wenn die Erzieherin sehr gut geschult ist, Zeit hat und versucht, das Kind zu verstehen, finden die wütende Gefühle einen Platz „in der Kindergärtnerin“ sozusagen. Dann kann es aufhören, zu schlagen. Leider steht den Erzieherinnen in der Realtität dieser (Zeit-)Raum kaum zur Verfügung.

Klauen

Ich kannte mal ein Kind, das immer klaute. Es klaute Jogurt und Milch aus dem Kindergartenkühlschrank und Überraschungseier aus dem Supermarkt. Die Regeln und die Konsequenzen wurden immer weiter verschärft. Was jedoch niemand sah: Das Kind war ein Pflegekind und hatte zuvor Schreckliches erlebt. In der neuen Familie ging es ihm nicht viel besser. Das Kind stahl „Mütterlichkeit“ – bei näherem Hinsehen klaute es das, was es normalerweise von der Mutter bekommt: Milchprodukte. Es vermisste die Mutter so sehr, dass es dem nur Ausdruck verleihen konnte, indem es klaute. Dieses Kind erfuhr dann Mütterlichkeit bei einer Therapeutin, die sich ihm wirklich annahm. Sobald es „satt“ war, hörte es auf, zu klauen.

„Schwierige Kinder“ haben fast immer Probleme, die sich verstehen lassen. Fast immer haben sie einen Mangel an verstehender Beziehung. Das Kindergarten- und Schulsystem ist leider so gestrickt, dass den Lehrern und Erziehern leider kein Raum bleibt, um zu verstehen. „Ich bin doch kein Therapeut“, sagen manche zu Recht, denn sie sind überfordert, unterbezahlt und alleingelassen. Wie sollen sie das auch alles leisten, was sie eigentlich leisten könnten?

Das Prinzip verstehen

Eltern können sich fragen, ob die neue Regel nicht nur wieder einen neuen Reibungspunkt bietet. Jede neue Regel, die nicht befolgt wird, wird zum Streitpunkt, führt zu neuen Enttäuschungen und Schuldgefühlen. Wo man mehr Raum für Beziehung lässt, wird man schnell feststellen, dass unzählige Regeln schier überflüssig sind – denn Kinder, denen es gut geht, wollen einander helfen, sie wollen lernen, gesund bleiben, sich bewegen und gute Beziehungen führen. Indem man für Wohlgefühl und Verstehen sorgt, kann man die Regeln auf ein Minimum reduzieren.

Vorsicht mit dem Erziehungsmittel „Auszeit“

„Geh in dein Zimmer und komm erst wieder, wenn du dich beruhigt hast!“ So hieß es früher. Heute heißt es (etwas kontrollierter): „Setz dich für zwei Minuten auf die stille Treppe.“ Ein kleines Kind in einer verfahrenen Situation mit einer „Auszeit“ zu strafen, ist modern, aber oft nicht gut. Auch, wenn es Eltern und Kindern möglicherweise dazu dienen kann, sich zu beruhigen, sollte diese Methode nur mit Vorsicht angewendet werden. „Auszeit“ ist ein Begriff aus Erziehungsprogrammen wie dem TripleP.de (Positive Parenting Programme). Dabei trennen sich Bezugsperson und Kind für eine überschaubare Zeit, um jeweils wieder zu sich selbst zu finden.

Die Auszeit ist für viele Eltern und Kinder ein möglicher Ausweg aus einer wütenden Situation. Wenn Eltern jedoch Schwierigkeiten damit haben, ihre eigenen Gefühle mit Abstand anzuschauen, ist die Versuchung groß, mit der Auszeit als Strafe einfach die eigene Wut abzureagieren. Das Kind wird auf den Stuhl gesetzt und basta. Sind die Eltern sehr autoritätsgläubig, dann vertrauen sie dem Trainer des Elterntrainings mehr als ihren eigenen Gefühlen und wenden die Auszeit an, obwohl sich sich selbst überhaupt nicht wohl damit fühlen.

Trennung von der Bezugsperson als fragwürdige Strafe

Für das Kind selbst bedeutet die Auszeit, von der Bezugsperson getrennt zu sein. Besonders kleine Kinder können diese Trennung oft kaum verkraften. Die Auszeit mag helfen, dass sich Kind und Erwachsener tatsächlich beruhigen. Oft kommt es jedoch auch vor, dass das Kind in der Auszeit nur vordergründig ruhig wird. Innerlich ist es unruhig – es fühlt sich herabgesetzt, zurückgewiesen und gedemütigt. Seine innere Wut wächst.

Der „Erfolg“ ist nicht echt

So kann es passieren, dass hinter der Fassade des Erfolgs Wut und Verzweiflung des Kindes wachsen. Kommen solche Situationen öfter vor, wird das Kind immer öfter in aller Stille wütend. Es entwickelt eine chronische Wut, die die Beziehung zwischen Mutter („Mutter“ steht hier der Einfachheit halber für nahe Bezugspersonen) und Kind stört. Oft ist diese chronische Wut des Kindes auch nur ein Spiegelbild der Wut der Mutter.

Kleine Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen helfen, ihre Gefühle zu regulieren

Ist das Kind noch zu jung, um sich selbst beruhigen zu können, ist es mit der Auszeit absolut überfordert. Seine innere Not wird größer: Angst und Ohnmacht beherrschen nun das kleine Kind. Doch Gehorsam aus Angst ist kein guter Weg. Wer also die Auszeit anwendet, sollte das nicht gedankenlos tun und immer auf die eigenen Gefühle achten. Die gute Beziehung zum Kind und das gute Gefühl bei Mutter und Kind sollte immer Vorrang vor „Erziehungstipps“ haben.

Kinder sollte man nicht strafen

„Wenn Du das nicht sofort aufräumst, darfst du nicht das Sandmännchen schauen.“ Ich frage mich ja immer, wie sich Eltern Strafen ausdenken. Ich wäre da weder kreativ noch konsequent. Da ist ein Kind unausgeglichen, weil die Eltern sich nicht verstehen. Es fällt in der Schule auf und wird für seine „Dummheiten“ bestraft. Kaum jemand fragt, warum das Kind so ist, wie es ist.

Strafen ist einfacher als Verstehen. Strafen machen nicht nur die Kinder wütend, sondern auch die Eltern. „Wenn Du jetzt nicht hörst, gehen wir rein. Und wenn Du dann immer noch nicht hörst, bekommst Du drei Tage lang Spieleverbot.“ Natürlich wird ein Kind bei so etwas wütend. Eltern üben so leicht ihre Macht aus. Doch auch die Eltern können wütend werden durch ihre eigenen Strafen. Jeden Morgen müssen die Eltern, die die mehrtägige Strafe ausgesprochen haben, sich selbst wieder bestrafen. Sie müssen sich zur „Konsequenz“ zwingen. Sie dürfen nicht vergessen, was da gewesen ist – gestern, vorgestern und vorvorgestern. Die Wut wird konserviert wie in einem Kühlschrank.

Wenn man Kinder im Affekt anschreit, ist das Strafe genug. Das Kind sieht, dass der andere wütend wurde durch sein Tun.

Schmerzhafte Situationen sind selbst Strafe genug. Man muss da nicht noch eins draufsetzen. Die Kinder lieben die Eltern ja. Und sie sind abhängig von ihnen. Wenn die Bindung gut ist und das Kind sieht, dass es der Mutter oder dem Vater wehgetan hat, dann löst das einen Schmerz in ihm aus. Kinder wollen es von sich aus wiedergutmachen, wenn sie den anderen verletzt haben. Nichts fürchten Kinder mehr, als die Liebe der Eltern, Lehrer oder Freunde zu verlieren.

Macht über Kinder zu haben ist so leicht …

Die Macht der Eltern dient den Kindern meistens als Schutz: Die Eltern sind weiser, größer und stärker als die Kinder. Doch wie leicht kann diese Macht missbraucht werden. Zu groß ist die Versuchung, ein Kind einfach hochzuheben und es in sein Zimmer zu sperren, wenn wir als Eltern wütend sind. Wie leicht ist es, ein Kind anzuschreien und es damit einzuschüchtern. Für uns Eltern ist das zunächst eine schnelle Entlastung. Doch dann folgt das schlechte Gewissen.

Kinder sind uns Erwachsenen ausgeliefert. Sie sind abhängig von uns. Wenn wir sie anschreien, wegsperren, irgendwo hinzerren oder sie gar schlagen, dann ist das für das Kind eine Katastrophe. Nach unserem Wutausbruch ist das Kind zutiefst verletzt und verunsichert. Mag sein, dass es nach der Auseinandersetzung „zu sich gekommen“ ist. In Wirklichkeit ist es aber nur vordergründig brav – es benimmt sich gut, um die Eltern nicht erneut zu überfordern und um Strafe zu vermeiden. Es will sich nicht wieder so ohnmächtig fühlen, daher benimmt es sich aus Angst.

Es ist immens wichtig, dass sich Eltern bewusst sind, wieviel stärker sie im Vergleich zu ihren Kindern sind. Kinder „gehorchen“, wenn Eltern eine vertrauensvolle Bindung zu ihnen aufbauen. Sie respektieren ihre Grenzen, wenn ihre eigenen Grenzen respektiert werden.

Richtig dosieren

Wenn wir als Eltern wütend sind, dann ist es unsere Aufgabe, uns zu kontrollieren und nicht die ganze Dosis am Kind auszulassen. Es reichen oft schon eine deutliche Mimik und Worte wie: „Ich bin sauer, weil Du Dein Spielzeug hier rumliegen lässt. Mich stört das und ich möchte Dich bitten, es wegzuräumen.“ Häufig müssen wir als Eltern wiederholt unsere Grenzen aufzeigen, bis das Kind sie verinnerlicht hat.

„Lächerliche“ Wünsche respektieren

Wir sollten – wenn möglich – unverständliche Wünsche des Kindes nicht als lächerlich abtun. Beispielsweise können kleine Kinder so etwas sagen wie: „Ich möchte nicht, dass Du dasselbe Eis isst wie ich.“ So etwas erscheint uns Erwachsenen oft kindisch. Aber es ist die Art des Kindes zu sagen: „Hier möchte ich anders sein als Du.“

Wenn wir gut gelaunt sind und dann tatsächlich ein anderes Eis bestellen, macht das Kind die Erfahrung, wie schön es sich anfühlt, ernstgenommen zu werden. Später, wenn das Kind sich mit fünf oder sechs Jahren gut in andere hineinversetzen kann, dann möchte es bei einer guten Bindung ebenfalls, dass wir als Eltern dieses schöne Gefühl des Ernstgenommenwerdens spüren. Das heißt: Das Kind tut das, worum wir es bitten. Vieles von dem, was wir in der Kleinkindzeit wiederholt machen, trägt erst Früchte, wenn die Kinder älter sind. Wir brauchen Geduld.

„Ich nehm dir das Handy weg!“

„Ich nehm‘ Dir das Handy weg – und das iPad gleich mit. Bis Montag.“, sagt die Mutter. Kraftlos schaut sie ihr Kind an. Sie ist wütend und verzweifelt, weiß keine andere Lösung. Sie sorgt sich, dass ihr Kind abhängig werden könnte von diesem ganzen Zeug. Doch die Angst führt dazu, dass sie ihr Kind behandelt, wie sie einst selbst behandelt wurde: bei genauerem Hinsehen respektlos. Gleichzeitig erwartet sie, dass ihr Kind Respekt vor ihr hat. Und sieht in diesem Moment nicht, dass es keinen Respekt haben kann, weil es selbst nicht mit Respekt behandelt wird.

Je größer unser Ohnmachtsgefühl als Eltern, desto verzweifelter suchen wir nach etwas Machtvollem.

Anbieten

„Ja, aber das Kind ist doch kein kleiner Erwachsener. Es spielt ja tatsächlich den ganzen Nachmittag mit dem iPad, wenn man es ihm nicht wegnimmt.“ Das ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Kinder wollen lernen und mit anderen spielen; sie sind neugierig, wollen ein Instrument lernen, sich bewegen, Beziehungen mit anderen Menschen eingehen. Doch sind wir selbst zu kraftlos und vielleicht im Homeoffice gefangen – unsere Möglichkeiten scheinen erschöpft zu sein. Wir können unserem Kind gerade keine Alternativen mehr bieten. Doch vielleicht hilft uns der Gedanke, dass gesunde Kinder nur übergangsweise „abhängig“ zu sein scheinen von ihren Handys. Auch sie werden sich wieder Neuem zuwenden, wenn es neue Möglichkeiten und Gelegenheiten gibt.

Das Handy wegzunehmen scheint die einzige Lösung zu sein in einer auswegslosen Situation. Dabei wäre es besser, man fügte etwas hinzu, als nähme man etwas weg. Was macht denn das Kind mit dem Handy? Es stellt Kontakte her. Und es könnte uns ganz wunderbare Dinge zeigen, über die wir staunten, wenn wir einmal schauten.

Manchmal erscheint es uns fast unmöglich, unser Kind ein Instrument erlernen zu lassen, besonders, wenn es finanziell knapp ist. Wir Eltern müssen zudem oft so viel arbeiten, dass wir keine Kraft mehr haben, unserem Kind mit Interesse zu begegnen und ihm etwas Interessantes zu zeigen.

„Was machst Du da?“, ist oft eher eine vorwurfsvolle als eine neugierige Frage. Doch wenn wir uns einmal einlassen und uns für die Welt unseres Kindes interessieren, können wir erstaunt sein, wieviel da zurückkommt. Das Handy wegzunehmen ist einfach. Kraft kostet es hingegen, dem Kind etwas anderes anzubieten. „Der will ja nichts anderes“, heißt es dann. Denkt man. Aber es ist oft so anders. Wenn jetzt interessanter Besuch käme oder ein Bach mit klarem Wasser vor der Tür läge, wäre das wahrscheinlich auch heute noch viel interessanter für das Kind als das Handy.

Stellen wir uns vor, jemand käme, um uns zu behandeln, wie wir die Kinder behandeln: „Ich nehme Dir den Laptop weg – Du hängst sonst zu viel davor und wirst zu dick.“ – „Jetzt aber! … Eins, zwei …? Freundchen/Frollein!“ Welcher Erwachsene würde sich das nicht verbitten? Kinder verbitten sich das auch. Aber wir Erwachsenen übergehen es. Doch wenn wir unsere KInder ebenso respektvoll behandeln wie Erwachsene, können wir erstaunt sein, was da alles Wunderbares zurückkommt.

Manchmal nicht gleich, aber oft Jahre später. Wir müssen im Hinterkopf behalten, dass es Kinder sind mit hochinteressanten Welten. Darum agieren sie anders als Erwachsene. Aber mit dem Respekt, denen wir ihnen entgegenbringen, bringen wir gleichzeitig uns selbst Respekt entgegen – weil wir auf Dauer selbst respektvoller behandelt werden und weniger unter Schuldgefühlen leiden.

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Heidi Simoni:
Wie erleben und verstehen kleine Kinder Strafen?
Zeitschrift „undKinder“ Nr. 80, Dezember 2007: 31–37

Thomas Gordon:
Die neue Familienkonferenz.
Kinder erziehen ohne zu strafen.
Heyne Verlag, München 2007

Dieser Artikel erschien erstmals am 13.11.2013
Aktualisiert am 12.12.2020

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